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E-Book

Die Kunst der List

Strategeme durchschauen und anwenden

AutorHarro Senger
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl190 Seiten
ISBN9783406679391
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,49 EUR
Europäer tun sich schwer damit, eine List anzuwenden. Entweder halten sie listiges Verhalten von vornherein für verwerflich, oder sie planen ihre List so halbherzig, dass sie gleich durchschaut wird. Oft gilt es schon als unfein, das Verhalten anderer im Hinblick auf mögliche Listen zu analysieren. Ganz anders in China: Das Durchschauen und Anwenden von List wurde seit alters hoch geschätzt und kultiviert. Als einzige Zivilisation der Welt hat China unterschiedliche Überlistungstechniken benannt und systematisch zusammengestellt. Von diesem Katalog der 36 Strategeme, der jahrhundertelang geheim gehalten wurde, gilt es zu lernen. Harro von Senger zeigt in diesem Buch anhand vieler lebenspraktischer Beispiele, welche Listen in schwierigen Situationen zur Verfügung stehen und wie man sie richtig anwendet. Darüber hinaus gibt er praktische Hinweise, die helfen, die gegen einen selbst gerichteten Strategeme anderer besser zu durchschauen.

Harro von Senger, Jurist und Sinologe, Professor em. für Sinologie an der Universität Freiburg, ist international der führende Experte für chinesische Planungskunst und List-Techniken. Er wurde 1969 in Jura und 1981, nach langen Aufenthalten in Taiwan, der Volksrepublik China und Japan, in klassischer Sinologie promoviert. Neben der Planungskunst und den List-Techniken gilt sein besonderes Interesse der Rechtswissenschaft. Seine erfolgreichen Strategembücher wurden in 15 Sprachen veröffentlicht.

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Leseprobe

5.   Strategem-Damm gegen Strategie-Flut: Vom Kuss des Spinnenweibchens bis zu den Strategemen des kleinen Monsters


653 Bücher mit dem Wort «Strategie» im Titel gegen 3 Bücher über Strategeme zählte ich im Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB), Stand Juli 1998. 2061 Einträge zu «Strategie» gegen 6 Einträge zu «Strategem» enthielt Ende März 2001 die VLB-Datenbank mit über 1.000.000 Büchern, Videos usw. (http://vlbz.buchhandelshop.de). Darin spiegeln sich die seltene Verwendung des Wortes «Strategem» und die Inflation des Ausdrucks «Strategie» wider. «Strategie» ist ein Trendwort, das derzeit die Geschäftswelt und auch sonst alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche in Atem hält. «Strategie» und «Strategem» klingen sehr ähnlich. Daher ist man geneigt, dem häufiger gebrauchten Wort «Strategie» den Vorzug zu geben und damit «Strategem» zu ersetzen. Damit würde man aber der Listaufklärung einen Bärendienst erweisen. Will man der List zu Leibe rücken, sollte man zwischen «Strategie» und «Strategem» unterscheiden.

«Strategem» ist ein neutrales Alternativwort für «List» und bezeichnet eine schlaue, ausgefallene, unkonventionelle Art der Problemlösung. «Strategie» bezeichnet demgegenüber den «Entwurf und die Durchführung eines Gesamtkonzepts, nach dem der Handelnde ein bestimmtes Ziel zu erreichen sucht, im Unterschied zur Taktik, die sich mit den Einzelschritten des Gesamtkonzepts befasst» (Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 1979). Strategie ist also ein langfristiger umfassender Plan, Taktik dagegen ein eher kurzatmiger Einzelschritt. Sehr oft wird freilich ausschließlich nur taktisch-operativ gehandelt (was man im Westen entweder als «pragmatisch» anpreist oder mit Ausdrücken wie «Taktiererei», «taktisches Manöver» oder «taktischer Salto» tadelt), ohne jede übergreifende Strategie. Hierfür ein Beispiel:

«Mazedonien steht am Rande des Bürgerkriegs. … Ausgangspunkt der neuen Gewalt ist Kosovo. Die in Mazedonien aktive ‹Nationale Befreiungsarmee› hat das gleiche Kürzel wie die frühere Befreiungsarmee Kosovo, nämlich UCK. Das ist kein Zufall. Die serbische Provinz ist de facto ein Protektorat der UNO, die NATO militärische Ordnungsmacht. Der Westen kann sich also seiner Verantwortung nicht entziehen. Die UCK wurde in Kosovo nie richtig entwaffnet. Nur ein kleiner Teil der Kämpfer konnte in das zivile Kosovo-Schutzkorps integriert werden. Die internationale Friedenstruppe (Kfor) hätte mehr tun müssen und wohl auch tun können, um dem Treiben der Extremisten in Kosovo ein Ende zu setzen. Doch man ließ sie weitgehend gewähren, denn die Länder der NATO wollten nicht, dass die Kfor in bewaffnete Konflikte mit extremistischen Albanern hineingezogen wird. Der Kfor gelang es auch nicht, das Eindringen von Kämpfern und den Schmuggel von Waffen über die Grenze Kosovos nach Mazedonien zu verhindern. Und auf politischer Ebene fehlt es an einer klaren Strategie. Der politische Status Kosovos ist nach wie vor ungelöst. Das gibt den Extremisten Auftrieb. … Wieder einmal schaut der Westen den Ereignissen hilflos zu.» (NZZ, 19.3.2001)

Selbst Klassiker der Strategie haben die Ebenen verwischt und eigentlich Operatives zum Strategischen erklärt. In folgendem Beispiel werden Strategie, Taktik und Überlistung ohne klare Unterscheidung in einem Atemzug genannt:

«Wir alle sind tagtäglich mit strategischen Herausforderungen konfrontiert: Arbeitnehmer müssen bei ihren Lohnverhandlungen geschickte Taktiken einsetzen, Unternehmer suchen überraschende Wettbewerbsstrategien zur Überlistung der Konkurrenz.» (NZZ, 19.1.1996)

Im Übrigen sollte man den Gegensatz von Strategie und Taktik nicht überbewerten. Oft zerfließen die Grenzen. Auf den ersten Blick war Davids mit List errungener Sieg über Goliath taktischer Natur, aber für Davids weiteres Schicksal erwies er sich als von strategischer Bedeutung. So verwandelt sich «Taktisches» unversehens in «Strategisches». In Unscheinbarem schlummern bisweilen gewaltige Potentiale – im Guten wie im Schlechten. Ein nur mikroskopisch erkennbarer Virus wie jener der Maul- und Klauenseuche kann gigantische Schäden unter den Tierbeständen anrichten. Der rechte Zeitpunkt huscht oft im Nu vorüber. Kleine Zufälle, nichtige Begebenheiten oder sekundenschnelle Entscheidungen sind mitunter ebenso bedeutsam wie sogenannte große Ereignisse. Manchmal wird aus einer einsamen Idee ein großes Geschäft. Miniursachen können Megafolgen haben. «Ein 1000 Klafter langer Damm kann zusammenbrechen, weil Ameisen Löcher in ihn bohren. Ein 100 Meter hohes Haus kann niederbrennen, weil Funken durch Schornsteinrisse stieben», warnt der chinesische Denker Han Fei (gest. 233 v. Chr.). Deshalb tut man gut daran, auch scheinbare «Kleinigkeiten» grundsätzlich mit einem «strategischen» Blick zu betrachten. «Alles Schwere unter dem Himmel entsteht aus dem Leichten. Alles Große unter dem Himmel geht aus dem Kleinen hervor. Wer daher der Dinge Herr sein will, geht sie an, solange sie klein sind.» (Han Fei) Das Kairos-Strategem Nr. 12 «Mit leichter Hand das Schaf wegführen» kann die Sinne schärfen helfen, um große Möglichkeiten in winzigen Zukunftskeimen besser wahrzunehmen (siehe Kapitel 35).

Eine Strategie muss nicht, kann aber listig sein. «Innerhalb von zehn Jahren soll aus der Europäischen Union der ‹weltweit dynamischste und wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum› werden. Diese Strategie hatten die Staats- und Regierungschefs der EU vor einem Jahr in Lissabon entwickelt. … Der in Lissabon angestoßenen Strategie ergeht es nicht anders als den meisten EU-Vorhaben. Bis der Ausgleich zwischen 15 nationalen Interessen und Sensibilitäten gefunden ist, wachsen vor allem die Papierberge.» (Wiler Zeitung/ Volksfreund, 23.3.2001). «Strategie» bedeutet hier zweifellos nichts weiter als langfristige Planung – ohne listigen Beigeschmack. Unlistig gemeint ist «strategisch» sicherlich auch in einem Satz wie «Zuweilen fehlt Europa offensichtlich die Nüchternheit des strategischen Blickes.» (NZZ, 29.1.1999) Gemeint ist wohl die oftmals auffallende «Kurzsichtigkeit» beziehungsweise «Kurzatmigkeit» von Europäern – im Gegensatz zu Amerikanern, denen langfristiges Denken beziehungsweise Denken in großräumigen Zusammenhängen offenbar mehr liegt. Nicht viel von List verstehen vielfach Leute, die sich als «International Strategic Business Consultants», also als «Internationale Strategische Geschäftsberater», anpreisen und Unternehmen schlicht «langfristige Planungen» empfehlen. Unlistig und nicht einmal unbedingt langfristig planend war die offizielle «Strategie» der NATO im Kosovo-Krieg, die darin bestand, weltweit hinauszuposaunen, man verzichte auf den Einsatz von Bodentruppen und werde Jugoslawien so lange bombardieren, bis es kapituliere.

Wenn die Volksrepublik China den USA «eine fortgesetzte Strategie zur Entfachung eines politischen Chaos in China» (International Herald Tribune, 31.5.1999) vorwirft, dürfte sie dabei sowohl ein langfristiges als auch ein mit List (konkret: mit dem Strategem Nr. 20 «Das Wasser trüben, um die ihrer klaren Sicht beraubten Fische zu ergreifen») operierendes Gesamtkonzept der USA meinen.

Dies führt zu einer Bemerkung über das englische Wort «strategy». Es bedeutet Langenscheidts Enzyklopädischem Wörterbuch der englischen und der deutschen Sprache (1978) zufolge unter anderem auch «List, Intrige, Ränke». Demgegenüber ist mir kein Wörterbuch der deutschen Sprache bekannt, das «Strategie» mit «List» gleichsetzt. Wenn im Deutschen nicht selten statt von einer «List» von einer «Strategie» gesprochen wird, dann geschieht dies vielleicht unter dem Einfluss des englischen Wortgebrauchs oder ganz einfach deshalb, weil man sich schämt, offen von «List» zu reden. Besser wäre es freilich, die List beim Namen zu nennen und zum Beispiel wie in den folgenden Zeilen von «Abwehrstrategemen» statt von «Abwehrstrategien» zu sprechen: «Die lästige Lehre hält viele Professoren von lukrativen Nebentätigkeiten ab. Manche haben raffinierte Abwehrstrategien gegen den Ansturm der Studierenden entwickelt.» (Spiegel, 24/1999)

An Vokabeln, die man statt des oft gemiedenen Wortes «List» benutzt, ist die deutsche Sprache außerordentlich reich. Bewertet man einen listigen Vorgang als weder gut noch schlecht oder gar als positiv, greift man statt zum Wort «List» lieber zu wertneutral bis positiv klingenden oder augenzwinkernden Ausdrücken wie «Strategie», «Taktik», «operative Aktion», «Kunstgriff», «Kniff», «Finte», «Coup», «Pfiffigkeit», «Chuzpe», «Geniestreich», «Trick», «Schlaumeierei», «Eulenspiegelei», «Schabernack»,...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Inhalt5
Abkürzungen8
1. Vorwort: Von Hänsel und Gretel bis zu Konfuzius9
2. Es gibt auch täuschungsfreie List: Gustave Courbets Selbstinszenierungen – Jens Weißflogs Siegesdemission – Hans Gadamers Antwort auf die Frage nach dem Glück13
3. Warum «Strategem» statt «List»?17
4. Ein kleiner Köcher mit Listtechniken statt eines großen Haufens von Listanekdoten18
5. Strategem-Damm gegen Strategie-Flut: Vom Kuss des Spinnenweibchens bis zu den Strategemen des kleinen Monsters20
6. Listblindheit in allen Kreisen: «Meine Naivität hat mich da richtig Geld gekostet» (Steffi Graf) – «Naivität aus Unkenntnis banaler Tricks – ein Kennzeichen aller großen Denker» (Marion Gräfin Dönhoff)25
7. Listige Weisheit: Seid klug wie die Schlangen33
8. Für eine Einbeziehung der Weisheit Chinas: Gottfried Wilhelm Leibniz statt Max Weber35
9. Die List gehört zur Welt wie die Nacht zum Tag38
10. Illusionisten entzaubern, Schlafmützen wachrütteln41
11. Des Teufels geschicktester Trick44
12. Etwas Außergewöhnliches erzeugen und so den Sieg erringen46
13. Die erste Listenliste der Welt: 36 Tricktechniken zur Bewältigung kniffliger Situationen aller Art52
Die 36 Strategeme54
14. Von der blumigen Sprache bis zur Systematik der chinesischen Listenliste81
15. Die heilige Mutter Gottes aufs Kreuz legen: Eine deutsche Listenliste mit Lücken84
16. Sieben Grundkategorien von Strategemen: Der ausgetrickste Marsbewohner95
17. Wie man mit Strategemen einen Opponenten überlistet: Jährlich 15 Millionen Chinesen nach Deutschland?103
18. Listiger Konfuzius106
19. Strategemische Kindererziehung109
20. «Der Revolutionär muss das Gras wachsen hören»: Die beiden einzigen Ausländer in der Verfassung der Volksrepublik China112
21. Der Geistliche auf der Autobahn: Lieber die Goldene Regel beschwören als Verkehrssicherheit herbeitricksen115
22. So erreicht man in China, dass ein Parkrasen nicht betreten wird117
23. Wie man mit Strategemen die Listen eines Opponenten durchschaut: Rafsanjani und die US-Geschenke119
24. Wie durchschaut man eine List?123
25. Schaden, Dienst, Scherz: Überlisten aus ethischer Sicht129
26. Schaden, Dienst, Scherz: Das Durchschauen von List aus ethischer Sicht136
27. Den Namen des Vorsitzenden Mao durchkreuzt: Strategemische Fehlanalysen141
28. 14 EU-Staaten ziehen Strategeme dem Amsterdamer Vertrag vor147
29. Nichteinmischung als Strategem156
30. Der Fuchs leiht sich die Autorität des Tigers aus161
31. «Produktive Konkurrenz» statt «Machtkampf» – das Strategem «Einen dürren Baum mit künstlichen Blumen schmücken» als Etikettierungs-List164
32. Nulpen aus Amsterdam168
33. Der vergessene Paragraph 11 und das Verwirrungs-Strategem Nr. 20 «Im Trüben fischen»169
34. Alexander Flemings Schimmelpilzbeachtung und die drei Prinzen von Serendip175
35. Das Kairos-Strategem Nr. 12 und das Schaf des Lebens184
36. Schlusswort: Tabubrecher – Augenöffner – Intrigendetektor – Alarmlampe – Jiu-Jitsu der Konfliktlösung – Trostspender187
Weiterführende Literatur189

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