Vorwort
Für viele ist Tutanchamun so etwas wie die erste große Liebe. Wer als Kind von seinen Eltern oder Großeltern mit in die Tutanchamun-Ausstellung genommen wurde, die in den Jahren 1981 und 1982 in fünf deutschen Großstädten gezeigt wurde und bis heute zu den meistbesuchten Kunstausstellungen der deutschen Geschichte gehört, fing unweigerlich an, von einer Karriere als Archäologe zu träumen. Der Ausstellungskatalog wurde zum liebsten Kinderbuch – und für viele heutige Archäologen begann die Karriere tatsächlich mit dieser ersten Begegnung mit den funkelnden vergoldeten Sarkophagen, den mysteriösen tierköpfigen Gottheiten und dem Blick in die ruhigen tiefschwarzen Augen der Totenmaske. Selbst wer sich später dann doch statt für ein Archäologiestudium lieber für eine Banklehre oder den Beruf des Programmierers entschied, liest noch heute gerne Geschichten von Sarkophagen, Göttern und Mumien. Denn die erste große Liebe lässt das Herz niemals gehen.
Tutanchamun bewegte bei weitem nicht nur das Herz der Deutschen. In London standen die Menschen damals bis zu acht Stunden im englischen Nieselregen an, um die 55 Artefakte aus der Grabkammer des jungen Pharao sehen zu dürfen. In New York kamen acht Millionen Besucher – eine Million mehr, als die Stadt damals an Einwohnern zählte. Dieser Ansturm zeigt: Tutanchamun ist für uns mehr als nur ein Pharao, der vor über 3000 Jahren für eine kurze Zeit ein fernes Land regierte. Seine Geschichte und die Geschichte der Entdeckung seines Grabes sind auch die Geschichte unserer eigenen Sehnsucht nach einer anderen, einer fremden, einer abenteuerlichen Welt.
Heute sind es in Wahrheit drei Geschichten.
Der erste Teil spielt weit in der Vergangenheit, vor über 3000 Jahren. Es ist die Geschichte der 18. Dynastie, der außergewöhnlichen Familie Tutanchamuns. Zunächst vertreiben die Herrscher dieser Sippe die verhassten fremden Könige aus Ägypten und holen sich das Land ihrer Vorfahren zurück. Unter der Führung einer Frau, Hatschepsut, blüht Ägypten schließlich auf und knüpft Handelsbeziehungen in Länder, die so phantastisch sind, dass wahrscheinlich den meisten Ägyptern der Unterschied zwischen den wahren Erzählungen der Rückkehrer aus diesen Gefilden und den erfundenen Märchen der Daheimgebliebenen über den Reichtum und die Wunder dieser fremden Welt nie ganz klar wurde. Doch statt auf dem Wohlstand aufzubauen, versteigt der Nachfolger Echnaton sich nur wenige Generationen später in fanatische Ideen, zwingt dem gesamten Land seinen religiösen Wahn auf und stürzt es ins Chaos.
Im Strudel dieser Ereignisse taucht für kurze Zeit der Pharao Tutanchamun auf wie der Hals einer Flaschenpost im Kielwasser eines Bootes. Um ihn herum lauern gefährliche Strudel. Sowohl das Erbe seiner Vorgänger als auch die Erwartungen seiner bereits in Warteposition lauernden Nachfolger gefährden stromschnellengleich die Herrschaft und das Leben des jungen Königs. Sein kurzes Leben ist geprägt von schmerzhaften Einschlägen durch Gewalt und Krankheit. Am Ende verschwindet er so schnell unter der Oberfläche, dass weder seiner Mumie noch der Farbe an den Wänden seiner Grabkammer ausreichend Zeit zum Trocknen bleibt.
Die zweite Geschichte ist die Entdeckung des Grabes durch Howard Carter. Dies ist die Geschichte eines schweigsamen Einzelgängers, der zwar keine formale Schulbildung hatte, dafür aber eine Vision: das Grab des vergessenen Kindkönigs Tutanchamun zu finden. Vom Hilfszeichner arbeitet er sich schnell zum Grabungsleiter hoch, bald überträgt die Antikenbehörde ihm sogar die archäologische Aufsicht über ganze Gebiete Ägyptens. Doch zu den Fachkollegen bekommt er nie den rechten Anschluss, zu fremd ist ihm deren akademisches Gebaren. Den einzigen Freund findet er schließlich in einem englischen Adligen, den die Ärzte nach einem Autounfall zu Heilungszwecken in die Wüste geschickt haben: George Edward Stanhope Molyneux Herbert, 5. Earl of Carnarvon.
Jahr für Jahr gräbt Carter sich erfolglos durch den Sand im Tal der Könige. Erst als sein Freund Carnarvon droht, ihm den Geldhahn zuzudrehen, entdeckt er im letzten Fleckchen Erde, das er bislang noch nicht durchwühlt hat, den Eingang zu einer Grabkammer. »Ich sehe wunderbare Dinge!«, stammelt er ergriffen beim ersten Blick durch ein kleines Loch in der Wand auf den dahinterliegenden Raum, den jahrtausendelang kein Mensch betreten hat. Diese wunderbaren Dinge werden Carter die nächsten zehn Jahre beschäftigen. Mit methodischer Akribie dokumentiert er jeden noch so kleinen Fund, bevor er ihn den Restauratoren überlässt. Doch so gewissenhaft er dabei auch vorgeht, ein Wissenschaftler ist er nicht – zwar dokumentiert er die Funde sehr genau, die wissenschaftliche Veröffentlichung aber bleibt er der nach Neuigkeiten über Tutanchamun lechzenden Welt schuldig.
Seine Eigenbrötelei und sein Stolz werden ihm schließlich zum Verhängnis. Als die politischen Karten am Nil neu gemischt werden, hat niemand mehr Verständnis für den herrischen Ausländer. Mitten in den Arbeiten am Sarkophag schließt die Antikenbehörde Carter aus dem Grab aus und verweigert ihm fortan den Zutritt. Erst nach einer langen Zwangspause darf er zurückkehren und die Arbeiten – nun allerdings unter strenger ägyptischer Kontrolle und Mitbestimmung – zu Ende bringen. Doch Frieden haben beide Seiten nie wirklich schließen können. Viele schwere Anschuldigungen hängen bis heute ungeklärt in der heißen Luft des Tals. War Carter tatsächlich der skrupellose Dieb, als den die Antikenbehörde ihn abstempelte? Und welche Motive bewegten in Wahrheit seinen Widersacher, den ausländerhassenden Antikenminister Marcos Bey Henna, der vor Beginn seiner politischen Karriere vier Jahre wegen Landesverrat im Gefängnis gesessen hatte?
Die dritte Geschichte schließlich beginnt im Februar 2014, als der britische Ägyptologe Nicholas Reeves vor dem Computerbildschirm saß und auf den hochauflösenden Fotografien der Wandmalereien und der Oberflächenstruktur der Grabkammer feine Linien entdeckte – möglicherweise Durchgänge zu weiteren bislang unentdeckten Räumen. Dort könnte, mutmaßt Reeves, Echnatons Königin Nofretete liegen, die »schönste aller Frauen«. Erste Tests scheinen seine These zu bestätigen. Die internationale Ägyptologen-Zunft beginnt, sich für die größte Sensation seit der Entdeckung des Grabes selber zu rüsten.
Doch mit einem Wechsel im Amt des Antikenministers wird jegliche Euphorie ausgebremst. Erneute Messungen scheinen den ersten Testergebnissen zu widersprechen. Auf einer internationalen Konferenz kommt es schließlich zum Eklat zwischen den beiden ehemaligen Antikenministern Zahi Hawass, der das Lager der Reeves-Gegner anführt, und Mamdouh Eldamaty, der an die Ergebnisse des Briten glaubt. Doch um Tutanchamun und Nofretete geht es an diesem Tag schon lange nicht mehr. Es geht um gekränkte Eitelkeiten und um den ägyptischen Nationalstolz. Hawass, der sich bereits bei vielen spektakulär angekündigten Aktionen durch aggressive Pressearbeit ein großes Publikum verschafft hat, versucht seit langem vehement, selbständig arbeitende Ausländer aus der ägyptischen Archäologie fernzuhalten. Um eine weitere Eskalation zu verhindern, verhängt der amtierende Antikenminister Khaled El-Anany eine Nachrichtensperre. Das Ministerium hüllt sich in eisiges Schweigen. Die National Geographic Society, von der die Untersuchungen finanziert worden waren, bekommt einen Maulkorb verpasst und darf sich nicht mehr zu dem Thema äußern. Auch Reeves ist für niemanden mehr zu sprechen.
Wer den Verlauf der Diskussion mitverfolgt hat, kann sich des Gefühls eines Déjà-vus nicht erwehren – zu viele Parallelen gibt es zwischen den Geschichten Howard Carters und Nicholas Reeves’. Beide haben ihre Karrieren auf den Grabungsfeldern Ägyptens schon sehr früh begonnen. Doch einen langfristigen Posten in der Archäologie hatte weder der eine noch der andere inne. Carter überwarf sich stets aufs Neue mit seinen Vorgesetzten oder den Behörden, und auch Reeves wechselte alle drei bis fünf Jahre den Auftraggeber. Von 1998 bis 2002 war er Direktor des Amarna Royal Tombs Projects (ARTP), arbeitete dann als Kurator für verschiedene Sammlungen, darunter die Ägyptische Abteilung des Metropolitan Museum in New York. Zuletzt leitete er die ägyptische Expedition der University of Arizona, seit der Veröffentlichung seiner Theorie zum Verbleib der Nofretete ist er abgetaucht. Doch egal für wen und wo Reeves gerade arbeitete, immer wieder zog es ihn – wie auch Carter – in das Tal der Könige.
Im Jahr 2000 schien Reeves’ ruheloses Suchen schon einmal von Erfolg gekrönt. Bei der systematischen Suche nach weiteren Gräbern, die wie KV 55 aus Amarna ins Tal der Könige verlegt worden waren, stieß das Team des Amarna Royal Tombs Projects auf eine Anomalie in den Bodenradarscans, die verdächtig nach einem bis dahin unentdeckten Grab aussah. Doch bevor geklärt werden konnte, was dort in nur 14,5 Meter Entfernung zum gegenüberliegenden Eingang von Tutanchamuns Grab lag, wurden die Arbeiten jäh gestoppt. Das Antikenministerium unter der Leitung von Zahi Hawass beschuldigte ihn, in schmutzige Geschäfte verwickelt zu sein. Unerlaubt habe Reeves Antiken entwendet und außer Landes geschmuggelt, hieß es aus Ministeriumskreisen. Reeves wurden sämtliche Arbeiten untersagt, und der britische Ägyptologe musste das Land...