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E-Book

Die Kraft der Intuition

Wie man lernt, seiner Intuition zu vertrauen

AutorPhilip Goldberg
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl318 Seiten
ISBN9783105617250
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Was ist Intuition, und wie weit kann man ihr trauen? Ergänzt sie das sogenannte vernünftige Denken oder widerspricht sie ihm? Haben Frauen tatsächlich mehr Intuition als Männer? Diese und viele andere Fragen rund um die Intuition beantwortet der Autor Philip Goldberg - vor allem aber gibt er umfassend Auskunft darüber, wie wir unsere schlummernden «intuitiven» Fähigkeiten freisetzen können. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Philip Goldberg ist Autor, Meditationslehrer und spiritueller Berater.

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Leseprobe

Tu, was die Natur tut, nicht, was sie sagt


Zunächst einmal muß festgehalten werden, daß die vom Szientismus so gepriesene emotionslose, unbestechliche Objektivität ein unerreichbares Ideal darstellt. Die psychologische Forschung lehrt uns, daß schon eine ganz einfache Sinneswahrnehmung ein interpretierender Akt ist, beeinflußt von Erwartungen, Vorurteilen und Wertmaßstäben. So wirkt beispielsweise ein und dieselbe Geldmünze auf ein armes Kind größer als auf ein Kind, dem der Besitz von Geldstücken selbstverständlich ist.

Und sogar die Naturwissenschaftler selbst sind bereits dahintergekommen, daß die theoretisch geforderte Trennung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten, zwischen Subjekt und Objekt, in der Praxis nicht länger aufrechterhalten werden kann. Werner Heisenberg hat mit seiner Entdeckung der Unschärferelation nachgewiesen, daß der Akt des Beobachtens auf der Ebene der Elementarteilchen das beeinflußt, was beobachtet wird. In seinem Vortrag über Das Naturbild der heutigen Physik sagte er wörtlich: «Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur.» Darüber hinaus ist jede Wissenschaftsdisziplin in einem bestimmten Komplex von Voraussetzungen und Meinungen verwurzelt – ihrem jeweiligen «Paradigma», wie Thomas Kuhn es definiert hat –; und wie jeder von uns hat auch der einzelne Wissenschaftler Überzeugungen, Vorurteile und besondere Vorlieben, die seine Arbeit beeinflussen. Tatsächlich ist es so, daß ein Mensch ganz sine ira et studio niemals den Mut und die Beharrlichkeit aufbringen könnte, etwas Bedeutendes zu entdecken oder zu leisten.

Die wirkliche Objektivität der Naturwissenschaft bezieht sich auf den Makrokosmos. Hier handelt es sich um ein kollektives Unterfangen, bei dem Ahnungen, Meinungen und intuitive Überzeugungen in aller Öffentlichkeit diskutiert und streng geprüft werden. Was danach übrigbleibt, nennen wir objektive wissenschaftliche Erkenntnis – geboren aus vielen «subjektiven» Beiträgen.

Ließ man sie gewähren, hat die Intuition oft Wunder gewirkt. Während Vernunft und empirische Beobachtung den Gang der Forschung lenken, und die leidenschaftliche Suche nach Wahrheit gewissermaßen den Brennstoff liefert, ist die Intuition der Zündfunke. Das läuft übrigens nicht nur bei großen Entdeckungen so, sondern auch bei alltäglichen Entscheidungsprozessen und Problemlösungen. Abraham Maslow hat zwischen zwei Typen von Wissenschaftlern unterschieden, die, jeder auf seine Art, ihren spezifischen Forschungsbeitrag leisten. Den einen Typ verglich er mit jenen winzigen Meerestierchen, die ein Korallenriff aufbauen. Geduldig türmen sie ein Faktum auf das andere, wiederholen die entscheidenden Experimente wieder und wieder und modifizieren entsprechend den Ergebnissen vorsichtig ihre Hypothesen. Die Vertreter des anderen Typs, von Maslow «Adler der Naturwissenschaften» genannt, wagen dagegen jene ehrgeizigen Höhenflüge und Denksprünge, die zu wissenschaftlichen Revolutionen führen. Die Intuition verleiht den Adlern Flügel.

Natürlich interessiert im Rahmen unseres Themas gerade dieser Aspekt, und kein Geringerer als Albert Einstein, der Begründer der Relativitätstheorie, sagt über die Entdeckung von Naturgesetzen: «Es gibt keine logischen Pfade zu diesen Gesetzen; nur Intuition auf der Grundlage einfühlsamen Begreifens der Erfahrung kann zu ihnen führen.» Und John Maynard Keynes schreibt über Isaac Newton: «Seine Intuition war überragend und außergewöhnlich. Er hatte so viel Glück mit seinen Vermutungen, daß er mehr zu wissen schien, als er jemals hoffen konnte, zu beweisen. Die Beweise wurden nachgeliefert; sie waren nicht das Instrument der Entdeckung.»

Keynes weist hier auf etwas ganz Entscheidendes hin: Formale Beweise sind Instrumente der Verifizierung und Kommunikation, aber nicht der initiierende Faktor. Was die Öffentlichkeit sieht und was wir in der Schule lernen, sind die endgültigen «Lehrsätze», die logischen, geordneten, zusammenfassenden Darstellungen, nachdem die Schmutzarbeit getan, alle falschen Ansätze und Sackgassen korrigiert, die ungenauen Ahnungen und geistigseelischen Bauchschmerzen überwunden sind. Was wir dann zu Gesicht bekommen, ist ein aus der Retrospektive zusammengestelltes und idealisiertes Kompendium, sozusagen ein verläßlicher Reiseführer durch ein bestimmtes Gebiet, der kaum mehr etwas verrät von den Umwegen, Irrtümern und spontanen Richtungsänderungen seiner Entstehung.

Man läßt uns glauben, das Endprodukt beschreibe den tatsächlichen Vorgang, und rät uns, ihm in unserem Denken nachzueifern. Daher konzentriert sich unsere Ausbildung auf das Erinnern von Fakten und das Befolgen genormter Methoden bei der Lösung von Problemen, wobei Anfang und Schlußpunkt klar definiert sind. Einbildungskraft, intuitive Vorstellungen, die der Entdeckung vorausgehen, werden einfach ignoriert oder abgewertet als bloßes Raten und Vermuten, vor allem wenn der Schüler oder Student nicht in der Lage ist, sofort eine logische Verteidigung seiner «Idee» aus dem Ärmel zu schütteln. Wir werden leider aufgefordert, das zu tun, was die Naturwissenschaft sagt, nicht, was sie tut. Der Psychologe Jerome Bruner schreibt in seinem Buch Der Prozeß der Erziehung: «Das Lob, mit dem Naturwissenschaftler jene ihrer Kollegen verschwenderisch bedenken, die das Etikett ‹intuitiv› verdienen, ist ein hervorragender Beweis dafür, daß Intuition in der Naturwissenschaft ein kostbarer Rohstoff ist, den wir bei unseren Studenten pflegen sollten.»

Wenn auf das Anhäufen von empirischen Fakten tatsächlich zwingendermaßen große Ideen folgen würden, dann brauchte man nichts weiter zu tun, als zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, die dann fälligen Ergebnisse zu registrieren und die entsprechenden Lorbeeren für die «Entdeckung» einzuheimsen. Dann gäbe es kein «Genie», das sich ja gerade dadurch auszeichnet, daß es dieselben Fakten vor Augen hat wie alle anderen Menschen, dabei aber auf Ideen kommt wie kein zweiter. Schon Karl Popper, der Philosoph der Naturwissenschaften, sagte: «So etwas wie eine logische Methode zum Erlangen neuer Ideen gibt es nicht, ebensowenig eine logische Rekonstruktion dieses Vorgangs … Jede Entdeckung enthält ein irrationales Element oder eine schöpferische Intuition.»

Das Wesentliche an geistigen Durchbrüchen ist, daß sie allen konventionellen Annahmen entgegenstehen. Sie gehen über alles hinaus, was wir aufgrund logischer oder faktischer Vernunft akzeptieren würden. So entstand beispielsweise die allgemeine Relativitätstheorie, als Einstein den «glücklichsten Augenblick meines Lebens» hatte. Er erkannte urplötzlich, daß eine Person, die vom Dach fällt, sich gleichzeitig in Ruhe und in Bewegung befindet. Was könnte unlogischer sein? Als diese Theorie Jahre später bewiesen wurde, erschien sie durchaus logisch, weil unsere Anschauungen über Raum und Zeit sich gewandelt hatten – dank Einsteins Intuition.

Die meisten Menschen assoziieren den Augenblick einer plötzlichen Entdeckung – das Aha- oder Heureka-Erlebnis – mit Intuition. Der erste Schritt auf dem Weg, ein Problem zu lösen, liegt ganz allgemein im Erkennen der damit verbundenen Schwierigkeiten und der Fragen, die in diesem Zusammenhang zu stellen sind – dazu gehört vor allem auch die Eingrenzung, das «Auf-den-Punkt-Bringen» des Problems, ein Schritt, den Einstein für mindestens so wichtig hält wie die Lösung selbst. Und gerade in diesem «Vorfeld» wissenschaftlicher Arbeit kommt der Intuition einige Bedeutung zu, besonders dann, wenn eingefahrene Denkvorstellungen durch ungewöhnliche Ergebnisse in Frage gestellt werden, wenn sich also, wie Thomas Kuhn es genannt hat, ein «Paradigmenwechsel» abzeichnet. Sobald eine Hypothese aufgestellt ist, entscheidet der einzelne intuitiv, ob sie den Versuch wert ist, getestet, bewiesen oder widerlegt zu werden. Seine Intuition zeigt ihm auch, wo er nach Fakten suchen, wie er Experimente aufbauen und Daten interpretieren soll. Und sie hilft ihm schließlich dabei, Relevantes von Unwichtigem zu unterscheiden.

Wäre es möglich, das alles durch formal festgelegte, mechanische Methoden zu erreichen, dann würden Experten und Computer niemals kontroverser Ansicht sein. Und doch liefern sie sich auf allen Wissensgebieten immer wieder erbitterte Kämpfe. Menschen begeistern sich intuitiv für bestimmte Ideen, selbst wenn diese lächerlich gemacht und durch den Augenschein widerlegt werden. Erweisen sich ihre Überzeugungen als falsch, dann nennt man sie Spinner; behalten sie recht, sichert ihnen das einen Platz in der Geschichte. So erging es Marconi, als er darauf beharrte, daß drahtlos gesendete Signale jenseits des Ozeans empfangen werden können, obwohl die Gesetze der Physik zu seiner Zeit das Gegenteil behaupteten.

Selbst in der Mathematik sind bis heute alle Versuche, dieser Wissenschaft eine formalisierte, logisch präzise Grundlage zu verschaffen, fehlgeschlagen. Diese Bemühungen kulminierten in Kurt Gödels Unvollständigkeitstheorem, das besagt, daß kein formales System jemals zugleich schlüssig und vollständig sein kann. «Was ist Mathematik dann, wenn sie keine einzigartige, strenge und logische Struktur ist?» fragt Morris Kline in seinem Buch Mathematics: The Loss of Certainty. «Sie ist eine Aufeinanderfolge großer Intuitionen, die von der Logik, die die Menschen zu jedem gegebenen Zeitpunkt anzuwenden gewillt und imstande sind, sorgfältig gesiebt, verfeinert und organisiert werden.»

Und was für die eher abstrakten Bereiche von Naturwissenschaft und Mathematik gilt, das trifft auch auf die alltägliche...

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