EINLEITUNG
von Rainer Funk
Unser Leben ist ein „Leben zwischen Haben und Sein“. Diese Erfahrung machen viele, die sich von Erich Fromms Alternative „Haben oder Sein“ bewegen und zu einer Veränderung ihres Lebens anregen lassen. Die Alternative hat Erich Fromm 1976 in seinem Buch Haben oder Sein formuliert. Diesem Buch folgte 1989, neun Jahre nach dem Tod von Erich Fromm, ein weiteres, das den Titel hat Vom Haben zum Sein und jene Kapitel aus dem Nachlaß enthält, die er zwar für das 1976 erschienene Buch verfaßt, jedoch aus verschiedenen Gründen damals nicht veröffentlicht hatte.
Die Alternative „Haben oder Sein“ dient vielen als Schlüssel zum Verständnis dessen, woran sie bewußt, halbbewußt oder unbewußt ihr Herz hängen und was sie faktisch mit Leidenschaftlichkeit in ihrem Leben verfolgen. Mit ihr läßt sich nicht nur begrifflich fassen und diagnostizieren, was in Wirklichkeit in jedem von uns vor sich geht; sie ist zugleich auch eine konkretisierbare Leitidee zur Veränderung unseres Lebens.
Wer immer versucht, seine eigene Orientierung am Haben zu erkennen und mit der Orientierung am Sein eine Alternative zu praktizieren, entwickelt das Bedürfnis, über den Weg dorthin noch mehr zu erfahren. Diesem Bedürfnis möchte das vorliegende Lesebuch zur Alternative „Haben oder Sein“ entsprechen. Es will nicht die Lektüre der beiden Bücher Haben oder Sein und Vom Haben zum Sein ersetzen, sondern ergänzen. Dies ergibt sich sowohl aus der Auswahl der hier versammelten Texte wie aus der Art ihrer Zusammenstellung. Darüber hinaus verfolgt der Band Leben zwischen Haben und Sein das Anliegen, die vielfältigen Mißverständnisse, die es um die Alternative „Haben oder Sein“ gibt, zu reduzieren und jene Aspekte der Alternative hervorzuheben, die sich nach bald zwanzigjährigem „Umgang“ mit Fromms Alternative als besonders fruchtbar und wegweisend herausstellten.
Vieles, was in den beiden genannten Büchern in wohlgesetzten Worten formuliert ist, kommt als gesprochenes Wort erst richtig an. Vorträge und Interviews sind deshalb eine wichtige Ergänzung und Bereicherung. Zwar schrieb Erich Fromm alle seine Bücher in Englisch, doch hielt er in den siebziger Jahren zur Entstehungszeit von Haben oder Sein eine Reihe von Vorträgen in deutscher Sprache und gab zahlreiche deutsche Interviews. Die Transkripte dieser sonst nicht oder nur schwer zugänglichen Interviews und Vorträge bilden einen wesentlichen Grundstock des vorliegenden Bandes.
Die Alternative „Haben oder Sein“ als Grundausrichtungen des leidenschaftlichen Strebens – des Charakters – hatte Erich Fromm über viele Jahre bereits beschäftigt, bevor er ihr am Ende seines Lebens ein eigenes Buch widmete. Vorformuliert bei Meister Eckhart und Karl Marx (vgl. E. Fromm, 1992b) faßte er sie in den vierziger Jahren bereits als Alternative zwischen nicht-produktiver und produktiver Charakterorientierung (vgl. E. Fromm, 1947a), später auch als Alternative zwischen Destruktivität bzw. Nekrophilie und Kreativität bzw. Biophilie (vgl. E. Fromm 1964a). Auch zu diesen Alternativen gibt es Beiträge und Vorträge, die gerade das, was Fromm mit der Existenzweise des Seins meint, illustrieren. Weil auch sie weitgehend unbekannt sind, fanden sie in diesen Band Eingang.
Schließlich enthält der Band einige zentrale Abschnitte aus den beiden Büchern Haben oder Sein und Vom Haben zum Sein, die für die Frage des Lebens zwischen Haben und Sein und des Wegs zu einer Orientierung am Sein besonders aufschlußreich sind, sowie als Einleitung ein bisher unveröffentlichtes Manuskript zu dem Buch Haben oder Sein.
Für den vorliegenden Band wurden die Texte so ausgewählt, daß sie in ihrer Abfolge und Gesamtheit ein geschlossenes Ganzes ergeben. Jede Auswahl und Zusammenstellung von Texten verfolgt bestimmte Interessen. Ein Interesse war, das Leben zwischen der Orientierung am Haben und der am Sein zu verdeutlichen. Kernstück des vorliegenden Bandes stellt deshalb das Kapitel „Merkmale eines Lebens zwischen Haben und Sein“ dar. Sowohl für die Orientierung am Haben wie für die am Sein sind ganz bestimmte Äußerungsformen charakteristisch. Dabei wurde jeweils zwischen der für die Orientierung am Haben typischen direkten Äußerungsform und den für sie charakteristischen Kompensationsformen bzw. Abwehrformationen unterschieden:
- Für den, der sich am Sein orientiert, ist die Freude am Leben typisch, während für den am Haben Orientierten eine spezifische Verlustangst und Depressivität kennzeichnend ist, die bevorzugt durch suchthafte Formen des Konsumierenmüssen kompensiert werden.
- Wer sich am Sein orientiert, ist produktiv tätig und lebt aus einer inneren Aktivität, während der am Haben Fixierte von einer eigenartigen Passivität bestimmt ist; in Wirklichkeit wird er gelebt. Um diese Passivität zu vermeiden, fliehen viele in einen geschäftigen Aktivismus.
- Kreativität ist immer ein Merkmal der Orientierung am Sein; ihr entspricht als Wesensmerkmal des am Haben Orientierten eine unendliche Langeweile, die bevorzugt mit Aktivitäten kompensiert wird, bei denen noch „etwas los“ ist: mit „action“, Gewalt und Destruktivität.
- Sich in seinen Eigenkräften selbst zu erleben, ist gleichbedeutend mit der Orientierung am Sein; der am Haben Orientierte hingegen kämpft immer gegen einen drohenden Selbstverlust, den er durch eine narzißtische Aufblähung von sich abzuwehren versucht.
- Für jede Orientierung am Sein ist eine humanistische Religiosität typisch, die sich gegen jede Art der Verdinglichung, Berechenbarkeit und Vergötzung des Menschen richtet, während der am Haben Orientierte durch einen tiefen Unglauben gekennzeichnet ist, den er mit überbrachten Gottesbildern oder den Göttern des Industriezeitalters zu kompensieren trachtet.
- Die Liebe zum Leben ist das Kennzeichen aller seinshaften Wachstumskräfte, während der am Haben Hängende vor jeder Trennung panische Ängste entwickelt. Die Tatsache, daß er eines Tages auch vom Leben getrennt wird, erzeugt beim am Haben Orientierten eine charakteristische Angst vor dem Tod, die meist nur in ihrer Abwehr als Verleugnung des Todes, als Unsterblichkeitsglaube oder als Faszination für das Tote und für das, was nicht mehr sterben kann, in Erscheinung tritt.
In seinem Buch Haben oder Sein hat Erich Fromm unter der Überschrift „Weitere Aspekte von Haben und Sein“ noch andere Merkmale ausgeführt.
Ein weiterer Schwerpunkt bildet das letzte Kapitel der vorliegenden Sammlung, das von den „Schritten zum Sein“ handelt. Obwohl wichtige „Schritte zum Sein“ in dem Buch Vom Haben zum Sein dargestellt werden, wird dort doch nur wenig dem Umstand Rechnung getragen, daß es bei den Schritten zum Sein um die Veränderung der Ausrichtung einer Charakterstruktur mit ihren bewußten und unbewußten Aspekten geht. Darum enthält der vorliegende Band auch Texte zur Frage der charakterologischen Veränderung und zum Umgang mit dem Unbewußten.
Ein besonders relevantes Interesse, das sich in Auswahl und Zusammenstellung der Texte dieses Bandes widerspiegelt, ist der Aufweis der „Entfremdung des Menschen von heute“ durch die Marktwirtschaft, die zur Ausbildung des „Marketing-Charakters“ geführt hat. Es stimmt zwar, daß die Orientierung am Haben charakterologisch mit einem anal-hortenden Besitzstreben verwandt ist, das nur egoistisch-selbstsüchtig sich anzueignen versucht und nichts geben und teilen will, doch bildet das Besitzstreben nur die eine Wurzel der Habenorientierung. Wie Erich Fromm selbst im Dritten Teil seines Buches Haben oder Sein zeigt, ist die Orientierung am Haben heute weit mehr noch das Resultat der Entfremdung des Marketing-Charakters. Diese zeichnet sich dadurch aus, daß der Mensch mehr und mehr sein Selbst und Eigensein aufgeben und verlieren muß, wenn er am Markt erfolgreich sein will. Er erlebt sich zunehmend als entleertes Subjekt, das dann notgedrungen sein Selbst- und Subjektsein durch das Haben von Objekten ersetzen muß.
Im Vordergrund der aus dem Marketing-Charakter resultierenden Orientierung am Haben steht die existentielle Problematik, den drohenden Selbstverlust durch das Haben von Objekten kompensieren zu müssen: „Wenn ich nicht bin, was ich habe, gibt es mich nicht.“ Der am Besitz interessierte Habenorientierte hingegen sagt: „Ich bin, was ich habe.“ Für beide gilt, daß sie ihr Sein durch das Haben von Objekten definieren. Die unterschiedlichen Formulierungen deuten aber die neue Dimension existentieller Abhängigkeit an, die das Haben beim Marketing-Charakter bekommt. Der am Markt orientierte Charakter ist seinen Eigenkräften und seinem Selbstsein um vieles mehr entfremdet, so daß er jedes und alles benützt und gebraucht, um sein defizitäres Selbsterleben zu kompensieren. Nicht das Besitzen ist jetzt die eigentliche Triebkraft für die Orientierung am Haben, sondern die Notwendigkeit, sämtliche Bezüge, in denen ein Mensch steht – den Bezug zu Gegenständen, zu anderen Menschen, zu geistigen, spirituellen, kulturellen Werten, zur Natur, zur Arbeit, zu Gott sowie den Bezug zu sich selbst –, so zu benützen und zu funktionalisieren, daß sie sein verlustbedrohtes und entleertes Sein und Selbsterleben konstituieren können.
Erst diese existentielle Dimension der Orientierung am Haben rechtfertigt, von alternativen Existenzweisen zu sprechen. (Die ursprüngliche Übersetzung des englischen...