Der Putschist
Das Fliegerass a. D. suchte in den Monaten nach Kriegsende Unterschlupf bei seiner verwitweten Mutter in München. Wie noch oft in seinem Leben war es sein Ruhm als Jagdflieger, der ihm weiterhalf. Anfang 1919 flog Hermann Göring als Repräsentant der Fokker-Flugzeugwerke zu einer Flugschau nach Kopenhagen. Er blieb in Skandinavien, wo er bei Flugschauen mit gewagten Kunststücken glänzte und auch bei Gesellschaften eine gute Figur machte. Der einstige Kriegsheld verdingte sich als Vertreter für eine Fallschirmfirma und kam schließlich bei der schwedischen Fluglinie Svenska Lufttrafik als Pilot unter. Reiche Schweden zahlten für das Privileg, sich vom letzten Kommandeur des berühmten Richthofen-Geschwaders durch die Lüfte kutschieren zu lassen. Am 20. Februar 1920 flog er den bekannten schwedischen Forschungsreisenden Graf Eric von Rosen von Stockholm zu dessen 70 Kilometer südwestlich gelegenem Landgut Rockelsta. Das Wetter war stürmisch, und nur mit Mühe gelang es Göring, das Flugzeug sicher auf dem zugefrorenen Bavensee in der Nähe des Schlosses zu landen. Da an einen Rückflug nicht zu denken war, nahm er gerne die Einladung des Grafen an, die Nacht auf dem Landsitz zu verbringen.
Im Schloss war gerade die Schwägerin des Grafen zu Gast, Carin von Kantzow. Die dreiunddreißigjährige, schwärmerisch veranlagte Adelstochter war mit einem schwedischen Offizier eher unglücklich verheiratet und hatte einen Sohn. Für die Offiziersgattin und den Flieger war es ein schicksalhaftes Zusammentreffen. Eine Schwester Carins, Fanny Gräfin von Wilamowitz-Moellendorf, beschrieb das erste Kennenlernen ziemlich schwülstig als ein Aufeinandertreffen wahlverwandter Seelen: »Hermann Göring stand vor dem offenen Kamin und sah in die Flammen hinein. … Die Treppe hinunter kommt eine hohe Gestalt, eine Frau mit edler körperlicher Haltung, die Schwester der Hausfrau: Carin. Ihre tiefen blauen Augen begegnen Hermann Görings suchendem Blick. … Schweigend und ehrfurchtsvoll stand er da. Ihm war, als hätte er sie immer gekannt. Eine solche Liebe kann nicht erklärt oder besprochen werden. Auch sie lebte im Blute, in der Seele! Lange saß man zu Tisch an jenem Abend. … Bis spät in die Nacht blieb man noch beisammen. … Viel hat Hermann Göring mit Carin an diesem Abend nicht sprechen können. Dazu war ihm die Seele zu bewegt.«
Er ist der Mann, von dem ich immer geträumt habe.
Carin von Kantzow nach der ersten Begegnung mit Göring
Die Liebesaffäre zwischen dem Deutschen und der fünf Jahre älteren Offiziersgattin geriet zum Skandal der schwedischen Gesellschaft. Ohne Rücksicht auf Mann und Sohn reiste Carin im Sommer 1920 nach Deutschland, wo sie und ihr »einziger ewig Geliebter« die Sommerfrische in einem Ferienhaus in Bayrischzell genossen. Zurück in Schweden, beichtete sie ihrem gehörnten Ehemann die neue Liebe. Der war bereit, die Eskapade zu vergessen, wenn sie zu ihm zurückkehre, doch Carin weigerte sich entschieden. »Immer mehr erkenne ich, wieviel Du mir bedeutest«, schrieb sie an Göring. »Ich liebe Dich so sehr. Du bist alles für mich. Es gibt niemanden, der so ist wie Du, für mich bist Du in jeder Hinsicht mein Ideal. Alles, was Du machst, ist so lieb. … Wenn ich das alles bloß mit Küssen und Umarmungen ausdrücken könnte. Liebster!« Göring, ebenso verliebt wie sie, bedrängte Carin, ihren Mann zu verlassen und mit ihm nach Deutschland zu gehen. Diese willigte zum Entsetzen ihrer Eltern ein und ließ ihren achtjährigen Sohn Thomas beim Vater zurück. Im Sommer 1921 übersiedelte sie mit Göring nach Bayern, wo sich das Paar ein Haus in der Reginbaldstraße in München-Obermenzing kaufte. Nachdem Carins Scheidung rechtskräftig geworden war, wurde am 3. Februar 1923 im Standesamt von Obermenzing die Ehe geschlossen. Für beide begann ein neuer Abschnitt ihres Lebens.
Links: »Eine hohe Gestalt, eine Frau mit edler körperlicher Haltung«: Carin von Kantzow mit ihrem Sohn Thomas
Rechts: »Wie Tristan und Isolde«: Carin und Hermann Göring im Jahr 1922 in Österreich
In der Republik von Weimar war einem dreißigjährigen Hauptmann a. D. eine ungewisse Zukunft beschieden. Mehr aus Verlegenheit als aus Neigung immatrikulierte sich Göring an der Universität München in den Fächern Geschichte und Volkswirtschaft, ohne sich jedoch zu einem ernsthaften Studium aufraffen zu können. Stattdessen schrieb er Aufsätze über seine Erfahrungen als Jagdflieger im Krieg und versuchte, eine politische Partei ehemaliger Offiziere zu gründen. Er sehnte sich zurück nach Kameradschaft, Heldentaten und vor allem einem »starken Mann«, der Deutschland wieder zu alter Macht verhalf. Diesem »neuen Kaiser« begegnete Göring im Oktober oder November 1922 bei einer politischen Kundgebung auf dem Münchner Königsplatz. Göring hörte, wie ein Herr Hitler in seiner Nähe die Aufforderung ablehnte, auf das Rednerpodium zu kommen, um über die militärischen Beschränkungen Deutschlands infolge des Versailler Friedensvertrags zu reden. Es sei doch sinnlos, Proteste in die Welt hinauszuschreien, ohne die geringste Möglichkeit zu haben, sie mit Machtmitteln zu verwirklichen, begründete der Angesprochene seine Weigerung. Göring, der in der Nähe stand und ebenso dachte, besuchte, neugierig geworden, bald darauf das Café Neumann, wo Hitler jeden Montag seine »Sprechstunde« abzuhalten pflegte. Fasziniert lauschte er, als Hitler seinen Standpunkt wiederholte: Versailles sei eine Schande, aber ohne den Nachdruck der Bajonette bliebe jeder Protest sinnlos und Worte allein würden keinem Gegner den Schlaf rauben. Dieser Abend, behauptete Göring später, habe über sein weiteres Leben entschieden. In Hitler habe er den Anführer gefunden, der »Wort für Wort aus meinem Herzen« sprach. »Vom ersten Augenblick, da ich ihn sah und hörte, war ich ihm verfallen mit Haut und Haar.« Kurz entschlossen trat er der NSDAP bei und ließ sich bei Hitler melden. Er hatte seinen neuen Kaiser gefunden.
Sosehr Göring sich bemüht hat, seine Entscheidung für Hitler als einen Moment der Erweckung zu stilisieren, so deutlich sind doch die materiellen Motive, die seinen Weg in die NSDAP beförderten. Das Verbot einer deutschen Luftwaffe durch den Versailler Friedensvertrag versperrte ihm die ohnehin nicht sehr aussichtsreiche Aufnahme in das 100 000-Mann-Heer der Weimarer Republik. An eine Rückkehr nach Skandinavien, wo er als Pilot gut verdient hatte, war mit Carin kaum zu denken, und finanziell waren beide nicht auf Rosen gebettet. Weder er noch Carin besaßen von Haus aus Vermögen, und die Ersparnisse Görings waren kaum der Rede wert. Unklar ist, wie das Paar überhaupt das gemeinsame Leben und den Kauf des Hauses in Obermenzing finanzieren konnte. Einer Nichte seiner Frau erzählte Göring, Carin habe Geld beschafft, indem sie in ihrer Wohnung in Stockholm eine Auktion veranstaltete und alte Familienerbstücke verkaufte. Vermutlich haben auch Carins Ex-Mann und ihre Familie einen Beitrag zum Unterhalt des Paares beigesteuert. Immerhin hatten beide genug zur Verfügung, um in München halbwegs standesgemäß auftreten zu können und Göring von dem unmittelbaren Druck zu befreien, einen Broterwerb suchen zu müssen. Seine Tastversuche in das zivile Leben, das Studium an der Münchner Universität, blieben zögerlich und wider Willen. Insgesamt sah die Zukunft für ihn nicht rosig aus: Er war ein arbeitsloser Soldat auf der Suche nach einem neuen Betätigungsfeld – in dieser Hinsicht war er Hitler ähnlich. Wie dieser wollte er die Chance nutzen, die sich aus dem politischen Chaos in den frühen Jahren der Weimarer Republik ergab, wie dieser hatte er nichts zu verlieren: »So war ich – ich habe ja keinen Hehl daraus gemacht – von Anfang an bereit, mich an jeder Revolution zu beteiligen, gleichgültig, wo und von wem sie ausging, außer wenn sie von links gekommen wäre«, bekannte er freimütig drei Jahrzehnte später als Angeklagter im Nürnberger Prozess.
Ich sagte ihm: Ich selbst und alles, was ich sei und besäße, stünden ihm vorbehaltlos zur Verfügung.
Göring über das erste Treffen mit Hitler 1922
Man hat mich auf ihn aufmerksam gemacht. Einige Male war er schon im Sprechabend gewesen, er hat mir gefallen. Ich habe ihn dann zum Führer meiner SA gemacht.
Hitler
Auf der anderen Seite ergriff Hitler gerne die Hand, die ihm Göring entgegenstreckte. »Großartig! Ein Kriegsheld mit dem Pour le Mérite – stellen Sie sich vor! Ausgezeichnete Propaganda!«, frohlockte er in vertrauter Runde über den Neuzugang. Auch Görings Kontakte zu den besseren Kreisen der Gesellschaft dürften ihn beeindruckt haben. Die Gegenwart der attraktiven Ehefrau aus echtem schwedischem Adel wirkte wie ein Katalysator für gewisse Eigenschaften Görings, die den Fliegerhauptmann und letzten Kommandeur des »Jagdgeschwaders Richthofen« ohnehin von einem typischen, gewöhnlichen Parteimitglied der NSDAP unterschieden. Aus gutem Hause, weit gereist und mit Beziehungen zumindest in das Vorfeld der guten Gesellschaft, stach Göring aus der Gefolgschaft Hitlers als »Weltmann« hervor. Görings Ansehen versprach Nutzen für die Partei. Der joviale Ordensträger und der fanatische Demagoge – es war wie ein Teufelspakt. Als Hitler dem neuen Gefolgsmann im Frühjahr 1923 die Führung der »Sturmabteilungen« (SA) übertrug, gelobte der gerührt: »Ich vertraue Ihnen im Guten wie im Bösen mein Schicksal an, auch wenn es mich mein Leben kosten sollte.«
Hitlers Partei und Programm interessierten Göring nur am Rande, auch dem glanzlosen Tagesgeschäft als SA-Chef konnte er nur wenig abgewinnen. Zwar machte er aus der verlotterten Sturmabteilung...