Die Energiewende als moralisches Problem
Hinführung
Jochen Ostheimer und Markus Vogt
1 Risikowahrnehmung im Wandel
Seit 40 Jahren wird in Deutschland so leidenschaftlich wie in keinem anderen Land um die ethische Bewertung der Energie gestritten. Unter dem Eindruck der Fukushima-Katastrophe hat die Bundesregierung unumkehrbar den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Bis zum 31. Dezember 2022 sollen alle Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden. Zugleich will Deutschland die vereinbarten Klimaschutzziele erreichen. Deutschland steht vor der Herkules-Aufgabe, gleichzeitig den beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie und eine Reduktion der fossilen Energieversorgung von heute rund 80 % auf unter 20 % bis zum Jahre 2050 herbeizuführen. Um zu klären, ob und wie eine risikoethische Neubewertung der Atomenergie nach Fukushima nötig ist und wie eine sichere Energieversorgung umgesetzt werden kann, wurde von der Bundesregierung eine so genannte Ethikkommission einberufen.
In der öffentlichen Debatte um die Atomenergie sind in den letzten Jahren insbesondere zwei Argumente neu in den Vordergrund getreten. In einem ersten Schritt wurde, zumindest in der öffentlichen Diskussion, die Verbindung zwischen Atomausstieg und Klimaschutz hergestellt. Lassen sich die anspruchsvollen, aber angesichts der Dramatik des Klimawandels unabdingbar erforderlichen Klimaschutzziele der europäischen Länder erreichen, wenn zugleich zusätzliche, durch den Wegfall der Atomkraftwerke verursachte Stromlücken kompensiert werden müssen? Oder, so der Gegeneinwand, wie er insbesondere von Befürwortern von erneuerbarer Energie eingebracht wird, blockiert der Atomstrom nicht vielmehr den Ausbau der regenerativen Energie, weil die große Menge an Grundlaststrom nicht mit der hohen Volatilität von erneuerbarem Strom kompatibel ist? Erfahrungswerte können bei dieser Frage nicht zu Rate gezogen werden. Erweitert wird das (scheinbare) Dilemma von Klimaschutz und Vermeidung nuklearer Risiken mittlerweile verstärkt durch sozioökonomische Überlegungen: Lässt sich der Umstieg auf regenerative Stromerzeugung individuell und volkswirtschaftlich finanziell tragen, wenn der sehr günstige Atomstrom ausfällt? Ist Atomstrom sogar umso nötiger, um die höheren Gestehungskosten von Wind- und vor allem Solarstrom auszugleichen?
Schon die Frage, ob und inwiefern die friedliche Nutzung der Atomenergie gegen die Moral verstößt, wie manche behaupten, ist keineswegs ein triviales Problem. Die Ethik steht hier vor grundlegenden methodischen Problemen. Ungeklärt sind insbesondere der Umgang mit extremen Zeithorizonten, die Frage der Abwägbarkeit verschiedenartiger Risiken, die Einordnung und Bewertung subjektiver und objektiver Perspektiven in der Risikowahrnehmung. Einigkeit besteht lediglich darin, dass das klassische Versicherungsprinzip der Berechnung aus Schadenshöhe mal Eintrittswahrscheinlichkeit nicht mehr hinreichend ist und dass Risiken nicht nach naturwissenschaftlich objektivierbaren Quantifizierungen berechnet werden können. Die Definition des Schadens hängt auch von gesellschaftlichen Wertungen ab. Der ethisch notwendige Vergleich mit den relevanten Alternativen beruht auf höchst unsicheren Abschätzungen künftiger Energieszenarien. Die kulturellen Kontexte sind für die Bewertung und das Management der Risiken ein entscheidender Faktor, der in den bisherigen Modellen noch wenig systematische Beachtung findet. So begründete die deutsche Bundesregierung ihre erneute Kehre in der Atompolitik mit dem Ereignis von Fukushima, das die Sachlage völlig verändert habe. Doch hierzulande ist nicht mit einem Tsunami zu rechnen. Was ist also das Neue an diesem Unglück, das auch für die deutsche Atom- und Energiepolitik bedeutsam ist?
Auch 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl gibt es immer noch erhebliche Wissenslücken und methodische Differenzen in der Analyse und Bewertung der Folgen. Dies gilt nicht zuletzt für die Auswirkungen von bestehenden Energiestrukturen wie auch von Katastrophen auf die politische Ordnung – etwa mit Blick auf die Destabilisierung der Sowjetunion durch den GAU in Tschernobyl, die noch unabsehbaren Folgen der Havarie des AKW Fukushima oder die mit der Energiewende verbundenen Machtverschiebungen in Europa.
Aufgrund der vielschichtigen Zusammenhänge von Energieversorgung, Wohlstandsentwicklung und Sicherheit ist die Energiefrage auch für die normativen Sozialwissenschaften eine Herausforderung ersten Ranges. Bei dem sich abzeichnenden Wandel der Energieversorgung geht es nicht nur um einen technologischen Wechsel. Es genügt nicht, den einen Energieträger durch einen anderen zu ersetzen. Gefragt sind neue Muster in der Art des Wirtschaftens, Produzierens und Konsumierens, in der Mobilität und den Siedlungsstrukturen sowie in der gesellschaftlichen Kommunikation. Nachhaltige Energieversorgung braucht einen Struktur- und Kulturwandel, um die Potentiale von Effizienz- und Suffizienzstrategien sowie von erneuerbaren Energien zu entfalten. Vom Gelingen eines solchen Wandels wiederum hängt es ab, ob man die Atomenergie als das kleinere Übel einschätzen kann. Der kulturelle Wandel speist sich aus Erfahrungen: sowohl aus Katastrophen- als auch aus Aufbruchserfahrungen. Doch das kulturelle Gedächtnis ist oftmals sehr kurz. Der Reaktorunfall von Tschernobyl hat zwar eine große Verunsicherung erzeugt, die im öffentlichen Bewusstsein auch immer wieder aktiviert werden kann, letztlich aber waren die Gewohnheiten stärker. Selbst in der Ukraine hat die Erfahrung der AKW-Havarie kaum etwas an der gängigen Praxis der Energieverschwendung verändert.
Darüber hinaus ist die ethische Angemessenheit von Abwägung als Methode der Bewertung bei extremen Risiken kritisch zu prüfen. Der Umgang mit Energie ist also in gleicher Weise eine technisch-ökonomische, eine politische und ordnungsrechtliche sowie eine ethische Frage. Er fordert neue interdisziplinäre Methoden der Risikobewertung.
Die öffentliche Meinung stellt die Akteure der Energiewende vor höchst vielfältige und widersprüchliche Herausforderungen. „Atomkraft – nein danke. Mein Strom kommt aus der Steckdose.“ Dieses Bonmot bringt die in der Gesellschaft weit verbreitete Haltung auf den Punkt, und es veranschaulicht den Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und niedrige Preise auf der einen und der Verdrängung von Produktionsbedingungen und negativen Nebenwirkungen auf der anderen Seite. Ebenso vielfältig wie die Meinungen in der Bevölkerung sind die wissenschaftlichen Positionen, die ökonomischen Interessen, die politischen Strategien sowie die moralischen Werte und Prinzipien, die hier ins Spiel gebracht werden. Die Energiewende ist in Anbetracht dieser heterogenen und teils widersprüchlichen Aspekte eine complexio oppositorum.
Der vorliegende Band beleuchtet die mannigfaltigen Facetten der moralischen Argumentationsmuster in der Energiedebatte in interdisziplinärer Zusammenschau. Dazu werden erstens die ethischen Methoden und Kriterien diskutiert, zweitens wird die Energiewende als wirtschaftliches und rechtliches Risiko kommentiert und drittens werden Muster des gesellschaftlichen Umgangs mit Risiken erschlossen.
2 Ethische Methoden und Kriterien
Mit der Energiewende sind erhebliche und ganz verschiedenartige Risiken verbunden, wie Markus Vogt in seinem Beitrag darlegt. Daher stellt sich die entscheidende methodologische Frage, nach welchen Kriterien sich die unterschiedlichen Risiken der Energieformen vergleichen und abwägen lassen. Das Gelingen der Energiewende erfordert eine Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Wissens- und Handlungsbereiche, um in angemessener Weise technischen, wirtschaftlichen, politischen und risikoethischen Sachverstand in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Über die analytischen Aspekte hinaus bedarf es eine Kultur des Erinnerns, damit die unterschiedlichen Gesellschaften und Akteursgruppen aus den AKW-Unfällen der Vergangenheit das Nötige für eine Risikomündigkeit im 21. Jahrhundert lernen können. Die ethischen Aspekte der Energiewende werden insbesondere dann virulent, wenn sich die Erkenntnis aufdrängt, dass alternative Formen der Energiegewinnung die gegenwärtigen Lebensstandards und deren inhärente Steigerungsdynamik nicht ohne erhebliche negative Nebenwirkungen gewährleisten können. So mündet die Energiedebatte in einen Diskurs über eine Weiterentwicklung des westlichen Wohlstandsmodells durch veränderte Prioritäten, Gerechtigkeitskonflikte und Wettbewerbschancen.
Julian Nida-Rümelin zeigt in seinem Beitrag, dass bei der Frage nach der Relevanz des Unglücks von Fukushima für Deutschland die relevanten Vergleichspunkte auf einer Ebene zweiter Ordnung zu suchen und zu finden sind. Neu und in den bisherigen Konzepten nicht ausreichend bedacht ist der Umstand, dass der Reaktorunfall in einem Hochtechnologieland stattfand und dass erkennbare Defizite vom Betreiber wie von den Kontrollbehörden schlicht ignoriert wurden. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der die Situation verändert: die stark angestiegene Ablehnung der Atomenergie in Deutschland. Diese ist als eine moralische Einstellung einzustufen, die bei der Risikoabwägung nicht vernachlässigt werden darf. Denn es ist aus moralischen Gründen verboten, jemanden gegen dessen Willen einer Gefährdung auszusetzen, was jedoch in den gängigen aggregativen Betrachtungsweisen zu wenig Berücksichtigung findet. Daher ist, so das Ergebnis der deontologisch-risikoethischen Reflexion, der Atomausstieg begründet.
Die faktische politische Entscheidung folgte hingegen nicht dem Modell...