Wie die in Kapitel 2 dargestellten konstruktivistischen Grundannahmen nun konkret auf den Unterricht übertragen werden können, soll Gegenstand dieses Kapitels sein. Bevor jedoch genauer darauf eingegangen wird, wie konstruktivistischer Unterricht gestaltet werden sollte, werden zuerst drei für sinnvoll gehaltene Beobachterperspektiven vorgestellt, welche als Denk- und Handlungsweisen in einen konstruktivistischen Unterricht integriert werden müssen. Diese drei Perspektiven entstammen neueren Einsichten der Erkenntnistheorie, wobei die konstruktive Basis unseres Erkennens im Mittelpunkt steht. Dadurch wird die Position des Beobachters gestärkt, da dieser wieder Selbstvertrauen und Mut für eigene Konstruktionen erhält. Diese drei von Reich (2005, S. 118–122) postulierten Beobachterperspektiven lauten:
(1) Perspektive einer konstruktivistischen Pädagogik: Konstruktion
In einer konstruktivistischen Pädagogik sollten nicht nur die Inhalte, sondern auch die zwischenmenschlichen Beziehungen im Unterricht, in Arbeitsgemeinschaften und allen anderen pädagogischen Bereichen konstruktivistisch ausgerichtet sein. Dazu gehört, dass die Lerner diese Inhalte und Beziehungen selbst erfahren, mit ihnen experimentieren und sie in eigene Konstruktionen überführen und somit deren Bedeutungen für sich selbst herausfinden. Der Leitsatz hierbei lautet: „Wir sind die Erfinder unserer Wirklichkeit.“ Wichtig für den Aufbau von Weltbildern ist eine gewisse konstruktive Tätigkeit, wobei gerade die interaktive Seite dieser Tätigkeit von großer Bedeutung ist. Es greifen hier also Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung notwendig ineinander. Das bedeutet, dass Lernende nicht bloß durch eigene Aktivität ihr Weltbild konstruieren, sondern dies gerade in Beziehung zu anderen tun und somit auch immer die Sichtweisen anderer berücksichtigen müssen, zu denen sie in Beziehung stehen. Es existieren also verschiedene Konstruktions- und Beobachterebenen. Wir konstruieren nicht nur den Inhaltsbereich unserer Weltbilder selbst, sondern auch die Beziehungsebene. Sobald dieser Sachverhalt dem Lerner bewusst wird, eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten, da diese Beziehungen nicht länger als fix, sondern als veränderbar betrachtet werden.
(2) Perspektive einer konstruktivistischen Pädagogik: Rekonstruktion
Im Gegensatz zur Konstruktion geht es bei der Rekonstruktion darum, dass wir nicht alles neu erfinden. Der Großteil, der unser Weltbild ausmacht, ist bereits von anderen erfunden worden und wird von uns nur wiederentdeckt. Je nach dem, in welcher Kultur wir leben, gibt es bestimmte Übereinkünfte über die „Realität“, also eine historisch gewachsene „Wirklichkeit“. Vor diesem Hintergrund können wir durchaus noch Erfindungen machen, welche sich aber dadurch relativieren, dass es sie schon gibt. Das Grundmotto hier lautet: „Wir sind die Entdecker unserer Wirklichkeit.“ Im Bereich der Rekonstruktion geht es zuerst darum, zu schauen, wie man selbst als Erfinder seiner Wirklichkeit zu Beobachtungen kommt und wie diese aussehen. Darüber hinaus ist es aber genauso wichtig, im Prozess der Rekonstruktion zu verstehen, was damalige oder jetzige Beobachter dazu veranlasst hat, ihre Beobachtungen in ihrer jeweils eigenen Art und Weise festzulegen. Dabei spielen Motive und deren Zusammenhänge eine gewichtige Rolle, um zu verstehen, wie andere Beobachter zu ihrer „Realität“ gekommen sind. Genau diese Perspektive der konstruktivistischen Pädagogik, bei der auch die Sichtweise anderer Beobachter berücksichtigt wird, gewinnt heutzutage immer mehr an Wichtigkeit. Die zunehmende Stofffülle, der oftmals mit oberflächlichem Lernen und der Reproduktion von reinem Faktenwissen begegnet wird, erfordert jedoch ein anderes System des Lernens, bei dem Eigenverantwortlichkeit, Selbstvertrauen und Motivation durch Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit gestärkt werden.
(3) Perspektive einer konstruktivistischen Pädagogik: Dekonstruktion
Die letzte Beobachterperspektive ist die der Dekonstruktion. Wenn ein Beobachter zu einer Übereinstimmung mit sich und anderen Beobachtern gekommen ist, bedeutet dies noch lange nicht, dass dies die absolute Wirklichkeit repräsentiert. Gemäß dem Konstruktivismus gibt es nämlich so viele Wirklichkeiten wie es Beobachter gibt. Daher lautet das Motto hier: „Wir sind die Enttarner unserer Wirklichkeit.“ Es könnte auch alles ganz anders sein, als wir denken. Es geht hier also um das, was nicht in Betracht gezogen wurde, um divergierende Beobachtungen und um andere Blickwinkel. Deshalb ist der Dekonstruktivist in der Wissenschaft oft unbeliebt, da er stets alles in Frage stellt und immer wieder den Zyklus von Konstruktion und Rekonstruktion in Gang hält. Indem man seinen Beobachterstandpunkt fundamental verändert, kann man vorher verborgene Dinge sehen und frühere „Wahrheiten“ enttarnen. Ein solches Vorgehen sollte aber immer unter dem Vorzeichen stehen, konstruktive Schlussfolgerungen zu ziehen.
Im Anschluss an die drei benötigten Perspektiven einer konstruktivistischen Pädagogik wird nun in allgemeiner Form beschrieben, wie konstruktivistischer Unterricht gestaltet werden kann. Dubs (1995) verwendet hierzu sieben Merkmale, die im Folgenden näher ausgeführt werden.
Zuerst nennt Dubs eine Orientierung des Unterrichts an „komplexen, lebens- und berufsnahen, ganzheitlich zu betrachtenden Problembereichen“. Wichtig ist in diesem Kontext die Betrachtung von Problemen im Gesamtzusammenhang. Es genügt nicht, dem Unterricht vereinfachte Problemstellungen zugrunde zu legen. Vielmehr sollte die Realität unstrukturierter Probleme Gegenstand des Unterrichts sein. Daher ist es in hohem Maße bedeutsam, den Lernenden eine komplexe und starke Lernumgebung zu bieten, in welcher sie ihre individuellen Erfahrungen machen können, die sie anschließend in aktiver Auseinandersetzung in der Lerngruppe in ihr Vorwissen einbauen können.
Es handelt sich beim Lernen also um einen aktiven Prozess, bei dem der Lernende selbst tätig wird und somit vorhandenes Wissen und Können aufgrund von eigenen Erfahrungen verändert. Eine neue Konstruktion entsteht aus der eigenen Erfahrung und der bereits vorhandenen Wissensstruktur. Anspruchsvolles Denken wird so erst möglich.
Ein weiteres zentrales Merkmal konstruktivistischen Unterrichts ist das kollektive Lernen. Im Fokus steht hier die Diskussion der individuellen Interpretation der vorgegebenen Lernsituation und deren Lösung oder begleitender Hypothesen, wodurch die Lernenden erst ihre eigenen Interpretationen hinterfragen und gegebenenfalls überdenken und neu strukturieren. Dadurch wird das Lernen durch die Schülerinnen und Schüler selbst reguliert und in Gang gehalten. Fehler sind bei diesem Prozess des selbstregulierten Lernens ein wichtiger Aspekt. Sie tragen dazu bei, dass Lernende ihre Fehlüberlegungen hinterfragen und somit falsche Denkstrukturen berichtigen können.
Die Problembereiche einer konstruktivistischen Didaktik sollten an die Vorerfahrungen und Interessen der Lernenden anknüpfen, was diese zusätzlich motiviert und als Herausforderung empfunden wird.
Neben kognitiven Aspekten des Lernens beschäftigt sich der Konstruktivismus außerdem mit Gefühlen im Bezug auf Freuden und Ängste, aber auch mit der persönlichen Identifikation mit den Lerninhalten. Der ganze Prozess des konstruktivistischen Unterrichts geht weit über Anforderungen wie Rationalität hinaus und verlangt zusätzlich einen angemessenen Umgang mit Gefühlen und persönlicher Identifikation.
Ein letztes, aber sehr wichtiges Merkmal konstruktivistischen Unterrichts stellt die Evaluation des Lernerfolges dar. Da es gemäß den konstruktivistischen Grundgedanken kein objektives „Falsch“ oder „Richtig“ gibt, können komplexe Lernsituationen im konstruktivistischen Unterricht nicht mit traditionellen Methoden bewertet werden. Viel wichtiger ist in diesem Fall der Fortschritt der Lernenden bei den Lernprozessen. Dubs schlägt eine Selbstevaluation vor, um die individuellen Lernfortschritte und damit einhergehend die Verbesserung der eigenen Lernstrategien einschätzen zu können.
Ein weiteres Konzept des Lehrens und Lernens, welches uns zusätzliche Aspekte einer konstruktivistischen Didaktik vorstellt, stammt von John Dewey, einem amerikanischen Pragmatisten. Er forderte bereits um das Jahr 1900 eine umfangreiche Reform des Schulsystems und die Art und Weise in der Lerner unterrichtet werden und mit ihnen umgegangen wird. Bereits damals erkannte er, dass es in der traditionellen Auffassung von Schule nur darum ging, dass die Lernenden zuhören. Der ganze Klassenraum ist nach diesem Prinzip gestaltet und lässt kaum eine andere Art des Lernens zu. Es mangelt an Platz für das Kind, um aktiv und kreativ zu werden, etwas zu konstruieren oder zu untersuchen (Dewey, 1899, S. 32–33). Nach konstruktivistischer Auffassung kann eben genau durch zuhören nur wenig Wissen aufgenommen werden. Der Lernende...