II. »Und hören nicht auf zu wandern, bis wir gewandelt sind« (Marie Luise Kaschnitz)
1. Wie alles begann
Ist es diese prickelnde Frühe, die mich so stark an »den Weg« erinnert? An einem Sommermorgen kurz vor fünf Uhr inmitten von Gerstenfeldern auf den Sonnenaufgang zu warten? Dasselbe Gefühl von Übermüdung in den Gliedern nach einer viel zu kurzen Nacht, doch mit der Zuversicht, dass ich aus anderen Quellen Kraft schöpfen kann?
Ein leichter Wind treibt die grün-goldenen Halme in fließenden Wellen vor sich her. Dieser matte Glanz eines wogenden Ährenmeeres, wie sehr erinnert er mich an die Wanderungen durch Navarra und Rioja, durch Kastilien und die Meseta in Nordspanien. Der Horizont so weit schwingend, rosig vor duftendem Morgen, die Luft erfüllt von Lerchengesang …
Wie finde ich Worte dafür, wie alles begann? War es eine Sehnsucht in mir, die sich ein Bild formte, ohne dass ich davon wusste? In eigenartiger Verknüpfung »fügte« es sich, dass ich 1985 in einem winzigen Flecken im Herzen der Bretagne einem Harfenbauer in seiner Werkstatt begegnete. Er arbeitete in einem uralten Haus, umrankt von Heckenrosen hinter einem verwilderten Garten. Als ich eintrat, war er über geschwungene Harfenteile gebeugt, durchlichtet von der untergehenden Sonne, die durch das kleine Fenster strahlte. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich wenige Tage später eine seiner Harfen zu mir nehmen würde. Zum Abschied sagte er: »Damit du weißt, wo deine Harfe entstand: Dies winzige Haus hier in Brec’h war im Mittelalter eine Herberge auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Dort siehst Du noch die kleine, romanische Kirche, vielleicht gehörte sie zu einem Kloster hier …« Damals hörte ich zum ersten Mal von diesem Weg und spürte sofort, dass etwas in mir antwortete.
Der Klang der Harfe verstärkte eine innere Sehnsucht in mir, ohne dass ich sie damals genauer beschreiben konnte. Oft spielte ich auf ihr in der Dämmerung oder sogar in der Dunkelheit der Nacht. Ich nannte sie mein »Instrument des Übergangs«. Nach und nach fiel mir auf, dass Engel oft mit Harfen dargestellt werden. Weisen nicht auch sie auf den Übergang in eine andere Dimension hin? Und steht nicht auch der uralte Pilgerweg für ein Sehnen und Suchen der Menschen nach dem »ganz Anderen«, vom frühen Mittelalter bis heute? Galt nicht der überlieferte Traum Karls des Großen vom »Sternenweg« quer durch Europa bis nach Galicien schon vor der Entdeckung des angeblichen Jakobusgrabes im 9. Jahrhundert als Hinweis dafür, dass die zahlreichen Dolmen und Petroglyphen in der Nähe vielleicht auf einen noch viel älteren Initiationsweg hindeuteten?
Es sollte noch Jahre dauern, bis ich auf »den Weg« kam und endlich begann, mich konkret darauf vorzubereiten: Outdoor-Klamotten kaufen, einen passenden Rucksack, Schlafsack und Bergschuhe. Die erste Lektion bezüglich Gewicht: Je leichter, desto teurer. Danach Probewandern.
Kurz vor meinem Aufbruch im April, zwei Stunden vor dem reservierten Flug nach Pamplona, rief meine über 80-jährige Mutter an: Gerade war Leukämie diagnostiziert worden, sie musste sofort ins Krankenhaus. Mit dem gepackten Rucksack und schon in Wanderschuhen fuhr ich zu ihr – und blieb die sechs Wochen, die ich mir für den Weg mühsam reserviert hatte. Ich begleitete sie beim Sterben und sie erlaubte mir diese wichtige Erfahrung als ersten »Pilgerweg«. Auch der Tod ist ein Übergang. Eine kleine Harfe erleichterte es mir, seine archaische Präsenz auszuhalten.
Im Jahr darauf wurde es dann endlich wahr: Ich konnte den Weg beginnen. Plötzlich schien sich alles wie von selbst zu fügen … Hatte ich vorher nach Weggefährten gesucht und mich schließlich mit dem Gedanken abgefunden, ihn auch alleine zu gehen, so fand ich jetzt sogar regelrecht Freude daran. Da hatte mein Mann überraschend einige Zeit frei verfügbar. Er entschloss sich, als Übergangsritual in eine andere Lebensphase ebenfalls den Jakobsweg zu gehen. Ich fühlte mich hin- und hergerissen: Sollte ich ihn abweisen? Sollten wir ein paar Tage versetzt gehen? Aber Vorteile hätte es natürlich auch: Es ist schön, so etwas gemeinsam zu erleben! Nach so langen Jahren des gemeinsamen Weges in der Partnerschaft nun auch äußerlich einen Weg zusammen zu gehen! Sich später daran erinnern zu können! Mein Sicherheitsbedürfnis meldete sich ebenfalls: Wenn etwas auf dem Weg passiert, ist jemand da! Aber konnte es nicht auch Wichtiges verhindern, fragte ich mich gleichzeitig, zum Beispiel, sich wirklich dem Weg alleine und damit viel existenzieller aussetzen zu müssen?
Wir beschlossen, zumindest gemeinsam zum Ausgangspunkt zu fahren, mit diesen Fragen weiter umzugehen und die Lösung dann zu suchen, wenn sie gefordert war. Und so geschah es auch.
2. Hinreise
1. Tag
Paris, Freitag, den 25. 5.
Ich sitze mit Tim an unsere Rucksäcke gelehnt am Quai der Seine in einem Streifen Grünanlage nahe einem Metro-Ausgang. Wir warten notgedrungen eine Weile ab, bis der Nachtzug Richtung Pyrenäen abfährt. In der Nähe tummeln sich einige Obdachlose mit verlottertem Krempel, die Weinflaschen neben sich. Ich schaue plötzlich anders hin. Auch Unbehauste – wenn auch viel extremer, als wir es jetzt sind!
Ich bin noch verwirrt vom Stress der Abreise, der langen Zugfahrt, dem Verkehrslärm um mich herum. Fühle mich auch etwas verunsichert, weil ich bis vor einer Woche noch mit einer schweren Sommergrippe zu kämpfen hatte. Wie werde ich den kommenden Strapazen gewachsen sein? Immerhin bin ich 54 Jahre alt und bisher nicht in längeren Wanderungen erfahren. Die ersten drei Tage sind am anstrengendsten, höre ich Anke und Klaus in mir sagen, die noch älter waren, als sie den Weg gingen. Doch nach und nach komme ich auch innerlich in Paris an. Diese Stadt hat einfach ein Flair, das mich ergreift, auch wenn die Metro alle paar Minuten über die Seine rattert.
Die Packerei hätte mir fast den Rest gegeben. Da orientiere ich mich an maximal 11 Kilo, lege alles auf die Briefwaage, zerbreche mir den Kopf, welches T-Shirt geeigneter ist! Selbst den Griff der Zahnbürste habe ich abgesägt, um Gewicht zu sparen. In die Reiseapotheke nur jeweils ein paar Tabletten von diesem und jenem. Schließlich: Kann ich mir nicht wenigstens 300 Gramm »Weiblichkeit« leisten, eine leichte Seidenbluse, die ein bisschen hübsch ist, statt bei allem nur das Funktionale zu berücksichtigen? Immer wieder dieses innere Verhandeln!
Trotz aller Disziplin komme ich auf 12 Kilo! Dabei habe ich das Gefühl, jetzt aber auch gar nichts mehr weglassen zu können. Als ich es dann im Rucksack verstaut wiege, sind es 14,5 Kilo. Wie das? – Ich habe vergessen, das Gewicht des Rucksacks mit einzubeziehen! Und die Kamera ist auch noch nicht dabei. Und auch nicht der Proviant und die Wasserflasche. Ein kurzer Gang mit Gepäck macht klar: Es ist unmöglich. Ich kann es nicht »er-tragen«. Es müssen mindestens 3 Kilo geopfert werden. Doch ich brauche doch alles, für Kälte, Regen, zum Wechseln. Es darf einfach nicht tagelang regnen. Und nichts mehr mit »300 Gramm Weiblichkeit«, dafür ein Kompromiss: Die Seidenbluse wird zum Schlafanzugoberteil. Auch bei Tim dient die »Ausgeh-Uniform« gleichzeitig zum Schlafen. Pilgermode!
Ja, Sorge drückt sich in Gewicht aus und lastet, nicht nur auf der Seele. Das ist eine weitere Lektion auf diesem Weg. Wie schön, dass Mechthild extra kam und uns verabschiedete. Ihre Herzlichkeit war mir so wichtig. Eine Art Reisesegen.
2. Tag (frühmorgens)
Pau, Samstag, den 25. 5.
Ich habe sogar ein paar Stunden im Liegewagen geschlafen. Hier ist alles verregnet und grau in grau. Von den Pyrenäen ist bisher nichts zu sehen, schade! Mit der altmodischen Zahnradbahn fahren wir hoch zum alten Stadtkern. Der Bäcker hat schon auf und die Croissants sind köstlich. Doch fast hätten wir den Zug nach Oloron-Ste.-Marie verpasst.
3. Von Bergflüssen, wilden Blumen und Nachtigallen
Von Oloron-Ste.-Marie, Südfrankreich, durch die Pyrenäen über den Somportpass nach Jaca, Spanien
2. Tag (später)
Oloron-Ste.-Marie – Sarrance (ca. 20 km), Samstag, den 25. 5.
Als wir gegen acht Uhr in Oloron-Ste.-Marie ankommen, wirkt alles noch neblig-trüb. Vorhin ist ein anderer Rucksackträger in den Bus zum ungefähr 65 Kilometer entfernten Somportpass gestiegen, wie es meistens empfohlen wird. Vielleicht auch ein Pilger. Eine freundliche Postbotin zeigt uns das erste französische Wegzeichen: rot-weiße Querbalken. Wir gehen über die alte Brücke zum Touristenbüro, wo wir die Rucksäcke lassen können, dann zum Nonnenkloster, um uns den Stempel des Ausgangspunktes für unseren Pilgerausweis zu holen. Daneben dann der erste ruhige Ort nach der Hektik der letzten Zeit, die romanische Kirche Ste. Croix.
Als ich eintrete, sehe ich fast gar nichts – doch ich höre leise gregorianische Gesänge im Hintergrund vom Band und die tun mir einfach wohl. Nach und nach wird mir klar: Nach all dem Stress, der Außenorientiertheit und Aufregung vor der Abreise brauche ich jetzt erst einmal ein wenig Zeit für mich alleine, um mich zu sammeln. So sitze ich lauschend und mit geschlossenen Augen in der Kirche im zarten Duft von Kerzen und einem Hauch von Weihrauch und lasse mich tragen von den gleichförmigen Gesängen der Mönche … fast eine Meditation in die Zeitlosigkeit. Lange verweile ich.
Als ich irgendwann aufblicke, sehe ich zu meiner Überraschung in dem dämmrigen Raum all das, was ich anfangs nicht wahrnehmen konnte! Klar, die Augen haben sich adaptiert. Jetzt erkenne ich mit Staunen in der...