Die Achtsamkeit des Herzens
Achtsamkeit ist gelebte Liebe.
Jon Kabat-Zinn
Wir leben in einer Welt voller Wunder, Geheimnisse und Schönheit. Doch oft fühlen wir uns von dieser Welt getrennt und sind gar nicht dazu in der Lage, die Fülle des Lebens wahrzunehmen und auszukosten. Hektisch und unachtsam jagen wir durch unseren Alltag, sorgen uns um die Zukunft oder sind in Gedanken in der Vergangenheit und kaum je zu Hause im jetzigen Augenblick, in dem unser Leben stattfindet. Der tägliche Stress und unsere mangelnde Achtsamkeit sind Ursachen dafür, dass wir den Kontakt zu unserem Herzen verlieren. Wir meinen, keine Zeit zu haben, um uns um dessen Bedürfnisse zu kümmern. Und so wird dieser Stress auch zu einer der Hauptursachen für Herzerkrankungen.
Was aber können wir tun, um zu mehr Ruhe und Gelassenheit zu finden? Wie können wir wieder in unmittelbaren Kontakt mit unserem Leben kommen? Als Antwort darauf griff Zen-Meister Ikkyu einst zum Pinsel und schrieb nur drei Worte: „Achtsamkeit, Achtsamkeit, Achtsamkeit.“ In allen Weisheitstraditionen gilt die Achtsamkeit als der Ausgangspunkt für ein erfülltes Leben. Denn sie ist es, die uns genau dorthin führen kann, wo wir leider viel zu selten sind: in unser Leben im Hier und Jetzt. Im Augenblick anzukommen heißt, im eigenen Leben anzukommen, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen, ganz da zu sein mit allen Sinnen und ganz präsent zu sein mit Körper und Geist. Mittels der Achtsamkeit lernen wir, auf die vielen Dinge in unserem Alltag aufmerksam zu werden, die wir meist als selbstverständlich hinnehmen.
Eine kleine Weisheitsgeschichte
Ein Schüler fragte einmal seinen Meister, warum dieser immer so ruhig und gelassen sein könne. Der Meister antwortete: „Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich.“
Der Schüler fiel dem Meister in Wort und sagte: „Aber das tue ich auch! Was machst du darüber hinaus?“
Der Meister blieb ganz ruhig und wiederholte wie zuvor: „Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich.“
Wieder sagte der Schüler: „Aber das tue ich doch auch!“
„Nein“, sagte der Meister. „Wenn du sitzt, dann stehst du schon. Wenn du stehst, dann gehst du schon. Und wenn du gehst, dann bist du schon am Ziel.“
Die Grundlagen der Achtsamkeit basieren auf 2500 Jahren buddhistischen Geistestrainings. Vormals in der Abgeschiedenheit buddhistischer Klöster praktiziert, hielt die Achtsamkeitspraxis in den vergangenen zwei Jahrzehnten rasanten Einzug in das westliche Gesundheitssystem. Dies ist zu großen Teilen das Verdienst von Dr. Jon Kabat-Zinn, der die Methode der „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (aus dem Englischen: Mindfulness Based Stress Reduction, kurz: MBSR) in den 1970er-Jahren in einer Klinik in Massachusetts entwickelte. Das Selbsthilfeprogramm, das er in seiner Arbeit mit Schmerzpatienten und Menschen, die an stressbedingten Krankheiten litten, anwendete, basiert auf bewährten Meditationsformen und Körperübungen aus der buddhistischen Tradition sowie der Yoga-Praxis und verbindet diese mit modernen psychologischen und naturwissenschaftlichen Verfahren. Gerade diese Verbindung von jahrtausendealten Weisheitstraditionen mit neuesten medizinischen Erkenntnissen macht die Methode der „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ so effektiv. Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegten in den vergangenen Jahren deren stressreduzierendes Potenzial ebenso wie deren gesundheitsfördernde Wirkung u. a. auf Herz-Kreislauferkrankungen und Bluthochdruck. In seinem Buch Gesund durch Meditation. Das große Buch der Selbstheilung schildert Jon Kabat-Zinn die Grundlagen und Methoden des MBSR, dessen maßgeblicher Effekt darin besteht, wieder in direkte Fühlung mit dem Körper, den Gedanken, Gefühlen und Empfindungen zu kommen.
Wie aber gelingt uns dies, wenn wir durch den täglichen Stress und Zeitdruck und länger andauernde Belastungen den Zugang zu unseren inneren Kräften verloren haben? Wie können wir wieder mit den eigenen Ressourcen und dem heilsamen Potenzial, das in uns allen schlummert, in Verbindung kommen?
Hierfür ist es wichtig, die Stressauslöser im eigenen Leben erkennen und deren Alarmsignale wahrnehmen zu können. Oft sind es gar nicht die sogenannten kritischen Lebensereignisse, die den größten Stress in unserem Leben auslösen, sondern vielmehr die alltäglichen, immer wiederkehrenden Probleme, die mit Zeitnot, Termindruck, Hektik, zu hohen Anforderungen oder allgemeiner Reizüberflutung gekoppelt sind. Stress zeigt sich meist zuerst im Körper, etwa in Verspannungen, Bluthochdruck, Herzbeschwerden, chronischen Schmerzen oder einer Schwächung des Immunsystems. Die Übungen der Achtsamkeit ermöglichen uns eine verfeinerte Wahrnehmung unserer Körperreaktionen ebenso wie unserer stressverschärfenden Gedanken und Gefühle. Wenn wir die Stressfaktoren erst einmal erkannt haben, können wir gezielt entspannendes und gesundheitsförderndes Denken und Verhalten einüben.
Viele Achtsamkeitsübungen sind deshalb darauf angelegt, den Körper bewusst zu erleben und wahrzunehmen: durch die Beobachtung der Atembewegungen in der Meditation, durch die gelenkte Körperwahrnehmung im Body-Scan, durch Körperübungen aus dem Yoga und Qi Gong, durch die Alltagspraxis wie achtsames Essen, achtsames Duschen und Gehmeditationen. Die Übungen stärken die Verbundenheit von Körper, Geist und Herz. So finden wir mehr und mehr zu dem, was in der hektischen und reizüberfluteten Welt der Gegenwart so schwer zu erlangen ist und wessen wir zugleich so dringend bedürfen zu innerer Balance, Gelassenheit und Ruhe.
Denn auch wenn wir die Wellen des Lebens, die in Form von Krankheit, Verlust, Stress oder anderen schmerzlichen Erfahrungen auf uns zurollen, nicht aufhalten können, so können wir doch lernen, auf ihnen zu surfen, anstatt kopfüber in ihnen unterzugehen. In dem Achtsamkeitsbuch Die Wellen des Lebens reiten, das ich mit der Begründerin des „Instituts für Achtsamkeit und Stressbewältigung“, Dr. Linda Lehrhaupt, herausgab, haben wir hierfür viele praktische Übungen und Tipps zusammengetragen. Denn es braucht Übung und es braucht Beharrlichkeit. Wer ein guter Surfer werden will, muss aufs Brett steigen und sich den Wellen stellen. Anfangs werden einen die Wellen zwar immer wieder vom Surfbrett fegen, doch wer sich nicht entmutigen lässt, wird schließlich Meister darin, auch hohe Wellen mit Geschick und Gelassenheit zu nehmen. Er wird dabei auch lernen, sich Ruhezeiten am Strand zu gönnen und sich mitunter absichtslos im Wasser treiben zu lassen. Das Gleiche gilt für ein achtsames Leben. Stressforscher weisen darauf hin, dass auf jede Stress- und Anspannungsphase eine Erholungs- und Entspannungsphase folgen muss, damit der Organismus nicht erkrankt. Je länger eine Stressphase dauert, desto länger brauchen wir auch, bis wir uns davon erholen und wieder leistungsfähig und motiviert in die nächste Stressphase gehen können. Der natürliche Rhythmus des Herzens von Anspannung (Systole) und Entspannung (Diastole) erinnert uns daran, auch in unserem Leben einen gesunden Rhythmus von Aktivität und Passivität zu leben. Herzerkrankungen können Ausdruck dafür sein, dass dieses Wechselspiel der Aktivitäts- und Ruhephasen längere Zeit nicht gewährleistet war.
Deshalb gilt es, sich im Alltag immer wieder achtsam dem eigenen Herzen zuzuwenden, denn oft leben wir gleichsam abgekoppelt von seinen Bedürfnissen. Wir reagieren auf das, was auf uns einströmt. Wir funktionieren. Doch wir leben nicht bewusst. Reflektieren Sie beim nächsten Mal, wenn Sie sich gestresst fühlen, welche Wirkung dies auf Ihr Herz hat. Halten Sie für einen Moment inne und befragen Sie Ihr Herz: „Wie geht es dir? Was brauchst du? Was möchtest du mir sagen?“
Die folgende Herzvisualisierung kann Ihnen dabei behilflich sein, in Kontakt mit Ihrem Herzen zu kommen und mehr über seine Befindlichkeit zu erfahren. Schließen Sie hierfür die Augen und visualisieren Sie Ihr Herz. Betrachten Sie es mit Ihrem inneren Auge. Wie sieht es aus? Welche Farbe hat es? Ist es groß oder eher klein? Sieht es lebendig und gesund aus oder zeigt es Zeichen der Schwäche? Pulsiert es kräftig oder pocht es zaghaft? Wie ist seine Oberfläche beschaffen? Hat es Risse, offene Stellen, Wunden? Zeigt es Bruchstellen? Welche Gefühle erweckt es in Ihnen, Ihr Herz zu sehen?
Vielleicht nehmen Sie nach der Übung Buntstifte zur Hand und malen Sie das Herz, wie es sich Ihnen jetzt gezeigt hat. Wiederholen Sie diese Übung in den nächsten Wochen. Sie werden sehen, dass sich Farbe und Form Ihres Herzens verändern werden.
Mit solch einfachen, doch sehr wirksamen Übungen erhalten wir einen unmittelbaren und vibrierenden Draht zu unserem Herzen und machen uns bereit, seine Botschaft zu empfangen. Lassen Sie es nicht zu, dass die Verbindung zu Ihrem Herzen abreißt! Das geschieht in unserem täglichen Trott nur allzu schnell. Und als Folge davon verschließt sich unser Herz.
Indem wir unsere Sinne ganz bewusst mit dem Herzen verbinden, können wir das Leben in bis dahin ungeahnter Intensität erfahren. Wenn wir alle Sinne auf Empfang stellen und das Herz zum Resonanzzentrum unserer Sinneserfahrungen machen, dann lernen wir gleichsam mit dem Herzen zu hören, sehen, riechen, schmecken und zu tasten: den Vogelgesang am Morgen, die ersten Sonnenstrahlen, die heiße Tasse Tee – all dies mit dem...