1. Warum es manchmal schwer fällt, sich freundlich durchzusetzen
Wie oft steht jeder von uns vor dieser Situation: Die eigenen Vorstellungen sind gänzlich anders als die Vorstellungen der Umwelt. Der Kollege möchte gern an den alten Strukturen festhalten, ich dagegen möchte mal neuen Wind in die Abteilung bringen. Mein Partner möchte am liebsten gleich morgen aufs Land ziehen, ich bin und bleibe da eher ein Stadtmensch. Mein Chef erwartet, dass ich jeden Tag die Stellung in der Firma bis mindestens 18.00 Uhr halte, meine Kinder wollen mich am Nachmittag zu Hause haben und ich – ich möchte gern mal einen freien Nachmittag nur für mich!
Die Liste ist beliebig zu verlängern. Was alle diese Punkte gemeinsam haben, ist, dass wir mit unseren Vorstellungen meistens allein dastehen. Eher selten stimmen uns andere direkt und ohne Einschränkungen zu. Von daher haben wir es alle – jeden Tag – mit kleinen und großen Auseinandersetzungen zu tun, um unsere Wünsche und Vorstellungen durchzusetzen.
Der ganz normale Alltag
Morgens beim Bäcker fängt es schon an: „Ich möchte keine dunklen Brötchen, bitte geben Sie mir die hellen“. Und doch greift die Verkäuferin nach den für uns zu dunklen Exemplaren. Am Frühstückstisch geht es unmittelbar weiter. Meine Tochter möchte mal wieder keine Brote mit in die Schule nehmen. Ich habe den Verdacht, dass der Schokoladenriegel am Kiosk meine Brote ersetzen soll. Natürlich bin ich damit nicht einverstanden und natürlich will ich meine Tochter von meinen gesunden Broten überzeugen.
Am Arbeitsplatz angekommen, eröffnet mir mein Chef, dass ich meine Überstunden aufgrund des neuen Projektes leider nicht nächste
Woche abfeiern kann. Ich dagegen frage mich leise, wann dann? Das neue Projekt wird wieder neue Überstunden bringen. Die Möglichkeit, diese abzubauen, verschiebt sich noch weiter nach hinten.
Am Nachmittag habe ich eine Konferenz mit der Geschäftsleitung. Wir verhandeln die personelle Besetzung des neuen Projektes sowie das notwendige Budget. Natürlich will ich mehr Geld und mehr Mitarbeiter, als meine Geschäftsleitung bereitstellen möchte.
Auch zu Hause am Abend finde ich leider keine friedvolle harmonische Atmosphäre vor. Mein Partner kann nicht verstehen, warum wir nicht nächste Woche unseren geplanten Kurzurlaub antreten können. Mein neues Projekt und die fehlende Zustimmung für meine freien Tage vom Chef hält er für vorgeschoben: „Gib doch zu, du hattest gar keine Lust, mit mir ein paar Tage zu verreisen! Wenn du wirklich gewollt hättest, dann hätte dein Chef dir schon freigegeben. Du setzt dich doch sonst so gern durch“. Na danke – da habe ich mein Fett wieder abbekommen. Statt tröstender Worte und liebevoller Rückendeckung auch noch Vorwürfe. Leider bin ich einfach zu müde, um diese Situation mit meinem Partner zu klären – und gehe ins Bett.
Nachgeben – eine Alternative?
Das Ende eines ungewöhnlich schlechten Tages? Nein – sondern ein Tag wie viele andere auch, gespickt mit den unterschiedlichsten Situationen, in denen ich mich durchsetzen sollte. Und wenn ich es nicht mache, wenn ich einfach nachgebe? Dann bekomme ich halt die dunklen Brötchen, meine Tochter greift in der Pause zum Schokoladenriegel, mein Überstundenkonto steigt und steigt, mein Partner ist und bleibt verärgert und ich muss ein unterbesetztes Projekt mit viel zu wenig Geld umsetzen – also ein Projekt, das in meinen Augen nicht so erfolgreich sein kann. Nachgeben scheint also nicht sinnvoll zu sein. Ich will meine Vorstellungen durchsetzen, weil ich von ihnen überzeugt bin. Aber wie? Und warum ist das manchmal so schwer?
1.1 Einflussfaktoren
Fangen wir mit den Brötchen beim Bäcker an. Hier sollte es doch wirklich leicht sein, sich durchzusetzen. Sicher, wenn ich morgens schon fit genug bin für eine kleine Konfrontation. Sicherlich auch, wenn mich nicht gerade die resolut wirkende Verkäuferin bedient hätte, die anscheinend sowieso nicht lächeln kann. Vielleicht hätte ich mich auch durchgesetzt, wenn es mir wirklich wichtig gewesen wäre. Aber jetzt einen kleinen Aufstand machen, nur weil mir die hellen Brötchen besser schmecken? Außerdem möchte ich nicht arrogant oder zickig wirken wegen ein paar dunkler Brötchen.
Sie sehen schon, selbst in einer völlig banalen Alltagssituation spielen viele Faktoren eine Rolle, warum wir uns dann eventuell doch nicht durchsetzen. Selbst wenn wir wie hier Brötchen kaufen, die uns gar nicht richtig schmecken. Folgendes spielt eine entscheidende Rolle:
- die persönliche Verfassung
- die Wirkung meines Gegenübers auf mich
- die Wichtigkeit meines Ziels
- mein Harmoniebedürfnis
- die Befürchtung, beim Gegenüber negativ aufzufallen
Bei der Situation mit dem Pausenbrot kommt hinzu, dass es hier um meine Tochter geht, also um einen Menschen, der mir nah steht und bei dem mir eine gute Beziehung sehr wichtig ist. Außerdem sorge ich mich um das Wohlergehen meiner Tochter. Mein Ziel ist, dass es ihr gut geht. Also will ich sie vom vermeintlich Besseren überzeugen. Ob und wie ich mich in solchen Situationen durchsetzen werde, hängt also zusätzlich ab von:
- der Beziehung zu meinem Gegenüber
- meiner Überzeugungskraft
- den Vorstellungen meines Gegenübers
Bei der Situation mit meinem Chef spielen noch zusätzliche Faktoren eine Rolle. Wichtig ist hier, wie die Beziehung zwischen meinem Chef und mir ist. Ist es mein Chef gewohnt, dass ich meine eigenen Ziele selbstbewusst verfolge? Oder kennt er eher weniger Widerspruch von mir? Welche Erfahrung habe ich mit meinem Chef in solchen Situationen gemacht? Welche Konsequenzen hat es, wenn ich versuche, mich durchzusetzen? Ebenso bedenke ich die realistische Umsetzung meines Ziels. Kann ich mir vorstellen, trotz des Projektes ein paar Tage frei zu machen und dem Projekt dennoch gerecht zu werden?
Ob ich mich durchsetzen möchte oder nicht, wird also zusätzlich noch von diesen Faktoren abhängig sein:
- Welche Erfahrungen habe ich mit meinem Gegenüber in ähnlichen Situationen gemacht?
- Wie selbstbewusst bin ich?
- Sind meine Vorstellungen realistisch und umsetzbar?
In der Konferenz mit meiner Geschäftsleitung bin ich in einer klassischen Verhandlungssituation. Auch hier spielt mein Selbstbewusstsein eine große Rolle und natürlich auch mein Auftreten. Ob ich mich durchsetzen kann, wird sowohl von meinen guten und richtig vorgebrachten Argumenten als auch von dem Eindruck, den ich mache, abhängig sein.
Auch hier werde ich mich eher durchsetzen, wenn:
- die Argumente gut sind und richtig vorgebracht werden
- der eigene Auftritt souverän beim Gegenüber ankommt
In meiner Partnerschaft beeinflussen vor allem meine Gefühle meine Durchsetzungsfähigkeit. Auch ist mein Harmoniebedürfnis hier besonders stark ausgeprägt. Streitigkeiten in der Partnerschaft kann keiner von uns ignorieren. Da fällt es schon leichter, den Bäcker zu wechseln. Es kommt also noch hinzu:
- die emotionale Beziehung zu meinem Gegenüber
Freundlich durchsetzen
Alle diese Faktoren beeinflussen mich, ob und wie ich mich durchsetzen werde. In jeder der oben beschriebenen Situationen spielt mein Gegenüber eine große Rolle. Wenn Sie Ihre eigene Durchsetzungsfähigkeit verbessern wollen, ist es wichtig, Ihre Mitmenschen mit einzubeziehen. Es nützt Ihnen wenig, wenn Sie Ihre Vorstellungen zwar durchgesetzt haben, aber die Beziehung zu Ihrem Gegenüber seitdem deutlich leidet.
Daher spreche ich in diesem Buch vom freundlichen Durchsetzen. Die Kunst ist es, die eigenen Ziele und Wünsche zu verfolgen, nicht immer derjenige zu sein, der nachgibt und dabei trotzdem beliebt zu bleiben. Es wäre vermessen zu behaupten, dass Sie mit Hilfe der vorgestellten Strategien nie mehr „dicke Luft“ aushalten müssen und dass alle ständig von Ihrer Durchsetzungsfähigkeit begeistert sein werden. Oft ist es auch sinnvoll, beharrlich zu bleiben und „dicke Luft“ auszuhalten, wenn andere Sie mit negativen Reaktionen „strafen“ wollen. Wenn Sie die nachfolgenden Strategien häufiger anwenden,...