Julius Meier-Graefe
Deutsch als Kunst
Julius Meier-Graefe. Drei Worte, eine Verheißung. Mein ganzes kunsthistorisches Studium über schlich ich um seine Bücher herum wie um den heißen Brei, ich wusste, dass sich darin etwas befand, was noch immer, auch hundert Jahre nach seiner Entstehung, eine gefährliche Explosionskraft besaß. Es ist das barock Ausschweifende, das Unwissenschaftliche, das leicht Unseriöse, das ihn umweht. Seine herrliche Praxis etwa, Fußnoten nicht für überflüssige Literaturhinweise zu benutzen, sondern für Anekdoten von persönlichen Begegnungen mit den Künstlern, über die er schrieb.
Doch immer, wenn mir der Kopf brummte, weil ich versucht hatte, eine kunsthistorische Dissertation aus Bochum zu Ende zu lesen, griff ich wieder zu einem der kleinen Insel-Taschenbücher über Manet, Courbet, Delacroix, zu seiner »Entwicklungsgeschichte« und war nach ein, zwei Worten in seinem Bann. Ich wusste, es war kaum möglich, seinen Namen zu nennen in den Räumen, in denen die strengen akademischen Hygienevorschriften herrschen und das Reinheitsgebot deutscher Wissenschaft. Zugleich reizte mich genau dies. Denn wo solche Abstoßung herrscht, da herrscht Angst. Und sie ist es in Wahrheit, die den Blick auf Julius Meier-Graefe seit fast hundertfünfzig Jahren bestimmt.
Darum sollte, so mein Plan, Julius Meier-Graefe das Thema meiner kunsthistorischen Dissertation werden. Mit Hans Belting hatte ich einen angstfreien und neugierigen Doktorvater gefunden – doch dann geschah etwas Seltsames. So sehr ich es auch drehte und wendete, es wollte mir einfach nicht gelingen, dieses Universum Julius Meier-Graefe in die nüchterne Prosa eines Exposés für ein Dissertationsvorhaben zu pressen. Immer wieder verfiel ich dem eigentümlichen, mitreißenden Stakkato seiner Sätze, immer wieder war ich begeistert über seine Fähigkeit zum kennerschaftlichen Urteil – doch es war mir unmöglich, überhaupt zu umreißen, wie eine Doktorarbeit Julius Meier-Graefes Herr werden sollte. Als ich in diesen Tagen, zwanzig Jahre danach, wieder die alten Insel-Taschenbücher aus Bonn in die Hand nahm, fand ich darin Briefe der großen Meier-Graefe Entdeckerin Catherine Krahmer, in denen sie mir Hinweise gab, wie man unseren Helden vielleicht doch in die deutsche Dissertationsordnung einnorden könnte. Doch alles vergeblich. Es kam nie zur Doktorarbeit, weil ich bereits am Exposé scheiterte. Und ich begann folgerichtig kurz darauf als Kunstkritiker der FAZ zu arbeiten – um dem Idol also nicht durch Exegese, sondern durch Paraphrase nahezukommen.
Sie merken hoffentlich, dass ich nur scheinbar von mir rede. Es käme mir nie in den Sinn, Sie mit biographischen Wendungen zu langweilen, ich weiß, dass auch an diesem Punkt die akademischen Reinheitsgebote unbarmherzig sind. Es geht mir vielmehr darum, zu zeigen, welche Herausforderung es ist, sich mit der eigenen Sprache bzw. der Wissenschaft der Sprache von Julius Meier-Graefe zu nähern. Mir scheint es daran zu liegen, dass er ein Deutsch nutzte, das noch am ehesten mit dem der Bibelübersetzung eines Martin Luther zu vergleichen ist. Und dabei ist es nicht nur die Sprache an sich, die so barock wie klar ist, sondern auch das Apodiktische, das Alttestamentarische, das aus den Werturteilen Meier-Graefes spricht. Es ist unmöglich, darüber eine Doktorarbeit zu schreiben – vielleicht sogar wäre es, um im Bild zu bleiben, eine Sünde.
Möglicherweise ist es genauso naiv, zu glauben, man könne darüber einen Festvortrag halten. Denn dabei misst man sich ausschließlich auf dem sprachlichen Niveau. Aber es hat auch einen Vorteil: Man kann Julius Meier-Graefe wörtlich zitieren – und im Zitieren seine Wortgewalt in die eigene Word-Datei integrieren. Und doch ist das Zitat immer bereits ein Gewaltakt: Denn es löst etwas heraus aus einem Gefüge, das eine Einheit ist. Denn »Einheit«, das ist nicht nur Meier-Graefes wichtigste Kategorie zur Bewertung eines Kunstwerkes (»Hier kann man lernen, was Einheit wirklich heißt«, schreibt er einmal über Menzel) – auch seine Texte sind, einmal gedruckt, wie eine feste, nicht mehr in seine Einzelteile zerlegbare Masse. Das ist sehr überraschend zunächst, denn sein Textfluss, seine Wortwahl sind ja glühend, sein Temperament explosiv – aber wenn die Lava erkaltet ist, die aus diesem Vulkan entsprang, dann ist sie wie ein unverrückbares Gebilde. Die Steine und das Feuer sind zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen. So ist das auch mit seinen Texten.
Sie sind, seien wir ehrlich, Literatur. Das ist der Grund, warum sie vom ersten Tag an so geliebt wurden von den Lesern und so gehasst – von den Kunsthistorikern. Es war Wolfgang Ullrich, der als Erster gezeigt hat, wie bewusst Meier-Graefe etwa in seiner »Spanischen Reise« seine Ernüchterung über Velázquez und den Tod seines Idols auf einen Karfreitag legt, um am Ostersonntag die Auferstehung des neuen Kunstgottes El Greco zu feiern. Die scheinbare Form des authentischen Reiseberichts bei Meier-Graefe ist ausgeklügelte Prosa. Er wusste, was er tat, verfügte über alle literarischen Möglichkeiten, denn man müsse – so sagte er einmal – »immer bereit sein, die Mittel, und wären es Extrakte der Weisheit, zu opfern, sobald es der Zweck verlangt«.
Julius Meier-Graefe also war der bekannteste Vertreter der Spezies des »Kunstschriftstellers« in Deutschland, die von Anfang an von den Vertretern der Wissenschaft verachtet wurde. Von einem anderen Kunstschriftsteller, nicht weniger verpönt als Meier-Graefe und nur unwesentlich weniger interessant, von Richard Muther nämlich, kommt eine Charakteristik dieses Berufes, die wie perfekt die besondere Fähigkeit unseres Helden beschreibt: Das Ideal eines lehrreichen Textes über Kunst sei, »dass das Werk gar nicht von einem Gelehrten, sondern von einem Dichter geschrieben würde«, denn nur dieser besitze »die ganze Feinfühligkeit, die dazu gehört, ein Kunstwerk in sich aufzunehmen und die nuancenreiche Schmiegsamkeit der Sprache«, um angemessen zu analysieren. Das ist Meier-Graefe.
Kein Wunder also, dass man das eigentlich nicht wirklich beschreiben kann. Eine sehr unglückliche Wahl also für ein Thema, über das man einen Festvortrag halten soll. Aber andererseits: Letztlich ist der »Festvortrag« die einzig angemessene, weil kongeniale Form, diese Sprache zu feiern, denn im Grunde hat Meier-Graefe keine Bücher über Courbet, Renoir, Delacroix, Manet und Cézanne geschrieben, sondern lauter Festvorträge. Sein Ton ist immer der einer Feierstunde – und die Sprache wirkt, als hätte er immer bereits drei Gläser von dem Champagner getrunken, den es eigentlich erst anschließend gibt.
Das macht das Lesen einzelner Passagen für den Leser selbst zu einem perlenden Fest – zwingt man sich aber, ein Buch von vorne bis hinten an einem Stück zu lesen, dann ertappt man sich dabei, wie bei einem ordentlichen Festvortrag auch, wie man die Gedanken zum Abendessen schweifen lässt, auf die Uhr blickt oder sich Gedanken über die Krawattenfarbe des Vortragenden macht. Denn so kraftvoll, so gehaltvoll, so leidenschaftlich die Sprache Meier-Graefes ist – der Dauerton seiner ekstatischen Schwärmerei piept nach dreißig Seiten etwas anstrengend im Ohr. Aber haben Sie einmal versucht, vier Stunden lang eine Dissertation zu lesen? Also: Gerechtigkeit für unseren Helden.
Es ist unhöflich, dass ich erst jetzt auf den Ort unseres heutigen Zusammentreffens zu sprechen komme. Die Französische Botschaft in Berlin – ich glaube, es gibt keinen würdigeren Ort auf der Welt, um die Bedeutung Julius Meier-Graefes zu feiern. Er hat Frankreich, Paris und die französische Kunst auf eine Weise geliebt, wie sie vom reaktionären Berlin um 1900 gehasst wurde: nämlich unbändig.
Am Gipfelpunkt seiner eigenen Entwicklungsgeschichte der Kunst standen die französischen Impressionisten. Und das Größte, was es für Julius Meier-Graefe gab, war es, ein Franzose zu sein. Goya und Constable, den jeweils einzigen Spanier und Engländer, den er duldete in seinem ästhetischen Olymp, waren für ihn Franzosen ehrenhalber, und Menzel, der Deutsche, hatte die entscheidenden malerischen Impulse in Paris erfahren. Im Grunde schreibt Meier-Graefe immer über dasselbe, aber er schreibt es immer wieder neu. Es geht ihm um die Erneuerung der Kunst durch die französischen Meister des 19. Jahrhunderts – und um die ästhetische Erziehung der Deutschen, das – verdammt noch mal – zu erkennen. Sein ganzes Schreiben ist von diesem missionarischen Eifer erfüllt – er hatte, wie Wolfgang Ullrich es nennt, ein »kunstpolitisches Wirkungsideal«. Deswegen beschreibt er nicht nur, sondern bewertet, denn er will durch seine Bewertungen die Augen öffnen und bestehende Kanonisierungen in Frage stellen.
Das sollten wir nie vergessen. Dieser Mann hatte immer eine Mission. Egal, ob er, wie meist, den dummen Deutschen die Delikatesse der Franzosen anschaulich machen wollte. Oder ob er der dummen Welt die Weltklasse eines Hans von Marées mit einem zweibändigen Monumentalwerk einzuhämmern versuchte. Oder aber – einer seiner nachhaltigsten Triumphe – ob er El Greco in den Kanon der Kunstgeschichte aufnahm bzw. mit der »Jahrhundertausstellung von 1906« den Deutschen nicht weniger als ein ganzes vergessenes Jahrhundert, das 19. nämlich, erstmals ins Bewusstsein zurückholte. Er vermochte dies alles dank der Kraft seiner Sprache.
Dass er in seiner Missionsarbeit bei den Heiden...