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E-Book

Die Mörderin

Die Geschichte der Naomi Harvey

AutorDamaris Kofmehl
VerlagSCM Hänssler im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783775171939
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Ein Parkplatz in Kalifornien: Pastorin Naomi Harvey erschießt Pastorin Darlene Shipley und bekommt wegen Mordes lebenslänglich. Naomi ist eine umgängliche, herzliche Frau. Schon mit 17 zieht sie predigend durch die USA. Mit 22 gründet sie eine Gemeinde. Sie adoptiert neun Kinder, engagiert sich für Drogenabhängige. Bis sich herausstellt: eine Reihe von schrecklichen Vorfällen entpuppen sich als Mordanschläge gegen sie. Als sie dabei auch noch zwei ihrer Kinder verliert, bricht für sie eine Welt zusammen. Schließlich kommt es zur Katastrophe. Naomis Schicksal scheint besiegelt. Aber nicht für Gott.

Damaris Kofmehl ist gebürtige Schweizerin und schrieb bisher 32 Bücher, darunter 16 Thriller, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Ihre Recherchen führten sie unter anderem nach Brasilien, Pakistan, Guatemala, Chile, Australien und in die USA. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Deutschland.

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Leseprobe

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2  Als Wanderpredigerin unterwegs


1956


Mein Entschluss stand fest: Ich wollte Jesus dienen. Dadurch veränderte sich mein junges Leben so radikal, dass ich Einladungen von Gemeinden aus dem ganzen Land erhielt, um vor Jugendgruppen und auf -konferenzen zu reden und zu singen. Mein Herz brannte für Gott, und meine Seele dürstete nach seinem Wort. Ich hatte schon früher in der Bibel gelesen, aber jetzt las ich sie nicht nur, ich sog jedes Wort in mich hinein. Die Verse waren auf einmal so lebendig und persönlich, dass mir beim Lesen oft die Tränen kamen. Was da geschrieben stand, waren nicht nur auf Papier gedruckte Worte, es war ein Liebesbrief von meinem himmlischen Papa an mich. Wie damals, als ich noch ein kleines Mädchen war, hörte ich wieder seine Stimme in meinem Herzen, ganz tief in mir drin.

Ich liebe dich, Naomi, sagte er mir. Und ich habe einen Plan für dein Leben. Du sollst mir vollzeitlich dienen.

Ich hatte Gottes Ruf nicht vergessen, den ich mit neun Jahren empfangen hatte. Doch nachdem mir der Pastor mit Highschoolabschluss und vierjähriger Bibelschule gekommen war, hatte ich die Berufsoption »Predigerin« erst mal an den Nagel gehängt. Und immer, wenn Gott mich diesbezüglich anstupste, hatte ich tausend Ausreden. Außerdem hatte ich keinen Highschoolabschluss und war mit sechzehn Jahren eh zu jung für so etwas. Also war ein Vollzeitjob für Gott nicht möglich, jedenfalls nicht im Moment. Damit beruhigte ich mein Gewissen und ließ es gut sein.

Bis zu dem Tag, an dem Gott etwas deutlicher wurde. Sehr viel deutlicher.

Ein bekannter Evangelist war in der Stadt und hatte außerhalb von Montesano ein riesiges Zelt aufgestellt, wo er eine Woche lang Gottesdienste abhielt. Ich ging zu einer dieser Veranstaltungen und hatte mir noch nicht mal einen Platz ausgesucht, als ein alter, weißhaariger Mann auf mich zukam, mit dem Finger auf mich zeigte und mit lauter Stimme verkündete: »Gott hat dich in seinen Dienst berufen!«

Mir wurde ganz heiß. Ich hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen. Woher um alles in der Welt konnte er das wissen?

»Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem«, antwortete ich höflich in der Hoffnung, ihn damit abzuwimmeln.

Aber der alte Mann kam nur noch dichter an mich heran, wedelte mit seinem langen Finger vor meiner Nase herum und sagte, als hätte Gott höchstpersönlich ihn dazu beauftragt: »Die Gaben, die Gott gibt, und die Berufung, die er ausspricht, bereut er nicht und sie gelten für immer!«

Die Worte gingen wie ein Blitzschlag durch meinen Körper und brachten mich dazu, auf die Knie zu fallen. Ich wusste, ich konnte Gottes Ruf nicht länger ignorieren. Tränen liefen mir über die Wangen, während ich mitten in dem Zelt am Boden kniete, Jesus laut um Vergebung für meine Dickköpfigkeit bat und mich ihm völlig auslieferte. »Herr, ich gehöre dir von Kopf bis Fuß. Ich gehe, wohin auch immer du mich sendest! Ich bin bereit.« Ich spürte, wie sich jemand neben mich kniete und mir den Arm um die Schulter legte.

Es war eine junge Frau. Sie betete für mich, und als wir uns wieder vom Boden erhoben, lächelte sie mich mit dem gütigsten Lächeln an, das ich je gesehen hatte, und stellte sich mir vor: »Ich bin Eveline.«

»Naomi«, sagte ich und wischte mir über die Augen.

»Du hast den Ruf, Gott vollzeitlich zu dienen. Den hab ich auch«, sagte sie zu meiner Verwunderung. »Zurzeit leite ich eine Jugendgruppe in Aberdeen. Aber ich weiß, dass das nur vorübergehend ist. Ich möchte mehr für Gott tun, genau wie du.«

»Entschuldigt bitte«, hörte ich eine männliche Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Ein großer Mann in Anzug und Krawatte stand vor uns. »Das mag jetzt komisch klingen, aber ich hab den Eindruck, ich sollte euch beide in unsere Kirche einladen. Gleich im Anschluss an diese Versammlung findet dort ein Jugendgottesdienst statt. Hättet ihr vielleicht Interesse, ein paar Worte an unsere Jugendlichen zu richten?«

Eveline und ich sahen den Mann verblüfft an, tauschten einen kurzen Blick und meinten wie aus einem Munde: »Klar!«

Du verschwendest aber auch gar keine Zeit, Herr!, dachte ich amüsiert. Und so kam es, dass ich zwei Stunden später zusammen mit Eveline, von der ich gerade mal den Namen kannte, vor einer Schar Teenager stand und ihnen von Gottes Liebe erzählte. Eveline hatte ihre Gitarre dabei und stimmte spontan ein Lied an, während ich die Jugendlichen einlud, nach vorne zu kommen und eine Beziehung zu Gott zu beginnen. Was dann geschah, war unglaublich: Über die Hälfte der Teenager folgte meiner Einladung und kniete sich vor der Bühne nieder. Es gab kein Auge, das trocken blieb. Das hatte ganz gewiss nichts mit meiner Redekunst zu tun. Etwas anderes passierte hier, etwas, das die Grenzen unseres menschlichen Verstands bei Weitem überstieg. Es war, als würde die Luft in dem Saal von Gottes heiliger Gegenwart triefen. Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt. Es war einfach nur wunderschön, und ich wollte, dass es nie endete. Auch Eveline spürte, was ich empfand, und war genauso überwältigt wie ich. Nach dem Gottesdienst erhielten wir bereits zwei weitere Predigtanfragen, und ohne zu zögern, sagten wir zu.

Wir waren beide total verblüfft darüber, wie Gott uns als Team bestätigte. Als auch bei dem nächsten Predigtdienst mehrere Menschen Gott in ihr Leben einluden, stand für uns außer Frage, dass unsere Begegnung in dem Zelt kein Zufall gewesen war. Gott hatte uns zusammengebracht, weil er etwas mit uns vorhatte. Eveline hatte ihr Leben lang nichts anderes getan, als Menschen von Gott zu erzählen, und genau wie ich spielte sie Gitarre und liebte es zu singen. Wir ergänzten uns perfekt, auch wenn – oder vielleicht gerade weil – wir grundverschieden waren. Sie war der wohl sanftmütigste Mensch, den ich je getroffen hatte. Wenn sie lächelte, nahm sie den ganzen Raum für sich ein, und es war, als würde die Sonne aufgehen. Ich war eher burschikos in meinem Aussehen und Verhalten. Sie war zierlich und schlank, ich groß und kräftig. Ich war eher ein Zugpferd und hatte keine Angst, Wege einzuschlagen, vor denen sich andere scheuten, auch unbequeme, wenn es sein musste. Eveline war sehr harmoniebedürftig und stets darauf bedacht, dass sich alle wohlfühlten und niemand auf der Strecke blieb. Sie konnte aber auch sehr bestimmt auftreten, wenn die Situation es verlangte, und ließ sich nicht so schnell unterkriegen, wie ihre zarte Erscheinung es vermuten ließ.

Eveline war 19 und somit zwei Jahre älter als ich. Sie hatte eine sehr schwierige Kindheit hinter sich. Ihr Stiefvater war Alkoholiker und hatte drei Jungs mit in die Ehe gebracht, die wesentlich jünger als Eveline waren und extrem wild. Mit fünfzehn hatte Eveline einen Mann geheiratet, der sie in ihrer Ehe misshandelte. Gemeinsam hatten sie zwei Kinder: Rocky war zwei Jahre alt und Sarah acht Monate. Vor einem Jahr war Evelines Mann wegen eines bewaffneten Raubüberfalls ins Gefängnis gekommen und hatte nichts mehr von ihr und den Kindern wissen wollen. Daraufhin hatte Eveline sich schließlich von ihm scheiden lassen.

Bei einem gemeinsamen Mittagessen in einem Schnellimbissrestaurant quetschte ich sie ein wenig aus und fragte sie, ob sie sich vorstellen könne, eines Tages wieder zu heiraten, was sie vehement verneinte.

»Aber nicht alle Männer sind so gewalttätig wie dein Ex«, meinte ich. »Es gibt bestimmt auch ganz nette.«

»Das hat damit nichts zu tun«, sagte Eveline. »Ich glaube nicht an eine Wiederheirat.«

Ich schaute sie verdutzt an. »Wieso nicht?«

»Die Bibel ist da meiner Meinung nach sehr klar. Eine geschiedene Frau soll nicht mehr heiraten.«

»Echt? Das steht so in der Bibel?«

»Ja«, sagte Eveline. »Und daran halte ich mich.«

»Hm«, meinte ich. Ich hatte das zwar noch nie so gelesen, aber wenn Eveline das behauptete, dann würde das wohl so sein. »Und was ist, wenn du irgendwann mal einen netten Kerl triffst, der dir den Kopf verdreht? Ich meine, könnte doch sein, oder?«

Eveline schüttelte den Kopf. »Ich lebe nach den Maßstäben der Bibel. Ich werde nicht mehr heiraten. Und was ist mit dir?«

»Ich?« Bei dieser Frage musste ich lachen. »Die Jungs, die ich bisher getroffen habe, waren alle Nieten. Können nicht mal einen Schraubenschlüssel halten. Da bleibe ich lieber allein. Überhaupt finde ich, heiraten wird total überbewertet. Hat nicht Paulus irgendwo gesagt, er wünschte sich, alle würden so sein wie er, nämlich Single? Also wozu brauche ich einen Mann? Was die können, kann ich auch.«

Eveline schmunzelte. »Ich liebe es, wenn Frauen wissen, was sie wollen. Selbst ist die Frau!«

»Meine Worte«, meinte ich und grinste. »Ein Hoch auf die Singlefrauen!«

»Auf uns!«, sagte Eveline. Wir hoben unsere Colabecher und prosteten uns zu. Dies war der Beginn einer wundervollen Freundschaft und der Startschuss zu einem gemeinsamen geistlichen Abenteuer, das uns weit über die Grenzen unseres Bundesstaates Washington hinausbringen sollte.

Nach einigen gemeinsam abgehaltenen Gottesdiensten fühlten wir uns darin bestärkt, einen Schritt weiterzugehen und als Wanderpredigerinnen quer durchs Land zu ziehen. Wir wollten die Botschaft Gottes überall dort predigen, wo sich eine Tür dafür öffnete. Eine Pfingstgemeinde war bereit, uns zu unterstützen. Ein Pfarrer schenkte uns sogar ein Auto. Wir hängten einen fünf Meter langen Wohnwagen dran, den ich günstig erworben und etwas aufgepeppt hatte, und so zogen wir los.

Meine Eltern standen trotz meines jugendlichen Alters voll und ganz hinter meiner Entscheidung,...

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