Sachverstand
Viele, die heute unablässig von Kompetenz reden, wissen vielleicht, daß es sich um ein lateinisches Lehnwort handelt. Aber wer kennt noch das Verb, von dem es abstammt? Es heißt competere und ist ohne seine politisch-rechtliche Grundierung kaum zu verstehen. Wörtlich bedeutet es «zusammen zugreifen». Damit war nicht gemeint, daß viele Kinderhände gemeinsam nach wenig Süßigkeiten greifen, sondern daß eine politische Macht mit vereinten, wohlkoordinierten Kräften ein zusammenhängendes Gebiet erfaßt. Im Zuge seiner Ausdehnung wurde das alte Rom etwa für ganz Italien «kompetent», später für den gesamten Mittelmeerraum. Zunächst ganz brutal durch militärische Eroberung. Dann aber wußte es die eroberten Gebiete auch so geschickt mit Truppen und Aufsehern zu besetzen, daß es die Oberhoheit über sie behielt. Kompetenz umfaßt ursprünglich ebenso Macht wie Wissen.
Für ein Gebiet kompetent sein heißt so viel wie dafür zuständig sein: befugt und fähig, es zu verwalten. Dazu gehört, daß man sich darin auch auskennt, mit seinen inneren Gegebenheiten und Zusammenhängen vertraut ist. Und das ist die Bedeutung, die das Wort Kompetenz annahm, als einige der modernen europäischen Nationalsprachen es dem Lateinischen entlehnten. Es war zunächst ein Verwaltungsbegriff, blieb aber nicht auf Behörden und Beamte beschränkt, sondern wurde allmählich für Fachleute aller Art gebräuchlich: Handwerker, Ärzte, Wissenschaftler – alle, die ihr Sachgebiet beherrschten.
Im 20. Jahrhundert ist Kompetenz gleichbedeutend mit Sachverstand geworden. Doch wie definiert man den? «Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht», bemerkte Georg Christoph Lichtenberg.[5] Mit andern Worten: Wer nur das Innere eines Gebiets zur Kenntnis nimmt und nicht auch dessen Umgebung, der ist borniert – ein Fachidiot. Sachverstand kann nicht an Fachgrenzen abrupt enden. Andrerseits kann er nicht endlos darüber hinausreichen. Wie also ist mit Gebietsgrenzen und Grenzgebieten verständig umzugehen? An dieser Frage hatte schon der junge Platon laboriert. Seine Heimatstadt Athen war ein Biotop für sogenannte Sophisten. Das war damals noch kein Schimpfname für Wortverdreher und spitzfindige Advokaten. Sophisten nannte man Leute, die als Sachverständige für Weisheit auftraten. Sie reisten durch die griechischen Stadtstaaten und boten sich jungen Männern gegen Bezahlung als Lehrer an. Die Jugendlichen aus den vornehmen Familien, die auf baldige Mitgestaltung ihres Gemeinwesens, also auf eine politische Karriere, aus waren, flogen auf solche Lehrer. Als der Sophist Protagoras in Athen aufkreuzte, drängten sie sich alsbald im Haus seines Gastgebers. Platon hat die Szene so plastisch beschrieben, daß man meinen sollte, er sei dabei gewesen.[6]
Doch was ist es genau, was ein Sophist lehrt? Wofür ist er sachverständig? Diese Frage hatte Platon von jemandem gelernt, der seinen Zeitgenossen selber als Sophist galt: Sokrates. Sokrates gehörte zu denen, die, umgeben von einem Schwarm wißbegieriger Halbwüchsiger, in Athen umgingen und öffentlich Weisheitsfragen erörterten. Aber er nahm dafür kein Geld. Er hätte nicht angeben können, wofür es ihm zustünde. Er hielt sich nicht für einen Sophisten, fühlte sich um Weisheit zwar sehr bemüht, aber nicht als ihr Sachverständiger.[7] Um so lieber fühlte er jenen, die Sachverstand für sich reklamierten, auf den Zahn. Was denn das sei, wofür sie Bezahlung verlangten, wollte er wissen. Bei normalen Fachleuten war das nicht schwer zu sagen. Wer zu einem Arzt in die Lehre ging, wollte die ärztliche Kunst lernen und selbst Arzt werden. Wer zu einem Bildhauer ging, wollte Bildhauerei lernen, wer zu einem Flötisten ging, das Flötenspiel. Aber was lernt jemand, der zu einem Sophisten in die Lehre geht? Darum dreht sich Platons Frühschrift Protagoras.
Protagoras «verstehe gewaltig zu machen im Reden» (312d), sagt einer von dessen Fans. Na schön, läßt Platon Sokrates antworten. Aber «gewaltig reden» kann man doch wohl nur über Dinge, von denen man etwas versteht, oder? Der Kitharaspieler kann das über die Musik, aber worüber der Sophist? (312e) Von dieser Frage aus tastet sich der platonische Sokrates förmlich an Protagoras heran. Er sucht ihn bei seinem athenischen Gastgeber auf, verwickelt ihn in ein Gespräch und entlockt ihm ein Geständnis: Ja, sagt Protagoras, er wolle «Menschen erziehen» (317b) und könne sie durchaus etwas Bedeutendes lehren, nämlich «Wohlberatenheit (euboulia) in den häuslichen Angelegenheiten, wie man sein Haus am besten verwaltet, und in den Angelegenheiten der Polis, wie man in ihnen am geschicktesten handle und rede» (318e–319a).
«Wohlberaten» ist jemand, der sowohl Rat weiß als auch Rat anzunehmen weiß. Man könnte ihn «lebensklug» nennen. Doch Lebensklugheit läßt sich nicht trennscharf umreißen. Sie ist zwar ohne Sachverstand nicht zu erlangen. Aber sie geht in Sachverstand nicht auf. Es muß eine wohldosierte Mischung aus Umsicht, Besonnenheit, Mut und Gerechtigkeitssinn hinzukommen. Andrerseits verlangt Wohlberatenheit nichts Außergewöhnliches. In der alten griechischen Volksversammlung, wo es um Angelegenheiten des Gemeinwesens ging, konnte jeder Arzt, Zimmermann, Bildhauer etc. verantwortlich mitreden und -entscheiden, ohne zuvor bei einem Sophisten in die Lehre gegangen zu sein.
Aber läßt sich Lebensklugheit (Wohlberatenheit) lehren? Gewiß nicht wie Flötenspiel oder Gymnastik. Sie ist weder eine Technik noch eine Kunst, also nicht das, was im Griechischen téchnē heißt.[8] Platon nennt sie Tugend (aretē) – und steht damit vor der Frage: Ist Tugend lehrbar? Nicht direkt durch Sachverständige, ist seine Antwort. Modern gesagt: Sie ist keine Kompetenz. Insofern leben alle Sophisten, die als Tugendlehrer daherkommen, über ihre Verhältnisse – also gerade nicht tugendhaft. Dennoch kann man Tugend lernen. Sie ist nicht einmal unattraktiv. Warum drängten sich Halbwüchsige im alten Athen um wortgewaltige Männer, die ihnen Tugend versprachen? Offenbar weil damit keine moralinsaure Pflichterfüllung gemeint war, sondern eine besondere Art von Freiraum: einer, der aus Sachverstand hervorgeht und sich über ihn hinaus öffnet; einer, in dem sich jene Herausforderungen des menschlichen Zusammenlebens stellen, die weder allein durch Sachverstand noch ohne ihn zu bewältigen sind; Herausforderungen, die auch den Erfahrensten immer wieder an den Nullpunkt bringen. Wer in einer heiklen Situation umsichtig, besonnen und mutig war, hat kein Abonnement darauf, es auch in der nächsten zu sein. Reden und Handeln mit Mut und Augenmaß läßt sich zwar lernen, aber nicht ein für allemal, und vor allem: nicht separat. Es kann nur mitgelernt werden, wo Sachverstand erworben wird.
Tugend verhält sich zu Sachverstand wie der Mitlaut zum Selbstlaut. Sie ist dasjenige, worauf der ganze menschliche Lernprozeß hinauslaufen sollte – und doch bloß etwas, was Lernenden unter glücklichen Umständen gewissermaßen als Bonusmaterial zufällt. Bonusmaterial bekommt man nicht separat. Tugend kann nicht direkt gelehrt werden. Deswegen sind die Sophisten, die das zu tun behaupten, Schaumschläger. Dennoch ist Tugend nicht unerreichbar. Wer aus Sachkenntnis das Ungenügen des Sachverstands verspürt und sich angetrieben fühlt, über ihn hinauszudenken – und genau davon handeln die Dialoge des jungen Platon –, der gerät ins Kraftfeld der Tugend. Tugend ist nichts, was man «hat», wohl aber etwas, woran man teilhaben kann. Wer tatsächlich zur rechten Zeit umsichtig, besonnen, mutig und gerecht handelt und spricht, erfüllt nicht bloß Pflichten, befolgt nicht bloß Regeln, ist nicht bloß geschickt oder kompetent. Er erhebt sich über eine bestimmte Art innerer und äußerer Widerstände – und erlebt das damit verbundene Hochgefühl.