Wie können subjektive innere Vorgänge, Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Erinnerungen und Assoziationen den Kopf, den Körper verlassen und so dargestellt werden, daß ein anderer Mensch sie nachvollziehen kann?
Die österreichische Malerin Maria Lassnig (*1919)[1], deren Schaffen sich durch eine Vielzahl sehr unkonventioneller Selbstportraits auszeichnet, hat bei der Beschäftigung mit dem Inneren ganz eigene Wege beschritten, die hier dargestellt und analysiert werden. In einem persönlichen Gespräch am 2. Juli 2000 in Wien, das in Auszügen der Arbeit angefügt ist, hat sich die Künstlerin zu Fragen über die Darstellbarkeit des Inneren und über die von ihr erforschten Körpergefühle geäußert, ein Thema, mit dem sich die wissenschaftliche Forschung seit den Untersuchungen des Begründers der Allgemeinen und Integrativen Psychiatrie und Psychotherapie, Johann Christian Reil (1759 – 1813)[2] beschäftigt, der für die Körpergefühle ausgehend vom deutschen Begriff des ‚Gemeingefühls’ den Terminus technicus ‚Coenaestesis’ prägte.[3] Reil war zudem der erste Mediziner, der den Gegensatz und die Einheit von Emotion und Verstand wissenschaftlich zu begründen versuchte.[4] WissenschaftlerInnen der unterschiedlichsten Disziplinen konstatieren ein ständig wachsendes Interesse an den mehr oder weniger wissenschaftlichen Techniken, die auf eine Modifikation der Wahrnehmung des eigenen Körpers zielen. Körpergefühl ist heute eine permanente Komponente in der Psychologie[5] und - wie auch diese Arbeit zeigen wird - eines der großen Themen unserer Zeit.
Aufbau der Arbeit:
Die vorliegende Untersuchung ist in fünf Blöcke strukturiert:
Der erste Block widmet sich einer Werkanalyse Maria Lassnigs. Um das Besondere an ihrer Herangehensweise zu veranschaulichen, werden zunächst fünf repräsentative Selbstportraits beschrieben. Nach diesem Einstieg werden der Schaffensprozeß der Künstlerin, Lassnigs eigene Definition ihrer Arbeit und mit ihrem Werk eng zusammenhängende Themen wie die Frage nach Deformationen oder nach Innen und Außen behandelt. In einer Katalogisierung werden die Selbstportraits Lassnigs unabhängig von ihrer chronologischen Entstehung in einzelne Werkgruppen eingeteilt. Die Verschmelzung mit Gegenständen, Bilder mit Tieren oder die Verwendung von abstrakten Elementen gehören dazu.
Dann folgen Überlegungen zu übergreifenden Charakteristika ihrer Kunst, wie Mimik, Farben oder Bildhintergründen. Ein Kapitel über das ‚innere Sehen’ Maria Lassnigs leitet über zu ikonographischen Überlegungen: Ein Manierismus-Exkurs setzt sich auseinander mit Gustav René Hockes These vom Manierismus als epochenübergreifendem Phänomen und untersucht die Kunst Lassnigs auf manieristische Elemente.
Übergeleitet durch ein Kapitel über Francis Bacon (*1909 - 1992), mit dem die Österreicherin oft verglichen wird und der ebenfalls Portraits malt, die mehr als die Fassade des Menschen zeigen, schließt sich ein Überblick über das Selbstportrait als Gattung an. Nach einem historischen Abriß vom Mittelalter bis zur Gegenwart werden eine Einordnung Maria Lassnigs versucht und verschiedene Erklärungsansätze über die Existenz von Selbstportraits vorgestellt.
Die Ausführungen über Maria Lassnig werden abgeschlossen durch einige Überlegungen zu ihrem Anspruch, auf dem überaus subjektiven Gebiet der Darstellung von Innerlichkeit wissenschaftlich und objektiv zu arbeiten, sowie zur Rezeption durch Publikum und WissenschaftlerInnen.
Der zweite Block beleuchtet die theoretischen Hintergründe von Lassnigs Kunst. Lassnig beschäftigt sich mit dem Körper als Ausdruck bzw. Ursache der eigenen Identität und greift damit eines der meistumstrittenen Themen des 20. Jahrhunderts auf. Der Körperdiskurs, in dessen Kontext ihre Arbeit gesehen werden muß, wird in einem kurzen chronologischen Abriß und der detaillierteren Abhandlung der Hauptaspekte transparent gemacht: Die Verschmelzung von Mensch und Technik, die feministischen Ansätze des Körperdiskurses oder die Angst vor der Zerstückelung des Körpers werden ebenso behandelt wie das angebliche Verschwinden des Körpers in der modernen Kunst, die – wie dieses Kapitel zeigen wird – im Gegenteil geradezu besessen ist von Körpern.
Diese Überlegungen werden ergänzt durch einen Überblick über die Emotionstheorie, denn Maria Lassnig hat oft erklärt, sie stelle keine Gefühle, sondern Körperempfindungen dar, obgleich Gefühle immer auch hineinspielten: „Man kann nicht verhindern, daß auch die Seele herauskommt.“[6] Was ist es genau, was sie darstellt? Wie entsteht es? Und sind es wirklich völlig singuläre Beobachtungen oder gibt es wissenschaftliche Anhaltspunkte für das, was Lassnig seit Jahren an sich beobachtet? Ein philosophisches Modell, das, wenn auch in einer anderen Disziplin, zu erstaunlich ähnlichen Ergebnissen kommt wie die Kunst Maria Lassnigs, ist die Leibinsel-Theorie von Hermann Schmitz (*1928). Ergänzend dazu folgt ein Abschnitt über die Körpersegment-Theorie Wilhelm Reichs (1897 – 1956), die weiteren Aufschluß über die Verbindung von Psyche und Physis gibt.
Ein wichtiges Element in Lassnigs Arbeitsprozeß ist die Introspektion, mit deren Hilfe sie den Zuständen nahekommt, die sie darstellt. Was Introspektion im psychologischen Sinne ist und in welcher Tradition der künstlerischen Selbstprovokation sie steht, ist das Thema des Abschlußkapitels dieses zweiten Blocks.
Es folgt als dritter Block ein kurzer zweigeteilter Exkurs, der sich zum einen mit der Darstellung von Innerlichkeit in der Kunstgeschichte allgemein, vor allem auch mit den Überlegungen Wassily Kandinskys zum „inneren Klang“ beschäftigt, und zum anderen einen Überblick auf ein Gebiet der bildenden Kunst gibt, das prädestiniert zu sein scheint für die Untersuchung des Inneren am Äußeren: die Physiognomik.
Nach den kunsthistorischen Betrachtungen wird im vierten Block der Bogen zur Literatur geschlagen. Die vor allem im Selbstportrait über Jahrzehnte stattfindende künstlerische Beschäftigung mit dem eigenen Inneren ist von den InterpretInnen immer wieder als ‚Innerer Monolog’[7] bezeichnet worden.[8] Dieser literaturwissenschaftliche Begriff umschreibt eine literarische Technik, mittels derer Gefühle und Gedanken gestaltet werden, und in der Literatur wiederum wird der Begriff des „Selbstbildnisses“ oft als literarischer Begriff der Autobiographie oder Selbstbespiegelung verwendet.[9]
Die abschließende Fragestellung dieser Arbeit ist nun: Können diese beiden Phänomene, Selbstportrait und literarischer ‚Innerer Monolog’, weil sie beide eine Möglichkeit bezeichnen, Inneres darzustellen, auch analog gesetzt werden?
Dafür spricht, daß die Theorie der Rhetorik die Kategorien der Kunststile geliefert hat[10] und viele kunsthistorische Begriffe wie zum Beispiel ‚stile’ von der traditionellen Terminologie der Rhetorik und Literaturtheorie übernommen wurden.[11]
Wilhelm Waetzoldt schreibt über die Verbindung von Literatur und Portrait: „Die Portraitmalerei berührt sich (...) mit den Aufgaben und Darstellungsgrenzen der Lyrik. Das lyrische Gedicht hat ja zum Thema das bloße Sein eines Gefühls, es portraitiert die seelische Persönlichkeit in einem für ihr Gesamtverständnis mehr oder minder fruchtbaren Moment.“[12]
Da dies eine kunsthistorische Arbeit ist, liegt das Gewicht der Untersuchung auf kunsthistorischen Fragen. Der Literaturteil konzentriert sich auf die zentralen Aspekte, um den Rahmen nicht vollständig zu sprengen, und kann nur als erweiterte Begriffsklärung verstanden werden, die sich dem Phänomen des ‚Inneren Monologs’ nähert, um gleich wieder zur bildenden Kunst zurückzukehren. Einer Einführung, wie und wodurch sich die Verinnerlichung in der Literatur entwickelt hat, folgen kurze Definitionen zu den Stilmitteln der ‚erlebten Rede’, dem ‚stream of consciousness‘ und vor allem dem ‚Inneren Monolog’. Ein literaturwissenschaftlicher Abschnitt zeigt auf, welche Faktoren den ‚Inneren Monolog’ bestimmen, welche sprachlichen Mittel ihn kennzeichnen, in welchem Kontext er vorkommt usw.
Der fünfte und abschließende Block der Arbeit nähert sich der Analogie, ihrer Definition, und der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Verwendung dieses Stilmittels. Es wird untersucht, mit welchen Begriffen über Maria Lassnigs Selbstbildnisse gesprochen wird und in welchem Sinn der ‚Inneren Monolog’ hier im Vergleich zur Literatur verwendet wird. Abschließend geht es um die Frage, ob man den literarischen Begriff des ‚Inneren Monologs’ auf das Werk Lassnigs bzw. auf die bildende Kunst allgemein beziehen kann oder nicht.
Die Frage nach dem Körper durchzieht die Überlegungen zu Kunst und Literatur gleichermaßen. Ob psychologisch, historisch, anthropologisch, literatur- oder kunsthistorisch, der Körper in allen seinen Facetten ist der rote Faden dieser Überlegungen, denn er ist es, der uns im...