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Die Kirchen und der Nationalsozialismus

Blaschke, Olaf - Epochen und Schriften aus den Jahrhunderten; Bedeutsames der deutschen Geschichte

AutorOlaf Blaschke
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2014
ReiheReclam Sachbuch 
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783159605609
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,49 EUR
Das Verhältnis der beiden christlichen Kirchen zum NS-Staat und seiner Ideologie ist eines der großen prominenten Themen der deutschen Zeitgeschichtsforschung. Arbeiten zu diesem Thema steigen oft sehr tief in die Details, es gibt nur wenige Überblicke, und diese leiden dann in der Regel unter einer für den jeweiligen Autor bezeichnenden konfessionellen Schlagseite. Dieses Buch unternimmt es, die Entwicklungen zwischen Anpassung oder gar Gefolgschaft und Widerstand paritätisch nachzuzeichnen und immer wieder, trotz umfassender Trennung der Kirchen und ihres institutionellen Verhältnisses zum NS-Staat, miteinander zu vergleichen.

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Leseprobe

I.  Europas Kirchen in Europas Diktaturen (1917–1945)


Rechtsautoritäre Regime entstanden in katholischen Gesellschaften, ob romanisch (Portugal, Spanien, Italien) oder nichtromanisch (Österreich, Litauen, Polen), im gemischtkonfessionellen Deutschland und Jugoslawien, im orthodoxen Griechenland unter Metaxas und der muslimischen Türkei unter Atatürk, nicht aber in stärker protestantisch geprägten Ländern wie den Niederlanden, Dänemark, Norwegen, Schweden, der Schweiz und Großbritannien.1

Waren Katholiken anfälliger für autoritäre Regime? Dem stehen Irland, Belgien und Luxemburg entgegen. Auch der deutsche Katholizismus gilt als relativ immun gegenüber den Verlockungen des Nationalsozialismus, obwohl er zunächst im katholischen Münchner Mikromilieu ausgebrütet wurde. Zur Erklärung ringen zwei große Thesen miteinander: Die eine besagt, diese menschenverachtende Ideologie und ihr totalitärer Anspruch seien mit den Moralprinzipien der Kirche unvereinbar gewesen. Aus Nächstenliebe und christlichem Antrieb heraus hätten Katholiken dem Rassismus und der Aushöhlung bürgerlicher Rechte widersagt.

Die Gegenthese betont, dass sich auch Katholiken mit den vielschichtigen Versprechungen und Erfolgen des Nationalsozialismus anfreunden konnten. Habe es Widerstand gegeben, dann nicht gegen das Regime als solches, sondern gegen die Gefährdung der Rechte der Kirche, etwa beim Religionsunterricht, gespeist nicht aus universal-menschenrechtlichen oder gar demokratischen, sondern aus milieuegoistischen Motiven. Gegenüber dem Leiden anderer und der Einschränkung zivilgesellschaftlicher Freiheiten sei man indifferent gewesen.

Obwohl das NS-Regime die Extremform europäischer Faschismen bildete, kann der internationale Vergleich erhellen, wie weit die gegensätzlichen Deutungen tragen. Ging es um Menschenrechte oder um Kirchenrechte und Selbstschutz? Galt Gläubigen die Allianz mit einem brutalen Regime generell als unchristlich oder nur dann, wenn es gegen die Kirche vorging? Wenn evangelische und katholische Christen sich gut in totalitären Regimen einrichten konnten, solange sie davon profitierten, ergeben sich Rückschlüsse auf Handlungsmotive im deutschen Kontext. Der Vergleich hilft, die Faktoren zu isolieren, die Christen in Deutschland zu ihrer je eigenen Position hinsichtlich der NS-Diktatur führten.

Dieser europäische Rundblick muss sich auf die Katholiken konzentrieren. Für sie gilt die Unvereinbarkeitsthese noch immer viel stärker als für Protestanten. Deren Hinneigung zur NS-Diktatur hat man längst eingesehen. Ferner lässt sich den in romanischen Ländern nachgerade winzigen evangelischen Minderheiten, in Italien 0,2 %, kaum anlasten, sie hätten diese in den Faschismus gestürzt. Umso wichtiger war die Rolle des Protestantismus in Deutschland.

Europa 1937: Dominierende Konfessionen und Regime

Zwei Schreckgespenster standen Gläubigen seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor Augen: der radikalisierte bürgerliche Laizismus einerseits und der Kommunismus andererseits. Aus beiden Bedrohungen zogen sie Schlüsse für ihre Entscheidungen in den 1920er und 1930er Jahren. Seit den Kulturkämpfen drohte erneut die Gefahr der Trennung von Staat und Kirche. Frankreich hatte sie 1905 radikal durchgeführt, Portugal 1911, Russland 1918. Die Oktoberrevolution 1917 hatte eine neue Epoche eingeläutet. Die Bolschewisten verfolgten die Kirche, sie verhafteten, exilierten oder ermordeten Bischöfe. Zwar hatte es früher schon barbarische Priesterverfolgungen gegeben, etwa in Spanien, doch die Oktoberzäsur und der Bolschewismus bildeten das beste Argument, um Rechtsdiktaturen milder zu beurteilen.

Seit der dritten Revolution 1917 wurde in der Sowjetunion die Säkularisierung brutal durchgesetzt. Eigentlich wollte Lenin die russisch-orthodoxe Kirche ganz ausschalten. Sie stand mit den zaristischen Feinden im Bunde und konkurrierte um die Deutungshoheit. Die alte Religion sollte verderben, der Sozialismus sie ersetzen. Seit Jahrhunderten waren Staat und Kirche eng verbunden. 1721 hatte Zar Peter der Große die Kirche seinem staatskirchlichen Regiment unterworfen, aber im Zuge der zweiten russischen Revolution vom Februar 1917 befreite sie sich davon. Das landesweite Konzil im August 1917 wählte erstmals seit 1721 wieder einen Patriarchen. Die kurze Renaissance wurde von der dritten Revolution jäh überrollt. Schon im Januar 1918 verfügte ein Dekret die Loslösung der Kirche von Staat und Schule. Alle Privilegien wurden abgeschafft, aus amtlichen Dokumenten wurde jeder Hinweis über die religiöse Zugehörigkeit getilgt. Staatliche Personenstandsbücher registrierten Eheschließungen und Geburten. Das gesamte Vermögen der kirchlichen und religiösen Gesellschaften wurde »Volkseigentum«. Der Staat schaffte Klöster ab, kirchliche Zeitungen, Hochschulen und Priesterseminare. Verweigerten Metropoliten und Geistliche die Herausgabe von Kultgegenständen, wurden sie als »Konterrevolutionäre« verhaftet.

In einem Geheimbrief an die Mitglieder des Politbüros schrieb Lenin am 19. März 1922: »Je größer die Zahl von Vertretern der reaktionären Bourgeoisie und Geistlichkeit ist, die es uns bei dieser Gelegenheit zu erschießen gelingt, desto besser. Gerade jetzt muss diesen Leuten eine solche Lektion erteilt werden, dass sie auf Jahrzehnte hinaus nicht wagen, an einen Widerstand auch nur zu denken.«2 Patriarch Tichon wurde polizeilich observiert und von seinem Amt suspendiert. Als er 1925 starb, wurde das Patriarchat nicht neu besetzt. Der ehemalige Klosterschüler Stalin verschärfte den Druck noch und verbot 1929 der Kirche jegliches öffentliche Auftreten, außer bei Begräbnisfeiern auf Friedhöfen. Der Kollektivierung der Landwirtschaft folgte der Niedergang der Dorfgemeinschaft. Dorfkirchen wurden daher überflüssig. Zwischen 1929 und 1938 wurden 80 Bischöfe ermordet, von der Zahl der Priester nicht zu reden. Dies alles löste Angst und Schrecken in Westeuropa aus. Mehrfach brandmarkte der Papst den Bolschewismus als »Seuche« und als »satanisch«.

1939 waren nur noch 10 % der Priester und der Kirchen übrig. Es gab kein einziges Priesterseminar mehr und kein Kloster. Nirgends rollte die Säkularisierungswalze so gnadenlos wie in der Räteunion. Da war es kein Kunststück, den 1941 entfesselten Krieg gegen den Bolschewismus auch als Kreuzzug des christlichen Abendlandes auszugeben. Viele glaubten daran, sogar gut ausgebildete Jesuiten.3

Bolschewismus und Laizismus – beide Szenarien standen Gläubigen vor Augen, wenn sie entscheiden mussten, ob sie sich einem Regime anvertrauten, das versprach, sie vor beidem zu schützen. Autokraten überzeugten hier mehr als Demokraten. Nachdem der Weltkrieg und die Revolutionen zahlreiche Fürstenherrschaften und drei imperiale Kaiserreiche hinweggefegt hatten, setzte sich europaweit das Modell der Demokratie durch. Doch ihrer kurzen Blütezeit folgte die Herrschaft der großen und kleinen Führer.

Das erste Land, das vom demokratischen Pfad abkam, war Ungarn. Nach dem verlorenen Krieg büßte es riesige Gebiete und Bevölkerungsteile ein. Der Vertrag von Trianon besiegelte den Verlust von zwei Dritteln des Territoriums. Drei von zehn Millionen Ungarn lebten nun außerhalb des Landes. Daher setzte eine nationalistische Wiederherstellungspolitik ein, der Revisionismus, ähnlich wie in Deutschland. Ungarn war der einzige Fall, in dem sich wie in der Sowjetunion ein Rätesystem durchsetzte. Dem Vorbild getreu wurden Staat und Kirche voneinander getrennt. Die neue Verfassung verstaatlichte das katholische Schulwesen und Kirchenvermögen. Klöster wurden geplündert, neun Priester hingerichtet. Unter dieser Schreckensherrschaft litt vor allem die katholische Kirche, die 66 % der Bevölkerung repräsentierte.

Die Räterepublik dauerte nur 133 Tage. Miklós Horthy schlug sie im August 1919 mit seinen Truppen nieder. Der Admiral agierte von 1920 bis 1944 als Reichsverweser, quasi als Königsersatz, errichtete ein zunehmend autoritäres Regime mit gemäßigt faschistischen Zügen und bestimmte den jeweiligen Ministerpräsidenten. Außer der dominanten Einheitspartei waren auch andere Parteien zugelassen, doch das Parlament der Fassadendemokratie besaß ohnehin keine Macht. Der politische Katholizismus zerfaserte zwischen christlich-sozialen und pseudodemokratischen Parteien bis zu den faschistischen Pfeilkreuzern. Entscheidend für die Stabilität des Regimes war aber die katholische Amtskirche. Im Zeichen des »christlichen Nationalismus« suchte sie eine wahre »Symbiose« mit dem Regime. »Die Führung der katholischen Kirche kooperierte nicht nur mit der Regierung, sondern wurde ein Teil von ihr.« Auch das katholische Vereinswesen »kollaborierte mit Horthy«. Der christliche Nationalismus stiftete einen landesweiten Negativkonsens gegen äußere Feinde, Kapitalisten und Juden. Antisemitismus war in Militär, Gesellschaft und Kirche weitverbreitet. Schon 1920 beschränkte ein Numerus clausus die Zahl von Juden im höheren Bildungswesen und in der Bürokratie. Weitere Gesetze folgten in den 1930er Jahren, als Ungarn immer mehr an die Seite von Hitlerdeutschland rückte.4

Hatten die Rätemaßnahmen die Kirche traumatisiert, fand sie nun Schutz unter dem neuen Regime, das alle Gesetze der Räterepublik annullierte. Es war eine Win-win-Situation für beide Seiten. Die katholische Kirche hoffte, ihre privilegierte Position zu...

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