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Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters

Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst

AutorArnold Esch
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783406667718
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Menschen des späten Mittelalters, die sonst in keiner historischen Quelle zu Worte kämen, erzählen ihre kleinen Schicksale. Sie schreiben an den Papst und bitten um Absolution: Da geht es um Liebe und Tod, Krieg und Pest, Condottieri und Piraten, Pilgerfahrten und Hexenritte. Der große Mediävist Arnold Esch hat diese Stücke zu einem hinreißenden Buch verwoben, das uns durch alle Sphären führt: vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Aus Tausenden von unveröffentlichten Schreiben an den Papst hat Arnold Esch für diesen Band, der an die Wahren Geschichten aus dem Mittelalter anschließt, eine Auswahl getroffen. Doch diesmal kommen die Gesuche nicht nur aus dem mitteleuropäischen Raum, sondern aus ganz Europa, von Portugal bis Polen, von Schottland bis Sizilien. Kaum irgendwo sonst wird das Mittelalter so aus der Nähe betrachtet und gerade dadurch ungewöhnlich anschaulich und lebendig.

Arnold Esch ist Professor für Mittelalterliche Geschichte und war bis zu seiner Emeritierung Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom. 2011 erhielt er den «Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa».

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Leseprobe

I
DIE BEHÖRDE. DIE QUELLE. DIE AUSSAGE


Unter den Eigenheiten der hier verwerteten Quelle sei gleich zu Anfang ein Zug hervorgehoben, da er der ganzen folgenden Darstellung den Grundton geben wird: wir hören Menschen zu uns sprechen, die sonst keine Chance hatten, in eine historische Quelle hineinzufinden oder gar zu Wort zu kommen. Gewöhnliche Menschen erzählen Episoden aus ihrem bescheidenen Leben, die andere Quellengattungen für nicht überlieferungswürdig halten würden; erzählen große Geschichte aus der niedrigen Augenhöhe der Opfer und der kleinen Täter weit unterhalb der großen Geschichtsschreibung: kleine Leben in großer Geschichte.

In den Archiven ihrer Heimat haben sie meist keinerlei Spuren hinterlassen. Hier aber, in der Überlieferung der römischen Kirche, werden sie verwahrt, werden sie greifbar, weil sie ein Anliegen nach Rom getragen, oder weil sie sich schuldig gemacht haben. Schuld ist eine große Überlieferungs-Chance. Für viele gewöhnliche Menschen ist es sogar die einzige. Nun erst wird nach ihnen gefragt, müssen sie reden, dürfen sie reden: im Verhör unter Anklage, oder in der Zeugenvernehmung.[1] Von sich aus reden sie nämlich nicht. Und da sie endlich einmal von sich selbst reden, sollten wir sie auch ausreden lassen und ihnen nicht immer gleich mit kanonistischen Fragen ins Wort fallen.

Um sie überhaupt sprechen zu hören, muss man ihnen nachgehen, muss mit dem gern propagierten Vorsatz, nicht nur Könige und Päpste, sondern auch gewöhnliche Menschen anzuhören, Ernst machen und die spärlichen Quellen aufspüren, in denen sie zu uns sprechen. Die Pönitentiarie-Gesuche sind eine solche Quelle. Denn die Kirche fragte hier nicht nach der historischen Erheblichkeit eines Menschen, sondern nach der Gefährdung seines Seelenheils. Und darin – aber auch im Anspruch, die dafür allein zuständige Institution zu sein – achtete sie die Menschen gleich.

Doch musste das Anliegen erst einmal artikuliert und nach Rom getragen werden. Wer keine Probleme hat und keine Probleme macht, hat keine Chance, in eine Quelle hineinzukommen. Und man muss ein Problem mit Rom haben, um in römische Überlieferung zu kommen, wo man weit besser aufgehoben ist als in sonstiger mittelalterlicher Überlieferung (denn überliefert zu werden ist kein Menschenrecht, ist nicht einklagbar). Ein Problem mit Rom zu haben war damals leichter als heute, denn die Kirche durchdrang in ganz anderer Weise das Leben, das der Geistlichen wie das der Laien. So bildete sich die Quelle, aus der unsere Darstellung schöpft.

1. DIE PÖNITENTIARIE: AUFGABEN, KOMPETENZEN, GESCHÄFTSGANG. FORSCHUNGSGESCHICHTE. Die Quelle, die uns diesen ungewöhnlichen Zugang erlaubt, liegt im Archiv der Apostolischen Pönitentiarie, des höchsten Buß- und Gnadenamtes der Kirche, das bei Verstößen gegen das Kirchenrecht zuständig war, die nicht vom Ortsbischof gelöst werden konnten, sondern dem Papst reserviert waren.[2] Da es hier nicht um Geschichte, Kompetenzen und Arbeitsweise dieser Behörde geht, sondern um die von ihr produzierten Quellen, seien einleitend vor allem die benutzten Archivalien vorgestellt und Funktion, Geschäftsgang und Personal der Pönitentiarie nur so weit behandelt, als es zum Verständnis der Quelle notwendig ist.

Die Petenten, Kleriker wie Laien, hatten sich mit ihren Anliegen in Form einer Bittschrift (Supplik) an den Papst zu wenden, der die Entscheidung an den Großpönitentiar delegierte, wenn er nicht ausnahmsweise selbst signierte (Abb. 1). Die von den Suppliken erbetenen Gnaden lassen sich in drei große Kategorien einteilen: 1. Absolutionen, d.h. Lossprechung von kirchlichen Strafen, denen man durch ein Vergehen entweder automatisch (ipso facto) oder durch ausdrückliches Urteil verfallen war – und da das Kirchenrecht auch das Leben der Laien durchdrang, gab es dazu reichlich Anlass (was alles mit der Exkommunikation belegt sein konnte, wird an erstaunlichen Fällen zu zeigen sein); 2. Dispense, durch die eine Norm des Kirchenrechts in einem Einzelfall außer Kraft gesetzt wurde oder Sonderrechte in Form von Privilegien gewährt wurden; 3. Lizenzen, mit denen gegen geltende Restriktionen die Erlaubnis etwa zum Handel mit den Muslimen, zum Besuch des Hl. Landes, zum Fleischgenuss in der Fastenzeit gewährt wurde.[3]

In komplexeren kanonistischen Fragen beraten von einem Auditor, entschied der Großpönitentiar oder sein Stellvertreter, der Regens (der eine im Kardinals-, der andere im Bischofsrang), den Fall und signierte die bewilligte Supplik mit fiat ut petitur, wenn aus ordentlicher Amtsgewalt der Behörde; mit fiat de speciali, wenn aus erweiterter Vollmacht auf Grund der dem Großpönitentiar verliehenen Fakultäten; mit fiat de speciali et expresso, wenn aus einer vom Papst fallweise ausdrücklich (wohl oft mündlich) gegebenen Ermächtigung.[4]

Nach Behandlung und Bewilligung trug die Pönitentiarie diese Gesuche in ihre Register ein: die registrierten Suppliken sind sämtlich positiv beschieden worden; ob es auch nicht bewilligte und darum nicht registrierte Gesuche gab, wissen wir nicht.[5] Die originalen Suppliken, die nach der Übertragung ins Register in der Regel vernichtet wurden, haben sich nur erhalten, wenn sie dem Petenten mit Bewilligungsvermerk (statt einer littera) zurückgereicht wurden und dann in ein Archiv gerieten.[6] Während die frühen Supplikenregister die unterschiedlichen Materien noch in bunter Mischung aufnehmen, werden sie seit dem Pontifikat Pius’ II. nach Materien gesondert: eine sachliche Gliederung, die, ebenso wie fortan das Auswerfen der Diözese am Rande, die Durchdringung der Stoffmasse erheblich erleichtert. Voneinander geschieden werden nun Ehesachen (De matrimonialibus), verschiedene Weihehindernisse wie uneheliche Geburt (De defectu natalium), Beichtbriefe (De confessionalibus), und die unterschiedlichen verbleibenden Fälle unter zwei Rubriken zusammengefasst: De diversis formis, die (wie schon der Name sagt) die verschiedensten Anlässe und Anliegen umfasste, und De declaratoriis, worin in kirchenrechtlich besonders bedenklichen Fällen um eine Erklärung (declaratio) gebeten wurde, dass den Petenten keine Schuld treffe.[7]

ABB. 1. Der Großpönitentiar. An der Spitze der Pönitentiarie, die sich im 15. Jahrhundert zu einer großen Behörde ausgestaltete, stand immer ein Kardinal, dessen Vollmachten beim Tode eines Papstes (anders als bei sonstigen Kurien-Ämtern) nicht erloschen: Vollmachten die, von Eugen IV. neu gefasst, über die ordentliche Amtsgewalt hinaus vom Papst ausdrücklich erweitert werden konnten. Hier der Kardinal Niccolò Albergati, ein Kartäuser, Großpönitentiar von 1438 bis zu seinem Tode 1443, eine profilierte Persönlichkeit wie die meisten seiner Nachfolger. Martin V. und Eugen IV. (der sich von ihm auf dem Basler Konzil vertreten ließ) setzten ihn vor allem als Friedensvermittler ein: in Italien, aber auch zwischen England und Frankreich, zwischen Frankreich und Burgund – und bei solcher Gelegenheit mag Jan van Eyck ihn porträtiert haben. An der überlieferten Identifizierung mit Albergati dürfte gegen geäußerte Zweifel festzuhalten sein. Wien, Kunsthistorisches Museum.

Die unter De diversis formis und De declaratoriis registrierten Fälle waren nicht in die sonst übliche schematisierte Form zu bringen und erforderten von Seiten des Petenten eine detaillierte Darlegung (narratio), um der Pönitentiarie die für die Beurteilung notwendige Information zu liefern: und auf diese narrationes haben wir es abgesehen (Abb. 2). Diese Bedingung umständlicher Darlegung gibt den Stücken einen persönlichen Ton – bei aller unerlässlichen Vorsicht im Umgang mit solchen Texten, woran zu erinnern immer wieder Gelegenheit sein wird. Im Folgenden werden darum nur diese beiden Materien ausgewertet (wobei De diversis formis allerdings mit rund 16.000 Stücken allein für die Pontifikate Pius II. – Sixtus IV. nächst De matrimonialibus die weitaus umfangreichste Materie ist). Dabei bietet in diesen beiden Materien Italien die meisten Fälle, gefolgt von Frankreich, dem Reich, der Iberischen Halbinsel; sodann, mit Abstand, Osteuropa, die Britischen Inseln, Skandinavien.[8]

Der folgenden Darstellung, die die Jahre 1439–1484 umfasst, liegen die Supplikenregister zugrunde, die vom 8. Pontifikatsjahr Eugens IV. an, mit einer Lücke zwischen 1442 und 1448, kontinuierlich erhalten sind.[9] Ein immenses Material, das für den hier behandelten Zeitraum auf insgesamt etwa 97.000 Suppliken zu schätzen ist,[10] von denen hier, aus den genannten zwei Materien, gut 2400 Stücke verwertet sind. Bei einer solchen Masse von einzeln zu zitierenden Stücken wurde in weniger erheblichen Fällen der Name des Petenten...

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