»Gottes-Dienst«: Der Islam prägt das Leben im Alltag
»Der Islam strukturiert den Alltag eines Muslim« sagt Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime. Was der Satz für gläubige Muslime bedeutet, erklärt der lauteste und wohl politisch wirksamste muslimische Frömmigkeitsverstärker der Republik so: »Islamkonformes Leben« ist »in weit gefasstem Verständnis« ein »Gottes-Dienst«, der »nicht nur religiöse Handlungen im engeren Sinne umfasst, sondern eben auch die tägliche Arbeit (Beruf), das Streben nach Wissen (Schule und Studium). Ja, selbst der Dienst an der Familie und die Liebe des Mannes zu seiner Frau oder die der Frau zu ihrem Mann ist im Islam Gottesdienst (Ibada).«1 Am Ende seines Buches Was machen Muslime an Weihnachten? dankt Mazyek deshalb auch »in erster und letzter Linie« seinem »Herrgott«: »Gott ist mir näher als meine Halsschlagader (Sure 50 : 16).« Erst in den nächsten Ansätzen folgen dankende Verbeugungen vor seinen »Eltern« und seiner »Familie, insbesondere meiner Frau«. Die Rangfolge bei einem deutschstämmigen Autor wäre eine andere: Zuerst der Dank an die Ehefrau oder die Familie. Ein Dank an Gott kommt fast nie vor.
Unantastbar und unveränderbar: Koran und Sunna als Wegweiser
Der Koran ist das heilige Buch des Islam und als Gottes Wort der zentrale Wegweiser für alle Gläubigen. In der Sunna sind die traditionellen Handlungsweisungen Mohammeds in Form von Berichten überliefert. Zusammen legen die beiden Schriften die Leitlinien für Muslime in allen Lebenslagen fest, in privaten wie öffentlichen, spirituellen wie gesellschaftlichen.
Für viele Muslime sind die Botschaften des Korans unantastbar. Dieser Dogmatismus ist nach einer Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) unter Muslimen verbreitet. Für 57 Prozent gibt es nur eine bindende Interpretation von Glaubensregeln. Diese Einstellung lässt wenig Raum für Liberalisierung und Modernisierung – und damit auch für Integration. Der Koran taugt jedoch nicht in allen Lebenslagen als Wegweiser für klare Orientierungen. Zwar gilt die Heilige Schrift als unveränderbar, aber sie ist zugleich in hohem Maße widersprüchlich. Für den Politologen Hamed Abdel-Samad enthält der Koran zum Beispiel zwei »Botschaften«: die der »Liebe« und die des »Hasses«.2 IS-Kämpfer berufen sich ebenso auf den Koran wie Reformmuslime. Der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide etwa versteht den Islam als eine Religion der Barmherzigkeit. Geradezu virtuos gelingt es den verschiedenen Strömungen im Islam, für sie unangenehme oder widersprüchliche Stellen im Koran zu verschweigen, nicht wortgetreu zu interpretieren oder als nicht zeitgemäß zu ignorieren. Auch in Deutschland legen Verbände, Moscheevereine und Imame den Koran in bunter Vielfalt aus. Am Ende hat wohl »jeder Muslim seine eigene Interpretation des Koran«, wie der Ethnologe Wulf Köpke anmerkt.
Was bedeutet diese Diversität unter Muslimen im Verhältnis zu Nichtmuslimen im Alltag? Sie ist für die politische und gesellschaftliche Integration und Partizipation der Muslime eine hohe Hürde und häufig Keim für innermuslimische Konflikte. Nach elf Jahren Islamkonferenz sind die Akteure so zerstritten wie am Anfang, was ihre Gesprächsfähigkeit für die Politik erheblich einschränkt und die Legitimität ihrer Forderungen mindert. Wie diese religiöse und ethnische Vielfalt zu einem Integrationshindernis werden kann, zeigt beispielhaft das zähe, fast einjährige Ringen von Bezirksamt, Schulen und Moscheevereinen in Berlin-Neukölln um eine Handreichung für den Umgang mit dem Ramadan in Schulen. Am Ende haben ganze drei von 20 Moscheevereinen im Stadtteil die Empfehlungen unterstützt.3 Bezeichnend auch der Zwist um die Ramadan-Friedensdemonstration »Muslime & Freunde gegen Gewalt und Terror« am 17. Juni 2017.4 Die DITIB und der Islamrat als konservative Verbände haben eine Teilnahme ebenso abgelehnt wie die liberalen Muslime Necla Kelek und Abdel-Hakim Ourghi. Ob es verletzte Eitelkeit wie bei DITIB ist – der größte und mächtigste Verband war vorher nicht gefragt worden – oder bei Kelek der Gebrauch eines falschen Wortes – »Missbrauch einer Religion« muss offen bleiben. Kompromisse fallen Muslimen offensichtlich schwer.
Haribo ist haram: Erlaubtes und Verbotenes im Islam
Seit Jahren backt Frau Germer, Lehrerin an der Schule Kerschensteinerstraße in Hamburg-Harburg, in der Vorweihnachtszeit Knusperhäuschen für Schüler der ersten Klasse und belebt damit eine alte Tradition, die auf das Märchen »Hänsel und Gretel« zurückgeht: »Knusper, knusper knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen.« Dekoriert hat sie die kleinen Lebkuchenhäuser früher mit Haribo-Gummibärchen. Eines Tages erklärten türkische Eltern ihr, dass Haribo-Gummibärchen mit Gelatine hergestellt werden, die Schweinefleisch enthält, und baten sie, diese nicht mehr zu benutzen, weil sie nach ihrer Religion haram seien, verboten. Nach dieser Beschwerde hat sie die muslimischen Eltern aufgefordert, sich die Dekoration für die Knusperhäuschen selbst zu besorgen, was sie auch getan haben. Inzwischen gehört es zum Grundwissen von Grundschullehrerinnen, dass sie Gummibärchen von Katjes oder aus einem türkischen Supermarkt mit Halal-Siegel kaufen müssen, wenn sie die Essenvorschriften religiöser Muslime einhalten wollen.
Der Islam ist eine Religion, die Gläubigen Verhaltensregeln an die Hand gibt, die festlegen, was halal (erlaubt) und was haram (verboten) ist. Diese Vorschriften sollen Muslime täglich in ihrem Glauben unterstützen und festigen. Wenn sie diese befolgen, bringen sie dadurch Gehorsam gegenüber Gott zum Ausdruck und bekräftigen, dass sie zur Umma gehören, der Glaubensgemeinschaft der Muslime. Für einen guten Muslim reicht es nicht, privat spirituell zu sein. Er muss seinen Glauben auch nach außen dokumentieren – und zwar in allen Lebensbereichen: durch das Einhalten von Kultvorschriften wie Beten oder Fasten und das Befolgen von Regeln für das gesellschaftliche und kulturelle Leben: Essgewohnheiten, Kleidungsstil, Hygiene, Gefühlsleben, Sexualität, Kunst, Freizeit, Finanzen und soziales Engagement.5 Nach Schätzungen von Experten enthält der Koran 200 bis 300 religiöse, moralische und soziale Vorschriften. Wer es als Muslim besonders genau wissen will, kann sich ein Buch über Halal und Haram kaufen. Auf 160 Seiten kann er dann studieren, was er bei der »Schlachtung und Verzehr von Tieren«, bei »Rauschmitteln«, »Familie und Haushalt« und »Intimbereich / Schambereich« zu beachten hat.6
Diese Regeln werden in der Praxis selektiv befolgt – gestaffelt nach dem Grad der Religiosität. Für säkulare Muslime spielen sie fast keine Rolle, für Gläubige prägen sie den Alltag.
Für Hussein vom Neuköllner Albrecht-Dürer-Gymnasium ist zum Beispiel ein »wichtiger Punkt, was erlaubt und verboten ist«. Seine Klassenkameradin Sueda fastet, weil sie ein »Muslim ist und das machen muss«. Merve vom Hamburger Kurt-Körber-Gymnasium ist überzeugt, dass die »Religion vollkommener wird und man eine neue Spiritualität erreicht, wenn man die Gebote Gottes verwirklicht«. Rauchen, Alkohol und Schweinefleisch stehen bei den meisten muslimischen Schülern auf dem Index. In anderen Bereichen gehen viele Schüler lockerer mit der Gut-oder-Böse-Welt des Korans um.
Zum Teil skurril anmutende Orientierungsschwierigkeiten tauchen bei Produkten und Verhaltensweisen auf, die es zu Mohammeds Zeiten noch nicht gab. Can Yörenc, Kulturmittler an der Schule Kerschensteinerstraße, wurde jüngst von einer Schülerin gefragt, ob Nagellack halal oder haram sei. Ein anderer Schüler wollte wissen, ob er während des Fastens im Ramadan einen Asthmaspray benutzen dürfe. In beiden Fällen gab es nach Studium des Korans beziehungsweise Rücksprache mit einem Imam grünes Licht. Geklärt ist mittlerweile auch die lange offene Frage, ob Tattoos islamisch sind. Sie sind unislamisch. »Mit Tattoos ist man nicht rein, weil Allah uns geschaffen hat, wie wir sind. Tattoos bedeuten sich einzumischen, in das was er geschaffen hat«, erläutert Hussein.
Die Einteilung der Welt in Gut und Böse im Islam ist eine Wurzel für ein Bündel von Wert- und Religionskonflikten, die der kulturellen Integration der Muslime im Wege stehen: Sie spielt eine Rolle in der »Angstpädagogik« (Ahmad Mansour), bei Auseinandersetzungen innerhalb der muslimischen Community, bei der Missionierung von Islamisten und Salafisten sowie Kontroversen zwischen Muslimen und Arbeitgebern am Arbeitsplatz.
In vielen Schulen registrieren Schulleiter und Lehrer, wie konservative, islamistische und salafistische Schüler Druck auf liberale Mitschüler ausüben, sich an die Kult- und Verhaltensregeln zu halten, und sich dabei zu Sittenwächtern aufspielen. Da kriegt eine Schülerin zu hören, dass sie eine »Schlampe sei, wenn sie nicht fastet oder kein Kopftuch trägt«. »Sie beobachten und kontrollieren sich gegenseitig, ob jemand ein guter oder schlechter Muslim ist«, fällt dem Schulleiter der Neuköllner Otto-Hahn-Schule André Koglin immer wieder auf. In einem Hintergrundvermerk mit dem Titel »Religiös gefärbte Konfliktlagen an Hamburger Schulen« klagten sieben Brennpunktschulen im Dezember 2013, dass »Mädchen und Frauen aufgefordert werden, sich religiös zu kleiden«. In einem nordhessischen Jugendzentrum tauchten bei Jungen und Mädchen immer öfter fragwürdige Rollenzuweisungen auf.7 Mahnungen wie »Bedecke dich,...