DER MÄRCHENERZÄHLER ALS THERAPEUT
Die verschiedenen Märchentypen untersuchen die Ursachen und Folgen eines Phänomens, eines menschlichen Verhaltens oder einer Lebenssituation unter jeweils unterschiedlichem Aspekt. Wir finden in den Märchen Beispiele für jede physische, psychische und geistige Form des Daseins. Auf diese Muster, die nun schon seit so langer Zeit überliefert werden, können wir uns stützen – egal, ob wir »einfach nur« glücklich sein möchten oder ob wir aus irgendeinem Grund in eine Krise geraten sind. Doch die Tatsache, dass wir in den Märchen überlieferten und bewährten Lebensweisheiten begegnen, erklärt noch nicht ausreichend, warum uns Märchen immer wieder so stark in ihren Bann ziehen. Selbst der Umstand, dass Märchen eine gewissermaßen magische Wirkung haben, dass sie in der Lage sind, unser Denken zu verändern, liefert keine zufriedenstellende Erklärung.
Im Märchenschatz der Welt lassen sich die europäischen, nordamerikanisch-indianischen, mittel- und südamerikanischen, ozeanischen, indonesisch-indochinesischen, fernöstlichen sowie afrikanischen Märchenregionen deutlich voneinander unterscheiden. In jeder dieser Regionen haben sich eigene Märchengattungen mit eigenem Stil und eigener Überlieferung herausgebildet. Dennoch frage ich mich nicht in erster Linie, worin sich die Märchen der einzelnen Regionen voneinander unterscheiden, sondern was ihnen gemeinsam ist. Gibt es einen Bestandteil, von dem wir sagen können, dass ohne ihn eine Geschichte kein Märchen ist? Was macht das Märchen über die bestehenden Ähnlichkeiten im Aufbau, den Motiven, den Typen und Helden hinaus letztendlich zum Märchen?
In allen Märchenregionen enthalten die Märchen Lehren über universale menschliche Werte. Doch um Märchen wirklich in der Tiefe zu deuten, muss man das Weltbild kennen, gewissermaßen den Glauben und Aberglauben, dem sie entstammen. Das ist zum Beispiel auch der Grund dafür, warum die abendländischen und orientalischen Märchen eine unterschiedliche therapeutische Wirkung haben. Die abendländischen Märchenhelden sind ständig gezwungen zu handeln. Das ist einerseits ungeheuer anstrengend, andererseits aber auch sehr wirkungsvoll, denn sie stellen sich nicht nur vor, wie sie leben möchten, sondern unternehmen auch konkrete, praktische Schritte dazu. Sie lassen nicht zu, dass sich die Dinge von selbst erledigen. Sie übernehmen Verantwortung für sich selbst und andere. Ständig sind sie in Bewegung, »unterwegs«, denn sie wissen, dass man nicht alles, was man braucht, an einem Ort vorfindet. Deshalb begeben sie sich auf die Suche. Ihre Erfahrungen machen sie sich praktisch zunutze. Das gesteckte Ziel erreichen sie erst mit der Überwindung von sieben bis acht Hindernissen oder indem sie eine Reihe von Prüfungen bestehen.
Im Gegensatz dazu akzeptieren die orientalischen Märchenhelden das, was das Schicksal für sie bestimmt hat, wobei sie zugleich die Verpflichtung wahrnehmen, die sie ihrer eigenen Bestimmung schuldig sind. Personen und Dinge, denen sie begegnen, werden in einen Bezug zu dieser Bestimmung gesetzt. Zur Lebensanschauung der orientalischen Märchenhelden gehört, dass man auch an einem einzigen Ort alles, was man braucht, finden kann, wenn sich der Blick einem tieferen Erkennen der Dinge öffnet. Sie akzeptieren auch schwere Lebenslagen, für sie ist selbst der Tod keine Quelle des Unglücks, sondern die Möglichkeit, eine Grenzsituation und den Übergang zu erfahren. Das Tragische ist Teil des Lebens; die Helden der orientalischen Märchen bemühen sich nicht um jeden Preis, das Ungleichgewicht zu korrigieren oder Verluste zu ersetzen, sondern sie wollen lernen, mit Ungleichgewicht und Verlust zu leben. Es gibt Lebenssituationen, in denen nur die orientalischen Märchenhelden dem Menschen helfen können, so wie auch die Märchenhelden des Abendlandes ihre eigenen Kompetenzen für schwierige Situationen besitzen. Die abendländischen Märchenhelden können am effektivsten dabei helfen, ins Handeln zu kommen, die orientalischen, wenn es darum geht, etwas zu akzeptieren.
Allen Märchenregionen gemeinsam ist, dass die Lehre in Form einer Geschichte transportiert wird. Das Wissen vorangegangener Generationen wird weitergegeben. Jede Kultur weiß, dass Geschichten es uns erleichtern, über das zu reden, was ist, sogar über uns selbst. Auch eine Sache zu verstehen und zu akzeptieren ist viel einfacher, wenn wir sie nicht in Form trockener Fakten präsentiert bekommen, sondern mittels einer Geschichte. Von Sokrates ist überliefert, er habe, wenn er etwas gefragt wurde, mit der Gegenfrage geantwortet: Wollt ihr einen Mythos oder Logos hören? Das heißt, soll ich meine Gedanken mithilfe von Bildern und Gefühlen ausdrücken oder mithilfe des Verstandes? Die beiden Möglichkeiten stehen in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander und schließen sich auch nicht gegenseitig aus. Beide Vorgehensweisen spiegeln gültige Wahrheiten wider und geben dem Fragenden zufriedenstellende Antworten. Wenn wir mit Märchen auf eine existenzielle Frage antworten, tun wir nichts anderes, als in der Sprache der Bilder das zu erzählen, was wir logisch-systematisch bisher vielleicht vergeblich zu fassen versuchten. Dasselbe gilt auch umgekehrt. Nur gemeinsam sind die beiden Denkweisen in der Lage, die Welt in ihrer Schönheit und Gänze sichtbar zu machen. Darum verstehe ich nicht, wie die jahrtausendealte Tradition des Geschichtenerzählens aus unserem Leben verschwinden konnte. Warum benutzen wir im Unterricht nicht mehr Geschichten, so wie früher? Man könnte alle Schulfächer in die Sprache der Bilder übertragen, sogar die Physik, die Chemie und die Mathematik. Die Menschen brauchen Geschichten, denen sie zuhören und die sie weitererzählen können. Narrare necesse est – Wir Menschen müssen erzählen, behauptet der deutsche Philosoph Odo Marquard: »Wer auf das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichten; wer auf seine Geschichten verzichtet, verzichtet auf sich selber.«1 Natürlich werden wir das in Form von Geschichten weitergegebene Wissen nur dann für zuverlässig halten, wenn wir es aus dem Mund eines glaubwürdigen Menschen hören. Deshalb gab es die Märchenerzähler, und deshalb bräuchten wir sie auch heute.
Der Märchenerzähler ist der Bewahrer eines Wissens, das sich über Jahrhunderte angesammelt hat und das er schützt und vermittelt. Er ist verantwortlich für die Qualität des weitergegebenen Wissens, er kann das Gleichgewicht zwischen Ratio und Intuition, rechter und linker Gehirnhälfte erschaffen, er ist zuständig dafür, dass innere Bilder entstehen, er setzt die schöpferische Fantasie in Gang, und es ist seine Verantwortung, unter den Märchentypen zu wählen: Warum entscheidet er sich gerade für dieses eine Märchen, und warum gerade jetzt? Der Märchenerzähler war in den archaischen Gemeinschaften der Vertreter des Unbewussten. Beim Erzählen stand er in ständiger und unmittelbarer Beziehung zu den Zuhörern und konnte das Märchen ihrem aktuellen Zustand anpassen, ohne der Botschaft der Geschichte untreu zu werden oder etwas wegzulassen. Wenn in einem Märchen ein wesentliches Element, ein Motiv oder ein wichtiger Satz ausgelassen wird oder aber der Aufbau der Geschichte ins Kippen gerät, entsteht statt der Ordnung Chaos.
Der Märchenerzähler früherer Zeiten wählte das Märchen immer entsprechend der gegebenen Situation. Er erzählte eine Geschichte, wenn er zur Arbeit anregen wollte, und eine andere, wenn es sein Ziel war, die Zuhörer zur Ruhe kommen zu lassen oder zu unterhalten. Wollte er die moralischen Fehltritte der Gemeinschaft deutlich machen, wählte er ein Tiermärchen, Legendenmärchen oder ein Schwankmärchen; wollte er hingegen Trost spenden oder Hoffnung machen, rief er die Helden der Zaubermärchen herbei. In Georgien konnte man als Märchenerzähler sogar von der Steuerlast befreit werden. Der estnische Volkskundler und Ethnologe Richard Viidalepp berichtet, dass bei einzelnen Gruppen der baltischen Völker das Erzählen nicht nur im Alltag der Menschen eine bedeutende Rolle spielte, sondern dem Märchen auch unter dem Gesichtspunkt der Produktion magische Kraft beigemessen wurde.2 Man meinte, wenn man am Abend nach getaner Arbeit oder vor Weihnachten viel erzählte, würde sich das positiv auf die Entwicklung von Jungtieren auswirken. Die »zur Zeit des Andenkens an die Toten« erzählten Märchen hingegen förderten, dass gescheckte Lämmer und Kälber geboren wurden. Auch andere Völker glaubten an die magische Kraft der Märchen: Die Saat wächst schneller, wenn man ihr ein Märchen erzählt, die Wanderer bekommen durch das Erzählen rascher eine Unterkunft, der Bettler gelangt in kürzerer Zeit an seine Einnahmen für den Tag, der Ladenbesitzer lockt die Käufer mit Märchen an, und ein Märchen kann auch in strittigen Fragen entscheidend sein.
DIE KRAFT DER SCHÖPFERISCHEN FANTASIE
Jeder, der ein Märchen hört oder liest, entscheidet selbst, in welcher Form er einen Bezug zu der Geschichte herstellt: ob er sie für eine gültige Wahrheit hält und über sie nachdenkt oder ob er sich eher an die Fakten hält. Die Frage, ob wir dem Märchen einen Wahrheitsgehalt zugestehen oder nicht, beeinflusst jedoch beim Zuhören nicht unsere Beziehung dazu. Es muss also noch etwas anderes geben, das über den Wahrheitsgehalt der im Märchen verschlüsselten Lehren und Botschaften sowie über den Bezug auf unser eigenes Leben hinaus immer, bei jedem Hören eines Märchens entsteht, und zwar so, dass es unmöglich ist, Richtung, Tiefe und Dauer zu beeinflussen. Dieses »Etwas« ist meiner Meinung nach nichts anderes als der Bewusstseinszustand, in den wir gelangen, wenn man uns eine...