Gedankenlesen!?
Eine Definition des Begriffs
Ich glaube felsenfest an das Phänomen des Gedankenlesens. Für mich ist daran wenig Geheimnisvolles – es bedeutet einfach nur, dass wir verstehen, was unser Gegenüber sagt, wenn es mit uns redet. Vielleicht ist es sogar noch weniger geheimnisvoll. Für mich ist Gedankenlesen nichts besonders Außergewöhnliches. In der Tat tun wir es die ganze Zeit, ohne groß darüber nachzudenken. Natürlich machen wir das mal besser, mal schlechter. Manchmal eher bewusst, manchmal eher unbewusst. Sobald wir uns klargemacht haben, was wir tun und wie wir es tun, können wir so lange üben, bis wir es noch besser tun können, davon bin ich überzeugt. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Was tun wir also, wenn wir Gedanken lesen? Was meine ich damit, wenn ich sage, dass wir die Gedanken unseres Gegenübers lesen? Was bedeutet eigentlich das Wort »Gedankenlesen«?
Zu Beginn will ich erst einmal erklären, was es nicht bedeutet. In der Psychologie gibt es den Begriff »Gedankenlesen« (oder mind reading), und diese Art von Gedankenleserei ist einer der Gründe, warum viele Paare irgendwann beim Therapeuten landen. Denn die eine Person setzt voraus, dass die andere ihre Gedanken lesen kann:
»Wenn er mich wirklich lieben würde, hätte er wissen müssen, dass ich nicht auf dieses Fest gehen wollte, obwohl ich Ja gesagt habe.«
Oder:
»Er mag mich nicht mehr, sonst hätte er kapiert, wie ich mich fühle.«
Solche Anforderungen ans Gedankenlesen sind eher ein Auswuchs von Egoismus. Eine zweite Variante besteht darin, dass man davon ausgeht, die Gedanken des anderen tatsächlich lesen zu können, obwohl man eigentlich nur die eigenen Meinungen und Werte auf sein Gegenüber projiziert.
»Oh nein, jetzt wird sie mich bestimmt hassen.«
Oder:
»So wie der grinst, muss er doch irgendwas angestellt haben. Hab ich’s doch gleich gewusst!«
Hier irrt Othello. All das hat mit Gedankenlesen nichts zu tun, es ist einfach bloß Unfug.
Descartes’ große Dummheit
Damit Sie mir folgen können, wenn ich Ihnen gleich meine Auffassung von Gedankenlesen erkläre, müssen Sie vorher ein anderes Konzept verstanden haben. Der Philosoph, Mathematiker und Wissenschaftler René Descartes (auch als Renatus Cartesius bekannt) war ein intellektueller Riese des 17. Jahrhunderts. Seine Revolution der Mathematik und der abendländischen Philosophie beeinflusst uns bis heute. Descartes starb 1650 an einer Lungenentzündung, im Stockholmer Schloss, wohin ihn Königin Christina als Lehrer eingeladen hatte. Descartes war daran gewöhnt, von seinem warmen und kuscheligen Bett aus zu arbeiten, wie es einem französischen Philosophen ja auch gebührt. Verständlicherweise machte ihm der eiskalte Steinboden des Schlosses den Garaus. Descartes hat so einige bemerkenswerte Dinge geleistet, aber er hat auch mal ordentlich danebengelangt. Bevor er starb, kam er auf die Idee, dass Geist und Körper zwei getrennte Einheiten sind. Das war so ungefähr das Dümmste, was ihm nur einfallen konnte, aber Descartes hatte das geneigte Ohr der Intelligenzija durch so markige Sprüche wie Cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) bereits für sich eingenommen. Und so konnte sich dann auch seine seltsame (im Grunde religiöse) Idee in den Köpfen festsetzen, der zufolge der Mensch aus zwei gegensätzlichen Substanzen geschaffen ist – einer seelischen und einer körperlichen.
Natürlich gab es auch Leute, die das für einen Irrtum hielten, aber ihre Stimmen wurden von den Hurrarufen auf Descartes’ neue »Erkenntnis« übertönt. Erst in der modernen Zeit ist es Biologen und Psychologen gelungen, das Gegenteil wissenschaftlich zu untermauern und zu beweisen, dass Körper und Gehirn sowohl auf biologischer als auch auf mentaler Ebene eine untrennbare Einheit sind. Doch Descartes’ Meinung hat sich bis heute als allgemeine Wahrheit halten können. Die meisten von uns unterscheiden immer noch – und sei es auch nur unbewusst – zwischen unserem Körper und unserer Gedankenwelt. Wenn Sie den Rest dieses Buches verstehen wollen, müssen Sie erst einmal kapieren, dass dieses Modell falsch ist, obwohl es zu Anfang seltsam scheinen mag.
Folgendermaßen sieht es aus:
Sie können nichts denken, ohne dass auch rein körperlich irgendetwas mit Ihnen passiert. Wenn Sie einen Gedanken haben, läuft in Ihrem Gehirn ein elektrochemischer Prozess ab. Um einen Gedanken hervorzubringen, schicken gewisse Gehirnzellen einander Signale mit verschiedensten Mustern. Wenn Sie den Gedanken früher schon einmal hatten, ist das entsprechende Muster bereits verwendet worden. Dann wiederholen Sie es nur. Wenn es ein völlig neuer Gedanke ist, konstruieren Sie ein neues Muster beziehungsweise Zellennetzwerk in Ihrem Gehirn. Dieses Muster beeinflusst beispielsweise auch die Ausschüttung von Hormonen (wie Endorphinen) sowie das vegetative Nervensystem. Letzteres steuert Funktionen wie Atmung, Pupillengröße, Durchblutung, Schwitzen, Erröten usw.
Alle Gedanken beeinflussen Ihren Körper irgendwie. Manchmal sogar ganz offensichtlich. Wenn Sie Angst haben, bekommen Sie einen trockenen Mund und Ihre Oberschenkelmuskeln werden verstärkt durchblutet, damit Sie schneller fliehen können. Wenn Sie sich unanständige Gedanken zur Kassiererin im Supermarkt machen, bemerken Sie sehr deutliche Reaktionen in Ihrem Körper – obwohl es doch nur Gedanken waren. Manchmal sind die Reaktionen so minimal, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkennen kann. Aber sie finden trotzdem immer statt.
Das bedeutet, dass wir nur aufmerksam die körperlichen Veränderungen unseres Gegenübers beobachten müssen, um uns ein einigermaßen zuverlässiges Bild davon machen zu können, wie es ihm geht, was er fühlt und woran er denkt. Indem Sie Ihre Beobachtungsgabe schulen, werden Sie bald auch unauffälligere Signale wahrnehmen, die Ihnen früher entgangen sind.
Körper ♥ Seele
Aber das war noch längst nicht alles. All unsere Gedanken spiegeln sich in irgendeiner Form in unserem Körper – doch es funktioniert auch andersherum. Was wir mit dem Körper machen, beeinflusst auch unsere Gedankenwelt. Sie können das ganz leicht selbst nachprüfen. Machen Sie einmal Folgendes:
- Beißen Sie die Zähne fest zusammen.
- Runzeln Sie die Stirn.
- Starren Sie auf einen Punkt vor sich.
- Bleiben Sie zehn Sekunden lang so.
Wenn Sie alles richtig gemacht haben, werden Sie bald merken, dass Sie tatsächlich wütend werden. Warum? Ja, Sie haben in Ihrem Gesicht dieselben Muskeln bewegt, die Sie betätigen, wenn Sie wütend sind. Auch Gefühle spielen sich nicht nur im Kopf ab. Genau wie unsere Gedanken finden sie im ganzen Körper statt. Wenn Sie die Muskeln aktivieren, die an ein bestimmtes Gefühl gekoppelt sind, aktivieren und erleben Sie genau dieses Gefühl, d.h. den mentalen Prozess – der wiederum Ihren Körper beeinflusst. In diesem Fall war es Ihr autonomes Nervensystem. Vielleicht haben Sie es nicht bemerkt, aber während Sie den obigen Test durchgeführt haben, hat sich Ihr Puls um zehn bis fünfzehn Schläge pro Minute erhöht, und in Ihre Hände ist vermehrt Blut geflossen, was sich jetzt so anfühlen dürfte, als wären sie wärmer oder als würde es sogar ein wenig piksen.
Wie das gekommen ist? Ganz einfach – indem Sie Ihre Muskeln nach meinen Anweisungen betätigt haben, haben Sie Ihrem Nervensystem mitgeteilt, dass Sie wütend sind. Voilà.
Wie Sie sehen, funktioniert es in beide Richtungen. Ist ja auch ganz logisch, wenn man darüber nachdenkt. Alles andere wäre eigentlich seltsam. Wenn wir etwas denken, beeinflussen wir damit unseren Körper. Sollten Sie immer noch meinen, dass das nicht ganz stimmen kann, beruht das vielleicht auf unserer Auffassung des Wortes »Gedanke«. Meistens meinen wir damit irgendeine Art Prozess, wohingegen das Wort »Körper« eine physische Einheit beschreibt. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich es anders, konsequenter formuliere und behaupte: Sie können keinen Gedanken denken, ohne damit die biologischen Prozesse in Ihrem Körper zu beeinflussen. Prozesse, die nicht nur im Gehirn ablaufen, sondern im ganzen Organismus. Also in Ihnen. Mit anderen Worten: Vergessen Sie Descartes.
Nonverbal und unbewusst
Ihr mentales und Ihr biologisches Ich sind ein und dasselbe. Sobald Sie das verstanden haben, sind Sie schon ein gutes Stück auf dem Weg zum Gedankenlesen vorangekommen. Die Grundidee hinterm Gedankenlesen – in dem Sinne, in dem ich das Wort verwende – besagt, dass man die mentalen Prozesse, die in anderen Menschen ablaufen, körperlich wahrzunehmen lernt. Natürlich können wir nicht wirklich »lesen«, was im Kopf eines anderen vorgeht (das würde ja bedeuten, dass alle in Worten denken, und Sie werden später noch lernen, dass dem gar nicht so ist), aber das brauchen wir auch gar nicht. Wie Sie jetzt verstehen, reicht es schon, dass Sie sehen können, was rein äußerlich abläuft, um zu begreifen, was sich im Inneren abspielt. Ein paar Faktoren, die wir dabei beobachten werden, sind mehr oder minder konstant: Körperbau, Haltung, Stimme und so weiter. Aber vieles verändert sich auch, während wir mit jemandem reden. Die Körpersprache, der Blick, die Sprechgeschwindigkeit und vieles mehr. Wir fassen all diese Faktoren unter dem Begriff nonverbale Kommunikation zusammen.
Tatsächlich läuft der Großteil jeglicher...