Ungebetene Rückkehr
Mein Urgroßvater Heinrich Nitschke widersetzt sich bereits im Winter 1944 allen Aufforderungen, vor der heranrollenden Front nach Westen zu flüchten. Seine Schwiegertochter Frida liegt krank im Bett. Von seinen Söhnen Paul und Emil hat er keine Nachricht. Die beiden sind Soldaten der Wehrmacht. Die Front zieht ohne größere Kämpfe an Zyrus vorbei. Die Rote Armee behelligt die Familie nicht – im Gegenteil. Heinrich bekommt Saatkartoffeln zugeteilt, spannt eine seiner beiden Kühe vor den Pflug und zieht eine Furche für die Kartoffeln. Seine Enkeltochter läuft hinter ihm und legt Hoffnung in die Erde. Heinrich drischt später Sommergerste und glaubt, den Krieg überstanden zu haben. Bis zum 26. Juli 1945. An diesem Tag sieht er zum ersten Mal Angehörige der polnischen Miliz. Eine Gruppe dieser Männer rückt mit angelegtem Gewehr auf den Hof und fordert die Nitschkes auf, das Anwesen sofort zu räumen. Die Milizionäre drohen, die Familie auf der Stelle zu erschießen, sollte sie sich weigern. Sosehr Heinrich sich müht, die Männer zum Gehen zu bewegen: Er muss seine zwei Kühe vor den Wagen spannen, greift die wichtigsten Papiere und was sich schnell an Notwendigem packen lässt, und zieht mit seiner Familie Richtung Westen. Eine Woche später beziehen die schlesischen Flüchtlinge ein Quartier in Lübben bei Cottbus. Heinrich glaubt, die Vertreibung sei ein Irrtum. Er will nicht wahrhaben, dass seine Heimat zu Polen gehören wird, und wägt ab. Was soll ihm mit seinen sechsundsiebzig Jahren bei einer Rückkehr nach Hause schon passieren? Er füttert die Kühe, dreht um, kutschiert zurück nach Schlesien und kommt durch.
Heinrich bangt um seinen Hof im niederschlesischen Dorf Zyrus, das nun schon Czciradz heißt. Der Hof ist das väterliche Erbe, das er für den Sohn Paul behüten muss, bis der aus dem Krieg zurückkommt. Falls er zurückkommt. Das Anwesen liegt am Rand des Dorfes, geduckt hinter einem Hügel, und zu einem kleinen Vorwerk gehörend. Wenn man auf Freystadt zufährt, dessen Name in Kożuchów umgewandelt ist, ragt ein roter Backsteingiebel über eine hüglige Wiese. In den Giebel sind zwei Fenster eingelassen, die Augen des Anwesens. Von dort hat meine Mutter als Kind auf die Landstraße geblickt, voller Sehnsucht nach den Eltern Ausschau gehalten. Einem Großstadtkind fällt es schwer, die Stille eines Dorfabends zu ertragen. Ein Abend, an dem der Wind durch den Nussbaum rauscht, hinter dem der Mond aufsteigt. Mein Urgroßvater dagegen mag die nächtliche Unruhe der Großstadt nicht. Bei der Schwiegertochter Anna in Berlin will er nicht leben. Dort fehlt ihm die Dunkelheit der Nacht und der Gesang der Nachtigall vor dem Fenster des Schlafzimmers. Den Landmann treibt die Sehnsucht in sein Dorf zurück. Auch die Sehnsucht nach seiner Berta, die auf dem Friedhof an der Weggabelung nach Freystadt begraben liegt. Der Urgroßvater soll gesagt haben: «Das macht man nicht, dass man seine Toten im Stich lässt!» Und seinen Acker auch nicht. Der Urgroßvater ist noch ein Bauer vom alten Schlag. Er sät nicht nur für seine Ernte, nicht nur für den Verkauf, nicht nur für das tägliche Brot. Er bricht mit dem Pflug die ihm anvertraute Erde um. Warum soll er sie verlassen?
Keine drei Wochen sind vergangen. Der Nussbaum steht noch, als Urgroßvater auf sein Gehöft rollt und die Abkürzung über die Wiese nimmt. Der Weg ist fast zugewachsen. Der Mischlingsrüde Rex bellt nicht. Kein Huhn ist zu sehen. Die Türen vom Schweinestall sieht er zuerst. Sie stehen offen wie auch die Tür des Wohnhauses. Nur in einem Fenster zur guten Stube sind die Scheiben zerbrochen. Einige Stühle fehlen. Und die Federbetten. Für mehr haben sich die Eindringlinge nicht interessiert. Die Nitschkes sind einfache Leute, hatten ein Schwein zum Schlachten und ein Schwein zum Verkaufen. Sie besaßen nur das Nötigste zum Leben, kamen nie in die Verlegenheit, überflüssiges Geld in Luxus zu verwandeln. Urgroßvater besichtigt sein Haus, richtet sein Bett im Altenteil, findet Decken, schläft wieder zu Hause. Dass er nicht weiß, was werden wird, bekümmert ihn wenig. Er ist wieder dort, wo für ihn die Mitte der Welt liegt. Er sagt das nicht, er fühlt es nur. Noch am gleichen Tag schaut er nach Bertas Grab, richtet es her, pflückt Blumen und stellt sie in ein Glas vor dem Grabstein.
Der Urgroßvater beginnt, sich um seinen Acker zu kümmern. Er ist auf Hilfe angewiesen. Doch um ihn herum ist niemand. Den Nachbarn haben die Polen dauerhaft vertrieben. Der Nachbar des Nachbarn ist im Winter geflüchtet. Mitte August läuft ein polnischer Milizionär vom Friedhof her auf das Gehöft zu. Neben ihm humpelt ein kleiner Mann. Dass der noch jung ist, sieht Heinrich erst auf den zweiten Blick, denn die Kleidung am Körper des Mannes ist alt und geflickt. Jacke und Hose sind von unterschiedlicher Farbe, haben nie zusammengehört. Der Milizionär spricht polnisch auf Heinrich ein. Der kleine Mann neben ihm übersetzt mit stolpernden Worten, dass der Mann mit dem Gewehr den Deutschen hiermit enteigne und den Hof ihm, dem jungen Mann also, übertrage. Die Sache sei unabänderlich. Der Milizionär sagt nichts weiter zu dem Alten, dreht sich um und geht. Geht, als hätte er den Alten gar nicht gesehen.
Die beiden Männer stehen allein auf dem Hof. Ein Deutscher und ein Pole. Ein Pole, dem peinlich ist, was er übersetzen musste. Bleiben will er eigentlich nicht. Er sei auf der Durchreise nach Hause, kommt aus Süddeutschland, erzählt er. In der Nähe von Wilna sei er aufgewachsen, einer kleinen Bahnstation in der Region Trakai. Aber dorthin könne er nicht zurück. Litauen solle angeblich wieder zur Sowjetunion gehören. Die Litauer seien darüber unglücklich, die dort lebenden Russen würden die Polen nicht mehr dulden. Jetzt käme er aus Deutschland und habe Glück gehabt. Als Fremdarbeiter sei er bei einem Weinbauern in der Pfalz gelandet und habe dort Deutsch sprechen gelernt. Er wolle seine Familie suchen und sehen, was wird. Bleiben? Vielleicht.
Ein seltsames Bild. Ein Pole, der nach Hause will und nicht darf, steht neben einem Deutschen, der sein Zuhause gerade an ihn, den Polen, verloren hat. Was danach geschieht, passt nicht in das Raster der Geschichtsbücher über die Nachkriegszeit. Der Alte mag den Jungen, der Junge mag den Alten. Die beiden wohnen zusammen und bringen die Ernte ein. Im Winter kommen die Eltern des Jungen auf den Hof und bringen eine Schwester mit. Die Polen lassen den Alten nicht spüren, dass sie jetzt die Besitzer des Hofes sind. Sie sitzen mit ihm am Tisch, schlafen mit ihm unter einem Dach. Man spricht deutsch miteinander. Obwohl der Gebrauch der deutschen Sprache offiziell untersagt ist.
Im Frühjahr 1946 bemerkt die polnische Miliz dieses unerwünschte Miteinander und verlangt von der polnischen Familie, Urgroßvater Heinrich davonzujagen. Wieder geschieht etwas, was nicht in den Geschichtsbüchern steht: Die vertriebenen Polen erklären den Milizionären unmissverständlich, dass der alte Mann bleiben kann. Man habe nichts dagegen. Die Männer gehen und kommen wieder. Diesmal mit einer ernsten Drohung. Wieder weigern sich die Polen, Heinrich Nitschke aus dem Haus zu werfen. Beim dritten Besuch bringen die Vertreter der neuen Macht ein Ausweisungspapier. Da gibt der Alte schließlich nach, packt ein Köfferchen und folgt den Männern. Er ist siebenundsiebzig Jahre alt. Die Miliz bringt den alten Mann zum Bahnhof nach Freystadt. Dort besteigt er einen Güterwaggon. Den Transport übersteht Heinrich Nitschke nicht. Bei seiner Familie in der sowjetischen Besatzungszone kommt er nie an. Seine Söhne, die Krieg und Gefangenschaft überleben, haben nichts über das Ende des Vaters in Erfahrung bringen können.
Es gibt vorsichtige Schätzungen und Zahlen, die Historiker zur Beschreibung dieses Übergangs in Schlesien, Pommern und Ostpreußen verwenden. Mal vermuten sie, es seien siebenhunderttausend Deutsche gewesen, die nach Flucht und Vertreibung noch in ehemaligen deutschen Ostgebieten leben, mal eine Million. Wie viele Deutsche tatsächlich in Polen verblieben sind, lässt sich nicht mehr ermitteln. Es war ja nicht einmal klar, wer überhaupt gemeint war, wenn man von «den Deutschen» sprach. Viele Familien – vor allem in Niederschlesien – fühlten sich seit Jahrhunderten deutsch und sprachen im Alltag auch nur deutsch. Daneben gab es Familien, die seit 1871 zwar die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, zugleich aber polnischer Nationalität waren. In Neusalz an der Oder gehörten nur vier Prozent der Einwohner zu dieser nationalen Minderheit. Ganz anders war die Lage in Oberschlesien und in Masuren: Dort lebten viele Menschen, die von den polnischen Behörden als Autochthone bezeichnet wurden. Darunter verstanden sie Einwohner, die bis 1945 zwar deutsche Staatsangehörige waren, deren Kultur und Sprache sie aber als slawische «Ureinwohner» auszeichnete. Eigentlich, so behauptete die polnische Regierung, seien diese Menschen also Polen. Allerdings hatten das Masurische und Schlesische im Laufe der Zeit zahlreiche deutsche oder tschechische Lehnwörter übernommen. Diese Mundarten wurden umgangssprachlich als «Wasserpolnisch» bezeichnet; das klang abwertend und war auch so gemeint. In Grenzländern, wie Schlesien über Jahrhunderte eines gewesen war, fiel es allgemein schwer, ethnische Zugehörigkeiten «zu klären» und sie in Statistiken auszuweisen.
Nach offiziellen Angaben gehörten 1989 noch einhundertfünfzigtausend Menschen innerhalb der polnischen Grenzen der deutschen Minderheit an. Fast fünfzig Jahre hat es sie offiziell nicht gegeben, die Deutschen in Polen. Fast fünfzig Jahre haben jene, die sich, wie die Deutschen in Słubice, weigerten zu gehen, ihre...