Untersuchungshaft
Einer meiner Begleiter läuft zur Pforte und redet über die Sprechanlage mit den Wärtern. Es geht schnell, wir sind angemeldet. Natürlich. Meine Bewacher bringen mich hinein. Ich werfe einen letzten Blick nach draußen, bevor sich die Tür hinter mir schließt.
Die Polizeibeamten erledigen ihren Papierkram und nehmen mir dann die Handschellen ab. Sie übergeben mich den Justizbeamten: «Passt bloß gut auf den auf!»
Natürlich höre ich es. Die Wärter wissen, weshalb ich hier bin, und geben sich alle Mühe, mir klarzumachen, dass ich gegen sie keine Chance habe. Ich werde durch diverse Türen geführt, die vor mir auf- und hinter mir wieder zugeschlossen werden. Dann muss ich meine Taschen ausleeren. Außer Portemonnaie und Haftbefehl habe ich nichts dabei. Den Haftbefehl darf ich behalten. Der Inhalt meines Geldbeutels dagegen wird akribisch geprüft, anschließend muss ich die Übergabe meiner Habseligkeiten per Unterschrift bestätigen.
«Sie bekommen Ihre Sachen bei der Entlassung wieder», sagt einer der Wachleute mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht.
Einen Ausweis habe ich nun nicht mehr, stattdessen teilt man mir eine Nummer zu.
«Die Zahl merken Sie sich besser», heißt es. «Die wird für lange Zeit wichtiger als Ihr Name sein.»
So läuft das hier also. Ich bin jetzt eine Nummer.
Durch die nächste Tür werde ich in einen kahlen Raum geführt. Die Beamten streifen sich Plastikhandschuhe über. «Ausziehen!»
Ich lege Schuhe, Hose und T-Shirt ab.
«Den Rest auch!»
Die Bullen haben mich doch schon durchsucht, was für eine Schikane! Aber ich will es nicht gleich zum Streit kommen lassen und füge mich. Die Beamten suchen mich von oben bis unten ab, lassen keine Körperöffnung aus. Was erhoffen sie sich, bei mir zu finden? Was für ein frustrierendes Leben sie wohl führen, dass sie sich an meiner Nacktheit ergötzen müssen. Aber bitte, den Anblick meines durchtrainierten Körpers könnt ihr gratis haben. Davon könnt ihr doch nur träumen! Reglos stehe ich da und warte darauf, dass ich mich wieder anziehen darf.
Der nächste fensterlose Raum, eine Bank und ein Tisch, an dem ich auf den Arzt warten soll. Allein in dieser scheußlichen Umgebung warten zu müssen, quält mich. Lange Zeiten, in denen rein gar nichts passiert, in denen ich einfach nur da bin ohne die geringste Möglichkeit, irgendetwas tun zu können – ich kann nicht einmal mehr weglaufen. Ich bin allein mit meinen Gedanken, die immer lauter in meinem Kopf dröhnen. Ich fühle mich vollkommen ausgeliefert, nicht nur denjenigen, die irgendwann durch diese Tür kommen werden – auch mir selbst.
In meiner Erinnerung gab es zu Hause kaum Spielzeug für uns Kinder. Das Geld war äußerst knapp. In Celle hatten meine Eltern beide noch Arbeit, dann, als wir nach Eschede umzogen, waren sie beide fast gleichzeitig ohne Verdienst. Bis heute weiß ich aber nichts Genaues über unsere damaligen Verhältnisse, wir haben nie darüber gesprochen. Ich empfand uns immer als arm, obwohl wir ein Haus besaßen und meine Eltern immer wieder Geld spendeten, wenn in den Medien über akute Not irgendwo in der Welt berichtet wurde. Meine Familie war nicht nur finanziell in Not geraten. Die Sorge darum, wie es weitergehen soll, die Sorge um unser aller Wohl muss für meine Eltern so schlimm gewesen sein, dass sie den Mangel an Zuwendung, an Austausch gar nicht bemerkten. Auch nicht die Bedürfnisse ihrer eigenen Kinder.
Ich schämte mich für unsere billige Kleidung, das billige Essen, das nicht vorhandene Spielzeug. Aber vor allem schämte ich mich für meine behinderten Eltern. Für ihre Hilfsbedürftigkeit, ihre Abhängigkeit, dafür, dass sie nicht so waren wie die anderen Eltern. Nie habe ich Schulkameraden zu uns nach Hause eingeladen.
Unser neues Zuhause war wie ein Versteck.
Zwischenzeitlich hatte ich mir immer wieder vorgeworfen, mich meinen Eltern nicht anvertraut zu haben. Ich ließ sie nie wissen, wie leer, einsam und arm ich mich fühlte. Aber wie hätte ich davon erzählen können? Ich war ein Kind und hatte es nie gelernt, über Gefühle zu sprechen. Natürlich hatten meine Eltern genug Sorgen und Ängste, das weiß ich heute, aber als Kind konnte ich all das nur ahnen – darüber geredet haben wir nie.
Ich habe jetzt schon keinen Bock mehr. Ich will nur noch weg. Irgendeinen Weg muss es doch geben. In Filmen klappt das doch auch immer mit dem Ausbrechen. Aber nicht einmal aus diesem Raum gibt es für mich einen Ausweg. Wände und Türen aus Beton und Stahl, außerdem habe ich keinerlei Werkzeug. Ein Entkommen aus diesem Gefängnis ist absolut unmöglich. Ich muss das ertragen, muss versuchen, meine Anspannung in den Griff zu bekommen. Meine Muskeln verkrampfen sich allein bei dem Gedanken, weiter hier ausharren zu müssen. Wo bleibt denn dieser Arzt?
Mir wird heiß, und ich habe Durst. Ich fühle mich dreckig und klebrig. Ich bin jetzt schon zwei Tage inhaftiert, konnte mich seitdem nicht waschen, mir nicht die Zähne putzen, trage immer noch die gleichen Klamotten.
Endlich geht die Tür auf.
Ich erschrecke, als ich den Arzt sehe. Dieses Gesicht, der Körperbau – für einen Augenblick erkenne ich in ihm den Hippie, mein Opfer, den Mann, der doch angeblich tot sein soll. Mein Gehirn muss mir gerade einen bösen Streich spielen.
Der Schrecken währt nicht lange. Nach einer kurzen Untersuchung verlässt der Arzt den Raum wieder. Beamte kommen und führen mich zur Kleiderkammer. Ich werde fotografiert, mir werden Bettwäsche, Geschirr, Handtücher und ein paar schäbige Klamotten ausgehändigt, dann werde ich weitergeschoben. Wir betreten den Innenhof des Gefängnisses. Ich bekomme eine Ahnung, wie groß die Anstalt ist. Um den Hof herum befinden sich die Gebäude mit den vergitterten Zellenfenstern. Es ist ziemlich laut. An zahlreichen Fenstern stehen Insassen und unterhalten sich in allen möglichen Sprachen. Es gibt offenbar jede Menge Ausländer hier.
Wir gehen nur ein kurzes Stück über den Hof bis zum benachbarten Haus. Das also ist das Gebäude für die U-Haft. Im Eingangsbereich sitzen zwei Beamte hinter Panzerglasscheiben. Außer ihnen ist auf dem Flur niemand zu sehen. Sie nehmen mich in Empfang.
«Legen Sie Ihre Sachen erst einmal auf den Boden und kommen Sie mit. Der Hausleiter will Sie kennenlernen.»
Wir gelangen in einen Nebenflur, auf dem sich offenbar nur Büros befinden. Zellen gibt es hier im Erdgeschoss wohl nicht. Der Beamte klopft an eine Tür: «Herein!», ruft jemand von drinnen.
Wir folgen der Aufforderung. Der Hausleiter – er trägt Zivilkleidung – blickt mich kurz an, bleibt aber hinter seinem Schreibtisch sitzen, gibt mir nicht die Hand. Ich soll auf der anderen Seite Platz nehmen, während der Beamte in der Tür stehen bleibt. Meine Akte liegt auf seinem Schreibtisch, der Hausleiter will aber auch meinen Haftbefehl sehen.
«Das ist ein krasses Verbrechen, das Sie da begangen haben», sagt er. «Kommen Sie damit halbwegs klar? Oder muss ich mir Sorgen machen, dass Sie sich hier etwas antun?»
«Nein, müssen Sie nicht», antworte ich. Ich habe absolut keine Lust, mich jetzt hier auf irgendein Gespräch einzulassen. Ich will einfach nur so bald wie möglich allein sein.
«Ich empfehle Ihnen, den anderen Insassen nicht zu erzählen, dass Sie jemanden getötet haben. Das könnte für Probleme sorgen.»
Ich verstehe nicht, was er damit meint, frage aber nicht nach. Glaubt er etwa, ich wollte mit meiner Tat angeben?
Jetzt spricht er mich auch noch auf meine politische Einstellung an. «Es gibt hier zahlreiche ausländische Gefangene – können Sie mir garantieren, dass es da keine Auseinandersetzungen gibt?»
«Es wäre auf jeden Fall besser, wenn ich nicht so viel Kontakt mit Ausländern hätte», erwidere ich.
Er kommentiert das nicht weiter. Ich habe keine Ahnung, ob ihm meine Aussage passt oder nicht. Er hat mich schließlich gefragt, also musste er mit dieser Antwort rechnen.
«Damit haben wir für das Aufnahmegespräch alles geklärt. Die anderen Insassen haben schon Einschluss, und Sie werden jetzt auch in Ihren Haftraum gebracht. Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie sich an die Beamten wenden.»
Der für mich zuständige Aufseher hilft mir, meine «Haftausstattung» in die zweite Etage zu bringen. Genau wie im ersten Stockwerk befinden sich dort vier Stahltüren. Er schließt eine auf, und wir betreten einen Flur. Auch dort: ein Büro hinter Panzerglas. Nach ein paar Schritten erreichen wir meine Zelle. Der Raum ist winzig, neben der Tür befindet sich ein abgetrennter Bereich mit Toilette und Waschbecken, sonst sehe ich ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl, einen Schrank und ein kleines Regal über dem Bett.
Der Beamte weist mich auf einen kleinen Alarmknopf an der Wand hin. «Das ist die Ampel. In Notfällen – aber wirklich nur in Notfällen – können Sie den Knopf drücken, dann kommt Hilfe. Gleich bringt Ihnen meine Kollegin Ihr Abendbrot. Morgen ist Aufschluss um sechs Uhr. Gute Nacht.»
Dann geht er und verriegelt von außen die Tür.
Jetzt bin ich mit mir selbst allein. Es ist immer noch nicht still in meinem Kopf, dieser Tag hat mir keinen einzigen Moment Ruhe gegönnt. Von jetzt auf gleich habe ich den Boden unter den Füßen verloren. Ich bin kein Skinhead mehr, ich bin ein Verbrecher in Anstaltslumpen. Dieses eine Wort aus dem Mund des Richters pocht wie ein böses Mantra gegen meine Schädeldecke: «Totschlag, Totschlag, Totschlag!»
Der Tag ging so schnell vorbei, dass ich gar keine Zeit hatte, irgendwelche von diesen furchtbaren Dingen zu verarbeiten, vor denen ich nun nicht mehr flüchten kann. Wie konnte alles so gründlich danebengehen? Vor...