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Die Körpergröße der Menschen in der Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas und ein Vergleich ihrer anthropologischen Schätzmethoden

AutorFrank Siegmund
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783741258190
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
Die Arbeit beschäftigt sich mit der Methode und dem Ergebnis von Schätzungen der menschlichen Körperhöhe für die Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Moderne. Es werden die verschiedenen Schätzformeln beleuchtet und Fragen ihrer praktischen Umsetzung. Die weit verstreut publizierten Formeln sind in einem Anhang übersichtlich zusammengestellt, die verschiedenen Messstrecken werden anhand von Fototafeln veranschaulicht. Aus dem Vergleich der Ergebnisse werden Empfehlungen für die Auswahl der besser geeigneten Formeln abgeleitet. Der oft benannte Effekt 'die Menschen werden immer größer' ist von der Jungsteinzeit bis zur Moderne geringer als vielfach vermutet, er beträgt nur wenige Zentimeter. Die populationsinterne Variabilität ist mit einer Spanne von 9 cm, in die jeweils zwei Drittel der Menschen fallen, bedeutender als die zeitbedingten Unterschiede. Der Größenunterschied zwischen Frauen und Männern liegt durch die Zeiten stabil bei im Mittel 12 cm. Bisherige Studien haben gezeigt, dass die populationsinterne Variabilität auch mit sozialen Unterschieden einhergeht, wonach 'arm und reich' sich im Mittel oft um etwa 3 cm unterscheiden. Im frühen Mittelalter besteht diese Beziehung nicht: die Lebensumstände auch der einfachen Leute waren so gut, dass sie eine hohe Körpergröße erreichten.

Der Autor ist Professor für Ur- und Frühgeschichte und Provinzialrömische Archäologie an der Universität Basel.

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Leseprobe

4. Praktische Umsetzung


Um die Eigenschaften der verschiedenen Schätzmodelle besser zu verstehen, werden sie im Folgenden parallel zueinander auf jene zwölf spätrömischen und frühmittelalterlichen Populationen aus Mitteleuropa angewendet, für die Individualdaten zu den Langknochen publiziert sind. Zur Vorbereitung eines solchen Vergleichs müssen jedoch noch einige Details der praktischen Umsetzung geklärt werden.

4.1 KORREKTUR NACH ALTER


Trotter und Gleser hatten nach umsichtiger Bereinigung ihrer Daten eine fortdauernde negative Korrelation zwischen Körperhöhe und Alter festgestellt, die all’ ihre unterschiedlichen Referenzserien gleichermaßen betreffe.101 Daraus wurde eine Korrektur abgeleitet, nach der von den rohen Schätzungen ab dem Alter von 30 Jahren abzuziehen sei: 0,06 cm mal (Alter minus 30). Dadurch werden die Schätzungen für ältere Tote jenseits der 30 etwas vermindert. Die unkorrigierte Schätzung ermittelt die - circa mit 30 Jahren - maximal erreichte Körperhöhe, auch Körperendhöhe genannt.102

Raxter u.a. haben diese Korrektur unlängst in ihre Neubetrachtung der ‚Fully-Methode‘ integriert; ihres Erachtens ist der Effekt grundsätzlich gegeben, die Formel von Trotter und Gleser führt jedoch zu etwas zu starken Korrekturen.103 Im Ergebnis schlagen sie eine Modifikation der Berechnungen für die ‚Fully-Methode‘ vor samt niedrigerer Alterskorrektur; angewendet auf ihre Referenzserie ergeben ihre neuen Formeln für die ‚Fully-Methode‘ keine signifikante Über- oder Unterschätzung der Lebendhöhe mehr, verbunden mit einem generellen Schätzfehler von um 3 - 4 cm. Die Berücksichtigung einer Alterskorrektur erhöht die Genauigkeit.104

In einer Studie an einer großen prähistorischen Sammelserie konnte Ariane Kemkes-Grottenthaler aufzeigen, dass für die meisten Langknochen der Zusammenhang zwischen Lebensalter und Körperhöhe stärker ist als der aus Rezentbeobachtungen ableitbare Altersschwund.105 Sie deutet die größere Körperhöhe als generelles Zeichen höherer ‚Fitness‘, die in der Regel auch mit einer höheren Lebenserwartung einhergehe. Wenn diese - letztlich sozialgeschichtliche - Deutung des Zusammenhangs zwischen Lebensalter und Körperhöhe zuträfe, könnte dies auch für die den Schätzformeln zugrunde liegenden Referenzserien gelten, was wiederum einen Einfluss auf die Ableitung der Korrekturformeln haben müsste.

In vielen Situationen mag die Alterskorrektur wichtig sein, z.B. in der Forensik bei der Identifikation unbekannter Toter, bei der Erarbeitung von Schätzformeln und beim Vergleich von im Befund gemessenen Skelettlängen mit Körperhöhenschätzungen. In der Archäologie sind sie m.E. in der Regel unnötig. Die üblichen Formeln schätzen ohne Alterskorrektur die maximal erreichte Lebendhöhe eines Individuums (sog. Lebendendhöhe), üblicherweise also den Zustand im Alter von ca. 20/23 - 30. Eine Alterskorrektur führt lediglich dazu, dass entsprechend dem danach erreichten Lebensalter für ein Individuum jenseits der 30 die dann noch gegebene Körperhöhe exakter angegeben wird. Angesichts der Diskussion um die Höhe der Korrektur sollte man in der Archäologie auf eine Korrektur verzichten und die ‚maximal erreichte Lebendhöhe‘ resp. ‚Lebendendhöhe‘ als den üblichen Vergleichsparameter benutzen.

4.2 AUSGLEICH DER UNTERSCHIEDLICHEN MESSSTRECKEN


Leider werden die Messwerte für Langknochen der Individuen nur selten publiziert, wenn dies geschieht, werden leider oft unterschiedliche Messstrecken dokumentiert (zu den Messstrecken siehe Taf. I - VI). Die oben skizzierten Formeln wiederum erwarten an den Langknochen z.T. unterschiedliche Messstrecken. Möchte man verschiedene Formeln auf die gleichen Individuen anwenden, müssen die publizierten Messungen ggf. angepasst werden. Auch wenn grundsätzlich von solchen Anpassungen abzuraten ist, sind sie für vergleichendes Arbeiten bisweilen unvermeidlich. Die folgenden kurzen Abschnitte diskutieren die Regeln für solche Anpassungen.

4.2.1 Humerus: H1 und H2 (Taf. I)

Am Oberarm wird in der Regel die ‚größte Länge des Humerus‘ gemessen (H1; maximum humerus length‘).106 Nur selten wird das Maß H2, ‚ganze Länge des Humerus‘ (‚total length‘) verwendet, z.B. bei Breitinger und Bach. Der Unterschied beider Strecken liegt bei mehreren Millimetern, er sollte ggf. justiert werden. H2 plus 5 mm führt annähernd zu H1.107 In der Praxis würde, wenn man ohne Korrekturen irrig gemessene H2 für H1 einsetzt, die Schätzung der Körpergröße allein über den Humerus um etwa 1 - 1,2 cm zu tief ausfallen; beruht die Schätzung auf einem vollständigen Satz an Langknochen, liegt der Unterschied bei etwa 2 - 4 mm.108 Daher ist eine Korrektur sinnvoll, ein unbeabsichtigter Fehler angesichts der üblichen Schätzfehler jedoch verschmerzbar.

Tab. 3: Unterschiede zwischen den Messstrecken H1 und H2 am Humerus. Das gewichtete Mittel des Unterschieds beträgt bei Männern 5,4 mm, bei Frauen 5,1 mm.

4.2.2 Radius: R1, R1a, R1b und R2 (Taf. II)

Das übliche Maß für die Speiche ist R1 ‚größte Länge des Radius‘ (‚maximum length radius‘). An seiner Stelle werden gelegentlich verwendet der ‚Capitulum-Tuberositas-Abstand‘ (R1a), die ‚parallele Länge‘ (R1b) und die ‚funktionelle Länge des Radius‘, auch ,physiologische Länge‘ (R2; physiological length) genannt.109

Der Unterschied von R1 zu R1b beträgt ca. 2 mm; R1b plus 2 mm führt annähernd zu R1.110 Werden hier unkorrigiert fälschlich Messwerte verwechselt, liegt der Fehler bei einer Schätzung der Körperhöhe allein über den Radius je nach Formel und Geschlecht bei 0 bis 3 cm, beim vollständigen Satz an Langknochen bei bis zu 1 cm.111 Daher ist ggf. eine Korrektur sinnvoll, unbeabsichtigte Fehler sind je nach Schätzformel relevant.

Telkkä 1950 setzt in seine Berechnung R2 statt R1 ein. Der Unterschied liegt ohne deutlichen Geschlechtseffekt bei etwa 13 mm; er ist bedeutend, das Einsetzen des falschen Maßes führt zu beträchtlichen Fehlern.

Tab. 4: Unterschiede zwischen den Messstrecken R1 und R1b am Radius. Das gewichtete Mittel des Unterschieds beträgt bei Männern 2,4 mm, bei Frauen 2,2 mm.

Tab. 5: Unterschiede zwischen den Messstrecken R1 und R2 am Radius. Das gewichtete Mittel des Unterschieds beträgt bei Männern 15,0 mm, bei Frauen 13,1 mm, bzw. 13,6 und 11,8 mm ohne Westerhus.

4.2.3 Ulna: U1 und U2 (Taf. III)

Die Elle wird für Körperhöhenschätzungen nur selten verwendet. Das übliche Maß ist die ‚größte Länge der Ulna‘ (U1; ‚maximum length‘), selten wird statt dessen die funktionelle / physiologische Länge der Ulna‘ gemessen (U2; ‚physiological length‘).112

Die Formeln von Telkkä 1950 setzen U2 statt U1 ein. Der Unterschied ist groß, d.h. es müsste eine Korrektur vorgenommen werden. Die Grundlagen dafür wären m.E. schwach, da nur für wenige Serien beide Zahlen veröffentlicht vorliegen und diese deutlich differieren, weshalb mir derzeit eine valide Korrekturempfehlung kaum möglich scheint. Da in der Regel nur das Maß U1 publiziert wird und eine rechnerische Überführung in U2 mit hohen Unsicherheiten behaftet wäre, schätzen wir die Körperhöhe nach Telkkä 1950 ohne Berücksichtigung der Ulna.

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