Die Redlichkeit des Intellektuellen
Dieses Vorwort kann ich nur schreiben, wenn ich von dem Menschen Tony Judt abstrahiere und mich auf seine Ideen konzentriere. Sonst lande ich wieder bei dem Mann, den ich geliebt habe und mit dem ich von 1993 bis zu seinem Tod im Jahr 2010 verheiratet war, und komme nicht zu seinen Ideen. Sie als Leser werden sich hoffentlich auch auf die Ideen konzentrieren, denn es sind vernünftige Ideen eines Historikers, für den intellektuelle Redlichkeit Grundlage und Richtschnur seiner Arbeit war. Tony konnte diesem Begriff viel abgewinnen, er verstand darunter eine Arbeitsweise, die frei ist von jedwedem Kalkül – etwas sauber, klar und ehrlich darlegen.
Dies ist ein Buch über unsere Zeit. Die Kurve zeigt nach unten – von den Gipfeln der Revolutionen von 1989 mit ihren Hoffnungen und Chancen über die Katastrophe des 11. September 2001, den Irakkrieg und die sich verschärfende Nahostkrise bis hin zum Niedergang der amerikanischen Demokratie. Tony stellte immer öfter fest, dass er gegen diese Entwicklung anschrieb und all seine intellektuelle Kraft darauf verwendete, das Schiff der Ideen auf einen anderen Kurs zu bringen. Mit seinem viel zu frühen Tod ging diese Geschichte jäh zu Ende.
Für mich ist dieses Buch ein sehr persönliches Buch, denn »unsere Zeit« ist auch »meine Zeit« mit Tony. Die älteren Texte sind in den Anfangsjahren unserer Ehe entstanden, in der Zeit, in der unser Sohn Daniel geboren wurde, während unserer gemeinsamen Zeit in Wien, Paris, New York, in der Zeit, in der Nicholas geboren wurde und die Familie heranwuchs. Nicht zufällig begann unser gemeinsames Leben mit dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1989. Ich studierte an der New York University, wo Tony unterrichtete. Im Sommer 1991 reiste ich durch Mitteleuropa, und nach meiner Rückkehr wollte ich mehr wissen. Man riet mir, ein Privatseminar bei Tony Judt zu belegen.
So geschah es, und so begann unsere Romanze bei Gesprächen über europäische Geschichte, Krieg, Revolution, Gerechtigkeit, Kunst. Es war nicht das übliche Arrangement. Unser zweites »Seminar« fand in einem Restaurant statt. Tony schob die Bücher beiseite, bestellte Wein und erzählte von seiner Zeit in Prag, noch unter dem Kommunismus, und wie er 1989, bald nach der Samtenen Revolution, in dieser denkwürdigen historischen Umbruchsituation, durch die winterliche Stadt gelaufen war, über stille Plätze und Straßen. Es entwickelte sich etwas zwischen uns. Wir gingen ins Kino, in Ausstellungen, aßen chinesisch. Tony kochte sogar (äußerst miserabel). Und schließlich, ganz wichtig für unsere Beziehung, lud er mich zu einer langen Europareise ein: Paris, Wien, Budapest, die irrsinnige Fahrt über den Simplonpass bei Sturm (ich am Steuer, denn Tony hatte Migräne). Wir fuhren mit dem Zug, ich sah ihm dabei zu, wie er, über Kursbücher gebeugt, wie ein aufgeregtes Kind Ankunfts- und Abfahrtszeiten notierte: Zermatt, Brig, Florenz, Venedig.
Es war eine wunderbare Liebesgeschichte, eine europäische Liebesgeschichte, die sich einfügte in jene große Liebe zu Europa, die Tonys Leben und Arbeit prägte. Ich glaube, dass er sich manchmal sogar als Europäer empfunden hat, aber das war er nicht. Er sprach Französisch, Deutsch, Italienisch, Hebräisch, Tschechisch und ein wenig Spanisch, war aber in keinem dieser Länder zu Hause. Er war eher ein Mitteleuropäer, streng genommen auch das nicht – er hatte nicht diese Geschichte, abgesehen von seinem beruflichen Interesse und seiner Herkunft (russische, polnische, rumänische und litauische Juden). Er war, in England geboren und aufgewachsen, ein richtiger Engländer (konnte mühelos zwischen dem Cockney-Akzent seiner Kindheit und selbstbewusster Oxbridge-Sprache hin- und herspringen), aber auch das war er nicht ganz – dafür war er zu sehr Jude, zu sehr Mitteleuropäer. Nicht, dass er sich irgendwo fremd gefühlt hätte, auch wenn das manchmal vorkam. Eher gab es überall bestimmte Dinge, die ihm etwas bedeuteten, weshalb ihm alle diese Orte wichtig waren.
Und so ist es vielleicht nicht überraschend, dass wir, obwohl von Anfang an in New York wohnhaft, oft überlegten, anderswo zu leben. Wir waren erfahrene Umzugsexperten und fanden den Gedanken amüsant, gemeinsam ein Buch zu schreiben, das den Titel »Zuhause in Europa. Was Sie über Schulen und den Wohnungsmarkt wissen müssen« tragen würde. Das schönste Geschenk, das ich Tony machen konnte, war ein Abonnement von Thomas Cooks Railway Timetable.
Richtig sesshaft wurde Tony erst nach 2001, was auch mit seiner Gesundheit zu tun hatte. In diesem Jahr wurde eine Krebserkrankung bei ihm diagnostiziert, er wurde operiert, musste sich Bestrahlung und anderen strapaziösen Behandlungen unterziehen. Es hatte aber auch mit dem Anschlag auf das World Trade Center zu tun. Das Reisen wurde nun immer komplizierter, und das schreckliche Ereignis, in Verbindung mit seiner Krankheit, führte dazu, dass er bei mir und den Kindern in New York bleiben wollte. In den folgenden Jahren wurde er mehr und mehr, aber nie ganz, zu einem Amerikaner – ausgerechnet in einer Zeit, in der er besonders gute Gründe hatte, die amerikanische Politik zu kritisieren. Er nahm die amerikanische Staatsangehörigkeit an. »Fragt mich ab«, forderte er unsere beiden Jungs in den Wochen vor dem Einbürgerungstest auf, die dann mit ihm, der jahrelang in Oxford amerikanische Geschichte gelehrt hatte, amüsiert den Fragenkatalog durchgingen. Um 2003 bemerkte ich eine Veränderung in seinem Denken und Schreiben, vom »Sie« hin zum »Wir« – »Wie wir heute leben« (Kap. 26).
Es waren auch die Jahre des Remarque Institute, das Tony 1995 gründete und bis zu seinem Tod leitete. Forschungsschwerpunkt waren die Themen, die seine eigene Arbeit bestimmten: das Verhältnis zwischen Europa und Amerika, Geschichte und zeitgenössischer Politik. In jener Zeit schrieb er Postwar (Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart), ein Mammutprojekt, das für ihn, der sich gerade von seiner Krebserkrankung erholte, eine enorme körperliche und geistige Herausforderung war, jeden Tag aufs Neue. Ich weiß noch, mit welch disziplinierter Entschlossenheit er sich den hier versammelten Essays widmete, während er an seinem großen Buch über Europa schrieb. Mit Sorge verfolgte ich, wie streng er sich antrieb, aber heute weiß ich, dass er nicht anders konnte. Er hörte die Kanarienvögel im Bergwerk unseres Zeitalters. Ein Ergebnis sind die hier vorliegenden Texte, in denen er uns – vor allem uns Amerikaner – auffordert, das zwanzigste Jahrhundert nicht zu vergessen.
In diesem Buch sind nicht nur publizistische Arbeiten versammelt, sondern auch Obsessionen, Tonys Obsessionen. Es ist alles vorhanden: Europa und Amerika, Israel und der Nahe Osten, Gerechtigkeit, der öffentliche Raum, der Staat, internationale Beziehungen, Erinnern und Vergessen und vor allem natürlich die Geschichte. Seine Warnung, der wir in den hier vorliegenden Texten regelmäßig begegnen, dass aus dem »ökonomischen Zeitalter« ein »Zeitalter der Angst« wird und wir ein »Zeitalter der Unsicherheit« betreten, zeigt nur, mit welcher Sorge und mit welchem Pessimismus er die politische Entwicklung verfolgte. Er erwartete viel und war ein wacher Beobachter. In diesen Texten wird der Leser einem klarsichtigen Realisten begegnen, der an Fakten, Ereignisse, Daten glaubte, und einem Idealisten, der das gute Leben anstrebte – nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft.
Ich habe die Texte chronologisch und thematisch geordnet, weil Chronologie zu Tonys größten Obsessionen gehörte. Er war schließlich Historiker, hatte wenig übrig für Intertextualität oder andere modische Strömungen der Postmoderne, zumal in der Geschichtsschreibung. Der Gedanke, dass es nicht die eine Wahrheit gibt, interessierte ihn nicht (war das nicht offenkundig?), es ging ihm nicht darum, diesen oder jenen Text zu dekonstruieren. Seine Aufgabe sah er darin, zu zeigen, was gewesen war – ausgehend von vorhandenem Quellenmaterial, eine überzeugende und verständlich geschriebene Geschichte zu präsentieren, immer mit Blick auf die Frage, was richtig und gerecht ist. Chronologie war nicht bloß eine technische oder literarische Konvention, sondern eine Voraussetzung, für den Historiker sogar eine moralische Verpflichtung.
Ein Wort zu den Fakten: Ich kenne niemanden, der sich strenger an Fakten gehalten hat als Tony. Seine Kinder haben das von Anfang an bei ihm gelernt. Daniel, mittlerweile neunzehn, hat sich den Titel des vorliegenden Buches ausgedacht, einen Ausspruch, der Keynes zugeschrieben wird und zu Tonys beliebten Mantren gehörte: »Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und Sie, was machen Sie?« Ich habe das schon früh an ihm selbst erlebt, in einer dieser häuslichen Situationen, in denen sich das Wesen eines Menschen offenbart. Kurz nach unserer Hochzeit kauften wir ein Haus in Princeton (Tonys Idee) – aber es war eine ziemlich theoretische Angelegenheit. Theoretisch wollte Tony dort wohnen, faktisch lebten wir in New York oder fuhren nach Europa oder sonst wohin. Schließlich wollte ich das Haus verkaufen, denn es kostete uns einen Haufen Geld, und mich schreckte auch die Vorstellung, dort zu wohnen. Das führte zu einer langen, schwierigen Diskussion, aus der ein Streit wurde und am Ende ein wütender Konflikt...