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Die Macht der Fürsorge

Für eine gemeinsame Zukunft. Wissenschaft und Buddhismus im Dialog mit dem Dalai Lama

AutorKate Karius, Matthieu Ricard, Tania Singer
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783426454800
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Ein inspirierender Ratgeber für alle die wissen möchten, wie wir unsere Welt gemeinsam besser machen können. Der bekannte Buddhist Matthieu Ricard und die Empathie-Forscherin Tania Singer sind Herausgeber dieses wissenschaftlichen Ratgebers. Dieser fasst die Mind & Life Conference 2016 in Brüssel zusammen, die unter der Schirmherrschaft des Dalai Lama zum Thema 'Fürsorge und Macht' stattfand. Im Mittelpunkt steht die Fragestellung, welche Forschungsergebnisse heute dazu beitragen können, eine bessere gemeinsame Zukunft zu gestalten und das Überleben der Menschheit zu sichern. 19 weltweit bekannte Wissenschaftler und Buddhisten berichten über ihre jeweiligen Forschungsbereiche und machen Vorschläge für konkretes Handeln. Dabei wird auf faszinierende Weise deutlich, welche Rolle Fürsorge in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gespielt hat, wie sie das Überleben im Tierreich sichert, welchen Einfluss sie auf die neuronalen Verknüpfungen in unserem Gehirn hat und auch aus Ökonomie, nachhaltigem Handeln und globaler Verantwortung nicht mehr wegzudenken ist. Jeder Artikel wird vom Dalai Lama kommentiert, der die Relevanz verdeutlicht: ein inspirierender Brückenschlag von Buddhismus und Wissenschaft, der konkrete Maßnahmen aufzeigt, was jeder Einzelne tun kann, um einen sinnvollen Beitrag in dieser Welt zu leisten.

Matthieu Ricard arbeitete als Forscher auf dem Gebiet der Molekularbiologie, ehe er seine Berufung zum Buddhismus erkannte. Seit 25 Jahren lebt er als buddhistischer Mönch in den tibetischen Klöstern des Himalaya. Er übersetzt Werke aus dem Tibetischen und ist der offizielle Französischübersetzer des Dalai Lama.

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Leseprobe

2. Die transformative Kraft der Erziehung


Sarah Blaffer Hrdy

Eure Heiligkeit, ich würde hier gern die transformative Kraft der Erziehung diskutieren. Dabei werde ich ihren Beitrag an Prozessen darlegen, die dazu führten, dass wir im Verlaufe der Evolution seit unseren Vorfahren, den Menschenaffen, bis zu unserer Gattung Homo sapiens immer größeres Interesse daran entwickelten, was andere denken und fühlen. Auch möchte ich dabei darauf eingehen, warum dieses Interesse bei uns größer ist als bei den anderen uns nah verwandten Menschenaffen, von denen Frans de Waal gerade berichtet hat. Gleichzeitig werde ich auf die Frage eingehen: »Wie können wir die Erkenntnisse der evolutionären Anthropologie hinsichtlich der Ursprünge des Menschen nutzen, um die Mächtigen dieser Erde dazu zu ermutigen, dass sie fürsorglicher handeln?«

Fürsorge bei unseren Vorfahren


Große Menschenaffen wie die Schimpansen stammen von den gleichen direkten Vorfahren ab wie wir, und so sind wir ihnen sehr ähnlich. Wie bei den Menschen haben die Schimpansenmütter eine enge Bindung zu ihren Kindern, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Nach der Geburt lässt die unglaublich besitzergreifende Mutter ihr Baby nicht für einen einzigen Augenblick aus ihren Armen – weder Tag noch Nacht –, und das für Monate (siehe Abbildung 2.1). Umgekehrt ist das Jungtier so an sie gebunden, als würde sein Leben von ihr abhängen, was zweifelsohne auch der Fall ist. Eine Schimpansin säugt ihr Kind für etwa fünf Jahre, doch sobald es abgestillt ist, sorgt das Junge sofort selbst und ohne Hilfe von anderen für seine Nahrung.

Abbildung 2.1: Nach der Geburt hält die sehr beschützende und besitzergreifende Schimpansenmutter ihr Kind monatelang in direktem Hautkontakt (Foto: Jutta Hof).

Bei Stämmen, die heute noch als Jäger und Sammler leben und die ihre Kinder noch immer so erziehen, wie dies wohl unsere Vorfahren im Pleistozän taten, ist dies anders: Ihre Mütter erlauben den Stammesmitgliedern nicht nur, ihre Neugeborenen zu halten, sie ermutigen sie sogar dazu (siehe Abbildung 2.2). Das Kind bleibt viele Jahre von der Mutter und anderen Mitgliedern der Gemeinschaft abhängig.[9]

Abbildung 2.2: Diese Mutter aus einem Jäger-und-Sammler-Stamm übergibt ihr gerade neugeborenes Baby ihrer eigenen Mutter, die seine Kopfhaut massieren möchte. Die anderen versammelten Stammesmitglieder warten derweil darauf, ihrerseits das Baby halten zu können (Foto: Marjorie Shostak/Anthro-Photo).

Dieser ausgesprochen auffällige Unterschied kommt daher, dass eine Schimpansenmutter den anderen Erwachsenen in ihrem Umfeld nicht trauen kann, da diese ihrem Kind möglicherweise Schaden zufügen könnten, während sich Mütter aus Jäger-und-Sammler-Kulturen normalerweise auf ihre Gemeinschaft verlassen können. Überdies weiß die Jäger-und-Sammler-Mutter, dass die Hilfe der anderen für das Überleben ihres Babys unverzichtbar ist. Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich sind Mütter von entscheidender Wichtigkeit, doch genau wie bei diesem afrikanischen Sammlerstamm verbrachten die Babys unserer Vorfahren einen Großteil ihres ersten Lebenstages in den Armen der »Ersatzmütter«, also von anderen Frauen oder Männern der Gemeinschaft (siehe Abbildung 2.3).

Abbildung 2.3: In dieser bildlichen Rekonstruktion des vor zwei Millionen Jahren in Afrika lebenden Homo erectus gibt eine Mutter ihr Baby einer Ersatzmutter, in diesem Fall einem älteren Geschwister (Zeichnung: Viktor Deak/Copyright SBH Lit).

Elternschaft bei Jägern und Sammlern: Hilfe von anderen überlebensnotwendig


Ältere Geschwister, Großmütter, Väter, Tanten, Cousins und auch nicht verwandte Frauen können die Funktion einer Ersatzmutter übernehmen. Diese andere Frau stillt dann möglicherweise kurz das fremde Baby, sofern sie nicht gerade ihr eigenes säugt. Babys von Jägern und Sammlern werden früher als Affen abgestillt, und schon kurz davor beginnen die Ersatzmütter damit, das Kind mit vorgekauter Nahrung und anderen Leckereien an feste Nahrung zu gewöhnen.

Diese Hilfe von außen ist fürs Überleben entscheidend: Anthropologische Untersuchungen bei Jägern und Sammlern haben gezeigt, dass mit der Zahl der Pflegeeltern, die die Kinder als Einjährige haben, auch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie das vierte Lebensjahr erreichen. Dabei überrascht es nicht, dass Kinder mit den meisten Betreuern am ehesten überleben: Die Nachkommen von kaum einem anderen Säugetier wachsen so langsam auf wie die des Menschen, und bei keinem ist die Aufzucht hinsichtlich des Nährstoffbedarfs aufwendiger. Sobald sie abgestillt sind, versorgen sich andere Affen selbst, doch der menschliche Nachwuchs bleibt für fünfzehn bis zwanzig Jahre abhängig und muss von anderen Gruppenmitgliedern zumindest teilweise ernährt werden.[10]

Hilfe von außen, um den hohen Nährstoffbedarf zu befriedigen


Ein Mensch konsumiert von der Geburt bis zu dem Zeitpunkt, an dem er so viel produziert oder sammelt, wie er isst, dreizehn Millionen Kalorien, und das, obwohl Kinder von Jägern und Sammlern früher abgestillt werden als Affen. Die Intervalle zwischen den Geburten sind kurz, was bedeutet, dass eine Mutter aller Wahrscheinlichkeit nach, lange bevor ihr älteres Kind unabhängig ist, wieder schwanger wird oder ein weiteres Kind stillt.[11] Und diese mehrfachen Anforderungen sind größer als das, was eine Mutter allein leisten kann.[12] Im Lauf des Pleistozäns wuchs aufgrund des immer größer werdenden menschlichen Gehirns der Nahrungsbedarf, und so wurden die Herausforderungen, den immer langsamer reifenden Nachwuchs mit seinen Sapiens-Gehirnen zu ernähren, stets größer. Für das Wachstum und den Unterhalt des Gehirns bedarf es viel Nahrung. In zwei Millionen Jahren verdoppelte sich sein Volumen von 450 Kubikzentimetern bei unseren letzten gemeinsamen Vorfahren, den Menschenaffen und den Australopithecinen,[13] auf über 900 Kubikzentimeter.

Als der Homo sapiens die Manege der Welt betrat, fassten unsere Gehirne bereits etwa 1350 Kubikzentimeter grauer Materie. Obendrein hat die Wissenschaft gerade herausgefunden, dass der Stoffwechselbedarf eines menschlichen Gehirns erst im Alter von vier bis fünf Jahren seinen Höhepunkt erreicht, also dann, wenn ein Jäger-und-Sammler-Kind abgestillt wird.[14] Die Nahrung, deren es bedurfte, diese großen Gehirne zu versorgen, musste von irgendwoher kommen, und dies ist der Grund, warum es unverzichtbar war, dass neben der Mutter auch andere Gruppenmitglieder bereit waren, dazu beizutragen.

Die Bedeutung von gemeinsamer Fürsorge und Versorgung


Die Schwierigkeiten bei der Versorgung von abhängigen Kindern wurden durch das pleistozäne afrikanische Klima, das von unvorhersehbaren Regenfällen und wiederkehrenden Dürren gekennzeichnet war, noch verstärkt. Man versuchte, den Fleischanteil in der Nahrung zu erhöhen, aber Jagd ist keine sonderlich zuverlässige Nahrungsquelle. Studien an modernen afrikanischen Jägern und Sammlern zeigen, dass Jäger nur punktuell ausreichend Nahrung erlegen und die Männer nur 40 Prozent der benötigten Kalorien beitragen. Die übrigen 60 Prozent der Kalorien werden von Frauen gesammelt, und auf diese pflanzliche Nahrung ist größerer Verlass. Ein beträchtlicher Anteil des gemeinsamen Bedarfs wird auch von Großmüttern und anderen älteren Frauen beigesteuert, die nicht mehr im gebärfähigen Alter sind (siehe Abbildung 2.4).[15]

Abbildung 2.4: Eine 62-jährige Großtante des Hazda-Stammes bewegt einen großen Stein, um an die darunterliegenden stärkehaltigen Wurzeln zu gelangen. Ihre eigenen Kinder sind alle gestorben, und sie sammelt Essen für die Kinder ihrer Schwester (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von James O’Connell und Kristen Hawkes).

Ich stimme der These der Anthropologin Kristen Hawkes und ihrer Kollegen zu: Die plausibelste Erklärung dafür, warum Frauen im Gegensatz zu den Weibchen der Affen noch Jahrzehnte nach der Menopause leben, ist, dass sie bei unseren Vorfahren eine wichtige Funktion bei der Versorgung und besonders bei der Bereitstellung von Nahrung für ihre jüngere Verwandtschaft spielten. Die Tatsache, dass Frauen nun nach der Menopause länger lebten, war schlicht eine der evolutionären Auswirkungen der menschlichen Entwicklung und der geteilten Fürsorge und Versorgung. Doch die Botschaft ist klar: Hätten die Mütter keine solch große Hilfe gehabt, hätten die Menschen auf Darwins Erde nicht entstehen können.

Säuglinge: konditioniert, darauf zu achten, was andere vorhaben


Meiner Überzeugung nach hatte die Tatsache, dass die Mütter beim Großziehen ihrer Kinder auf Hilfe angewiesen waren, tief greifende Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Sie mussten zunehmend berücksichtigen, wie viel soziale Unterstützung man ihnen zukommen lassen würde. Dies hatte ebenfalls einen Einfluss auf die Entwicklung...

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