ERSTES KAPITEL
Am Anfang war Napoleon
Die Erfindung der Nation
Inmitten hinterpommerscher Weite rollt ein Zweispänner auf den Hof des Rittergutes Haseleu. Ein Herbststurm ist aufgezogen. Am Fuße der großen Freitreppe zügelt der Kutscher die Pferde. Unruhig tänzeln die Tiere. Zwei Offiziere springen aus dem Wagen. Während der eine, in seinen Mantel gehüllt, sich durch Auf- und Abgehen zu wärmen versucht, fliegt der andere die Stufen hinauf. Endlich kann er die Verlobte, siebzehn Jahre jung, umarmen. Sein Bild ziert landauf, landab Teller, Tassen, Tabakspfeifen und sogar Torten. Über seine Husarenstreiche redet man in Bauernstuben, Wachlokalen und Schenken. Hundertfach wandern Anekdotensammlungen von Hand zu Hand. Schuljungen ahmen seinen Haarschnitt nach. Mädchen sind stolz darauf, mit ihm zu tanzen. Wo er auftritt, läuft das Volk zusammen. Vor zwei Tagen ist er an der Spitze seines Husarenregiments in Treptow aufgebrochen. Nach dem Willen des dankbaren Herrschers soll er mit den Husaren die Hauptstadt als Erster wieder besetzen. Weil König Friedrich Wilhelm, der Besiegte, Wohlverhalten zeigt, hat Napoleon, der Sieger, ein Jahr nach dem Diktat von Tilsit seine Truppen aus Berlin abgezogen. Der Husarenmarsch wird zum Triumphzug. Kommen die Reiter in Dörfer oder Städte, läuten allerorts die Kirchenglocken. Der Besucher in Haseleu ist Preußens berühmtester Soldat: Ferdinand Baptista von Schill, zweiunddreißig Jahre alt, mehr Haudegen denn Stratege, «ein kleiner, untersetzter Kerl mit prächtigem Schnurrbart».[1]
Im Salon des kleinen Herrenhauses sagen die Verlobten einander Lebewohl. Die Hochzeit muss warten. Schill plant Unerhörtes: Er will einen Aufstand gegen Napoleon entfesseln; ein letzter Blick, dann fährt er ab, die Verlobte am offenen Fenster winkt mit dem Taschentuch. Da betritt ihre Mutter den Raum. Wind greift ins Zimmer, schlägt das Fenster zu, ein Säbel fällt von der Wand und stürzt klirrend zu Boden. «‹Oh, Mutter, sieh›, Schills Säbel, den er mit dem Vater tauschte, er fiel von der Wand, im Augenblick, als ich ihn unter den Bäumen verschwinden sah. Ach, er wird fallen in diesem Kampf, den er so glühend heraufbeschwört, ich werde ihn nimmer wieder sehen.›»[2]
So jedenfalls berichtet es ein Zeitgenosse achtundsechzig Jahre nach dem Abschied der Verlobten. 1876, fünf Jahre nach der Gründung des Kaiserreiches, steht der Schill-Kult immer noch in voller Blüte. Mit dem Schicksal der Moltkes ist der lange Ritt des Ferdinand von Schill über das Grab hinaus verwoben: Ein Moltke kämpft für Schill, ein anderer steht auf Seiten von Schills Feinden. Und ähnlich wie bei der Ikone des Kaiserreiches, Feldmarschall Moltke, oder einer Hauptfigur bundesdeutscher Tradition, Helmuth James Graf Moltke, hat die Verklärung Schills vor allem mit Überpersönlichem zu tun: mit Preußen, mit Frankreich – und mit der Idee einer deutschen Nation.
Nationen sind nichts Selbstverständliches. Sie beruhen weder auf Rasse, Sprache und Religion noch auf Interessen oder angeblich «natürlichen» Grenzen. Jede Nation ist Idee. Wird diese Idee nicht mehr gedacht oder gewollt, erlischt die Nation.[3] Auf Ideen muss man kommen. Vorbedingung für die Erfindung der Nationen in Europa waren handfeste Umwälzungen: die Bevölkerungsexplosion seit Mitte des 18. Jahrhunderts, die Anfänge der Industriellen Revolution, der Sieg über Zeit und Raum – etwa die Verdichtung des Straßennetzes oder der Durchbruch neuer Medien wie Zeitungen und Zeitschriften. Im Gefolge dieser Veränderungen entwickelten sich als Grundursache für die Erfindung der Nation drei Wertekrisen. Eine Krise des politischen Systems: Die Umwälzungen zwangen zur Straffung und Erweiterung von Durchgriffsmöglichkeiten staatlicher Gefüge. Eine Krise der Machtteilhabe: Der Aufstieg des Bürgertums bedrohte alte Führungsschichten. Eine Krise der Machtbegründung: Entchristianisierung und Aufklärung schwächten die Bindekraft von Gottesgnadentum und Traditionen. Anfangs bestimmte lediglich eine Handvoll Gelehrter den Ideenhaushalt der Nationen – Professoren, Theologen, Schriftsteller, Offiziere –, einflussreiche Männer der Feder wie Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller, Johann Gottlieb Fichte und Ernst Moritz Arndt, Gerhard Scharnhorst und August Neidhardt von Gneisenau. Ihr Schreibtisch-Nationalismus antwortete vor allem auf die Krise der Machtbegründung, denn er bot ersatzweise eine Art Säkularreligion. Deren Vaterunser umfasste Denkfiguren wie die «historische Mission», das «auserwählte Volk», die «Todfeinde», das «heilige Vaterland».[4] Den Weg der Nationsidee aus den Studierstuben in die Herzen der Massen bahnte in Deutschland Napoleon – ungewollt freilich; denn Krieg, Invasion und Ausplünderung weckten vielerorts den Willen zur Selbstbehauptung. Das entschärfte vorläufig die Krise der Machtteilhabe. Unter französischer Besatzung verlegte das bürgerliche Denken den Schwerpunkt von der inneren auf die äußere Freiheit.[5] Zugleich suchten reformfreudige Beamte in Preußen und in den Staaten des «Rheinbundes», einer Schöpfung Napoleons, die Krise des politischen Systems zu überwinden. Sie setzten auf Vereinheitlichung, Straffung und Verrechtlichung von Regierungen und Behörden. Ihre Reformen beschleunigten den Weg vom monarchischen zum bürokratischen Absolutismus, die Entwicklung von der Selbstherrschaft des Monarchen zur Herrschaft der Beamten im Namen des Königs.
Vor dieser Kulisse begann die Suche nach jenem wabernd Wechselhaften, das unsere Gegenwart «deutsche Identität» zu nennen pflegt. Man sammelte – oder erdichtete – Märchen, Mythen und Volkslieder, entdeckte das Mittelalter, beschwor Volksgeister und Walhall, Minne und Walküren. Des Knaben Wunderhorn erschien. Fouqué, nicht Goethe war der meistgelesene Autor in Deutschland. Kurzum: Die politische Romantik dämmerte herauf. Sie besang das große Miteinander von Oben und Unten, den Heiligen Krieg des Völkerhasses, liebte das Gefühl, misstraute dem bloßen Verstand. Was Preußen betraf, kamen Bürgertum und Monarchie sich sozusagen romantisch näher. Im Zeitalter der Aufklärung hatte preußischer Absolutismus noch bedeutet: Offiziersadel und Königsheer. Die Kluft zwischen Zivil und Militär entsprach dem geistigen Abstand zwischen Bürger und Krone. Im Zeitalter der Romantik, so hofften manche, würde preußisches Königtum bedeuten: Leistungsadel und Volksheer. Fortan würde jeder Soldat ein Bürger und jeder Bürger auch Soldat sein. Nicht die Nation findet ihre Nationalisten; Nationalisten erschaffen sich ihre Nation.
Einer wie Schill passte bestens in die sich wandelnde Epoche, in die Zeit der Frühromantik und der Wertekrisen. Er war adeliger Offizier des Königs, galt aber als volksnah ohne eine Spur von Standesstolz. Und nur Schill konnte offenbar dem «Todfeind» wenigstens ein Schnippchen schlagen. Unzählige Flugschriften überhöhten seine Taten: Er allein hatte 1807 während des Kleinkriegs um die Festungsstadt Kolberg sechs Franzosen getötet, war über einen unfassbar breiten Graben geritten, hatte dutzende Verwundungen erlitten. Schill entschwebte schon zu Lebzeiten in mythische Gefilde. Von Ferne erinnert sein Ruf an den Mythos des Retters, der in Frankreich den Aufstieg Bonapartes beflügelt hatte. Nicht zufällig galt er als Gegenbild des hochmütigen, bürgerfeindlichen Junkers. Schill «verschwendete kein Geld, machte keine Schulden, spielte nicht und sah nicht Alles, was keinen Federbusch trug, über die Achsel an».[6] Außerdem soll er in Kolberg, während ringsherum alle Festungen die Waffen streckten, gemeinsam mit Nettelbeck und Gneisenau das erste Bündnis zwischen Bürger und Soldat geschmiedet haben, ein Stern in Wetterwolken, der den Weg in eine bessere, sprich: nationale Zukunft wies – eine Legende, von Gneisenau gezielt verbreitet, der im preußischen Offizierskorps vielleicht am glühendsten die Nationalidee vertrat.[7] Mit seinem Gespür für Menschenführung und Massenpropaganda befeuerte Gneisenau den Kult um Schill. Dadurch könne man die Bevölkerung leichter für eine Erhebung gegen Napoleon gewinnen.
Und tatsächlich: 1809 wagt Schill ohne Befehl des Königs, lediglich im Namen der «Nation», den Versuch zum Aufstand – ein bis dahin unerhörter Vorfall! Schill aber ist kein Einzelgänger. Er handelt als Teil einer Verschwörung, in die hohe Offiziere ebenso verwickelt sind wie leitende Beamte. Sie wollen den Monarchen in einen Krieg gegen Napoleon drängen.[8] Am 28. April 1809 verlässt Major Ferdinand Baptista von Schill an der Spitze seines Husarenregiments die Garnison Berlin, angeblich für ein Manöver. Seine Vorhut befehligt Leutnant Friedrich Franz Graf von Moltke. Die Familie des Leutnants leistet dem preußischen Königspaar Hofdienste. Der Hofdienst, in Europa schon seit Jahrhunderten dem Adel vorbehalten, umfasst zeremonielle, wirtschaftliche oder gesellige Aufgaben, ist an Ehrenämter und Tätigkeiten in der Hofverwaltung geknüpft. So...