Einleitung
Das Vermächtnis gilt fort.
Claus Schenk Graf von Stauffenberg in Geschichte und Gegenwart
Der Blick auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg hat sich in den letzten Jahren nach und nach verändert. Nun ist es grundsätzlich nichts Ungewöhnliches, wenn sich das Verständnis für frühere Ereignisse und Gestalten mit den Jahren wandelt. Geschichtliches Wissen kann verloren gehen, und es muss deshalb von jeder Generation aufs Neue erworben werden, vor allem, wenn es mit ganz unmittelbaren Lehren für die Lebenden verbunden bleiben soll. Stauffenberg ist als faszinierende Einzelperson heute von größerem Interesse denn je. Zugleich polarisiert er noch immer, vielleicht sogar noch mehr als zuvor. Der Erfolg des Hollywood-Films »Operation Walküre« und die seine Produktion begleitende Stauffenberg-Debatte stehen für diese Entwicklung. Stauffenberg ist zwar als Figur der Gegenwart entrückt, zugleich hat jedoch der Streit um die Einordnung seiner Person in die deutsche Geschichte neue Dimensionen erreicht. Klarer als in den über sieben Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird Stauffenberg heute bei vielen als Leitfigur des »guten Deutschen« begriffen. Doch zugleich sind mit dem Aufkommen der Neuen Rechten und Pegida seit 2016 unlautere Versuche unternommen worden, das Erbe des 20. Juli 1944 für durchsichtige politische Ziele zu instrumentalisieren, mit denen Stauffenberg nie etwas gemeinsam hatte.3 Und auch kritische Deutungen sind wieder in Mode gekommen, ganz verstummt waren sie ohnehin nie. Neben der seit jeher vernehmbaren Herabwürdigung des »Verräters« Stauffenberg von ganz rechts gerät der Hitler-Attentäter jetzt zunehmend ins Visier einer »kritischen« Geschichtswissenschaft. Jetzt werden vor allem seine Motive infrage gestellt und Verantwortungsethik gegen Gesinnungsethik positioniert. Auf diese Weise wird Stauffenberg, seine Vorbildfunktion, insbesondere auch sein traditionsbegründender Vorbildcharakter für die deutsche Bundeswehr, infrage gestellt, indem ihm eine Nähe zu den Zielen der nationalsozialistischen Außenpolitik und antidemokratische Neigungen attestiert werden, er bisweilen gar zum Reaktionär und »Elitisten« gestempelt und als »falscher Heiliger« apostrophiert wird. Auf dieser Folie muss ihm folgerichtig jede beispielgebende Rolle abgesprochen werden können.4 Diese Sichtweise seiner Motive und seiner politischen Urteile ordnet ihn dann in eine Gesamtdeutung ein, die der historischen Figur nicht gerecht wird.
In der deutschen Geschichte ist Stauffenberg für politischen Missbrauch und eine verzerrende Sichtweise immer besonders anfällig gewesen. Dies fing schon mit der durchsichtigen Diffamierung durch die nationalsozialistischen Machthaber unmittelbar nach dem Scheitern von Staatsstreich und Attentat an. Bis heute muss das Stauffenberg-Bild diesen Widerspruch aushalten, ja vermutlich ist dieser Widerspruch bereits in seiner Person angelegt. Er wollte provozieren, und die Konsequenz war, dass er bisweilen den Hochkonservativen als Nationalsozialist und den Nationalsozialisten als Hochkonservativer galt. Stauffenberg lässt sich nicht auf eine Formel bringen.
Es ist immer wieder versucht worden, den deutschen Widerstand gegen Hitler mit einem »falsch und zu spät«5 zu etikettieren, den deutschen Verschwörern die Neigung zu großer Redseligkeit vorzuhalten und die zumeist aus der Nachkriegszeit stammenden Quellenzeugnisse, wenn sie eine zu positive Tendenz verrieten, der Hagiographie zu bezichtigen und daraufhin in Zweifel zu ziehen. Immer wieder hat es auch bei der Zentralfigur Claus Schenk Graf von Stauffenberg Versuche gegeben, ihn durch zeitgenössische Äußerungen zu diskreditieren. Am prominentesten sind in diesem Zusammenhang Hans Bernd Gisevius’ nachrichtendienstlich motivierte Kolportage, Stauffenberg sei ostorientiert gewesen6, und die auf Stauffenbergs Regimentskameraden, den damaligen Oberleutnant Hasso von Manteuffel, zurückgehende Mitteilung, Stauffenberg habe sich am Tag der Machtergreifung Hitlers in Uniform an der Spitze einer begeisterten Menschenmenge in Bamberg befunden.7 Schon Christian Müller hat Manteuffels Mitteilung überzeugend ins Reich der Legende verwiesen.8 Überhaupt findet sich kein einziger Quellenbeleg, der Stauffenberg die in der Literatur bisweilen insinuierte Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie in seiner frühen Phase nachweisen kann.
Jede biographische Beschäftigung mit Stauffenberg muss mit dem für die gesamte Geschichte des deutschen Widerstands charakteristischen Problem zurechtkommen, dass nur sehr eingeschränkt Quellen hinterlassen sind und dass – in Zeiten der Diktatur kann dies nicht anders sein – bestimmte Zeugnisse auf ihren Adressaten hin absichtsvoll und die Wahrheit verzerrend verfasst worden sind. Auch Thomas Karlaufs jüngste Kritik an Stauffenberg, die er scheinbar kunstvoll in seinem in der Zeitschrift »Sinn und Form« publizierten Aufsatz vorbringt und die den Tenor der angekündigten kritischen Biografie vorwegnehmen soll, setzt bei der Dürftigkeit der vorhandenen Quellenbelege an und, schon dies ist methodisch zweifelhaft, will vor allem die positiven Zeugnisse aus der Nachkriegszeit in Frage gestellt sehen: »Die Zeugen, die solche fiktiven Dialog in die Welt setzen, bescheinigten auf elegante Weise vor allem sich selbst, von Anfang an gegen Hitler gewesen zu sein.«9 Aus der Zugehörigkeit Stauffenbergs zum Offizierskorps schließt Karlauf auf die Dominanz militärpolitischen Denkens. Er führt ein längeres Zitat des britischen Historikers Richard Evans an, der Stauffenberg zeitlebens eine Verachtung für die parlamentarische Demokratie attestierte, um dann den zweiten Teil des Evans-Zitats, Stauffenbergs Ziel sei es gewesen, die Ehre des deutschen Volkes zu retten, in Frage zu stellen. Die Folgerung beim Leser kann nur sein: Stauffenberg war ein entschiedener Gegner der parlamentarischen Demokratie, und es ging ihm keineswegs darum, die Ehre des deutschen Volkes zu retten. Diese argumentative Konstruktion leitet dann zu Karlaufs Zentralaussage hin, die zugleich eine Abwendung von der vorherrschenden, »staatstragenden« Interpretation des deutschen Widerstandes bedeutet, wie sie insbesondere Joachim Fest mit seinem Topos vom »Lohn der Vergeblichkeit«10 in verschiedenen, weit verbreiteten Publikationen vertreten hat.
Für Karlauf stellt Fests Interpretation eine an der Realität vorbeizielende, von den Quellen nicht getragene moralische Überhöhung des 20. Juli 1944 dar: »Das Pathos der Vergeblichkeit basiert im Wesentlichen auf der Interpretation von Überlebenden, die damit auch für sich selbst ein unangreifbares ethisches Narrativ entwickelten.«11
Woher eigentlich nimmt Karlauf die Gewissheit für seine Interpretation, dass dieses bei Einzelpersonen möglicherweise durchscheinende Motiv ein durchgängiges und generelles gewesen sein soll? Und es ist nicht ganz klar, wen er mit seiner Unterstellung eigentlich meint. Eugen Gerstenmaier? Marion Gräfin Dönhoff? Philipp von Boeselager? Richard von Weizsäcker? Ewald von Kleist?
Karlauf übersieht zudem, dass die von Joachim Fest später aufgegriffene Sichtweise vom symbolhaften Handeln schon 1947 vom Doyen der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, Hans Rothfels, in seiner bis heute maßgeblichen Geschichte der deutschen Opposition gegen Hitler in die Diskussion eingeführt worden war. Rothfels, der nach der Reichsprogromnacht 1938 zunächst nach England und später in die USA emigrierte, hatte wohl am wenigsten Grund, sich im Nachhinein auf die richtige Seite schlagen zu müssen.
Karlauf reduziert Stauffenberg zudem in seinen Motiven. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Attentäter und den Tausenden anderer Offiziere verwischt sich. Denn Stauffenbergs Entschluss zu Staatsstreich und Attentat kann nicht allein mit dem Dienstethos oder nur mit patriotischen Motiven der Kriegsabkürzung erklärt werden. Vielmehr hat bei ihm, anders als bei den meisten anderen Offizieren, eine viel tiefer greifende moralische Empörung über Unrecht und Willkürherrschaft stattgefunden, die in verschiedenen übereinstimmenden und unzweifelhaften Quellenzeugnissen von Zeitgenossen belegt ist. Die Frage nach den Motiven gehört in der Widerstandsforschung gewiss zu den schwierigsten, umso mehr verblüfft, wie apodiktisch Karlauf eine Deutung präsentiert, die immer wieder auf Zirkelschlüssen und – milde formuliert – bestreitbaren Quelleninterpretationen beruht. Stauffenberg fühlte sich nicht mehr an den soldatischen Treueeid gebunden, weil Hitler seiner Auffassung nach – Axel von dem Bussche hat dies kurz nach Kriegsende eindrucksvoll formuliert – tausendmal den Eid gebrochen hatte.12 Noch einmal: Stauffenberg war Offizier. Er hatte seine Prägungen in der Reichswehr erhalten, und dies ist für sein Verständnis soldatischen Dienens, für sein Verhältnis zum Staat, für sein Treueverständnis und für seine Sicht der weltpolitischen Lage Deutschlands in der Zwischenkriegszeit maßgeblich gewesen, aber dies reicht nicht aus, um seinen spätestens 1943 gefassten Entschluss zu Staatsstreich und Attentat zu erklären.
Zudem: Stauffenberg war »nur« Oberst. Es wäre in so traditionsbewussten und hierarchiefixierten Streitkräften wie der Wehrmacht im Krieg außerhalb des Vorstellbaren gewesen, dass ein putschierender Oberst über Nacht an den Generalfeldmarschällen vorbei in politisch mandatierte Kapitulationsverhandlungen hätte eintreten können. Bis heute ist es für die deutsche Bundeswehr genauso wie für alle Angehörigen der ehemaligen Wehrmacht eine offene Wunde und ein bleibend nachwirkendes Versagen, dass sich seinerzeit...