Einleitung
MAMA MIA!
Es ist bitter kalt. Wir frieren. Der Zugang zur Zentrale der Sozialdemokratischen Partei Österreichs ist versperrt. Der erste Stock des Gebäudes in der Wiener Innenstadt ist hell erleuchtet. Dort fällt im Vorstand der Regierungspartei die Entscheidung über das, was später unter „die Wende“ in der österreichischen Innenpolitik bekannt werden wird. Wird es SPÖ-Chef Viktor Klima gelingen, seine Partei auf eine Fortsetzung der Koalition mit der Österreichischen Volkspartei einzuschwören oder nicht? Stunden verrinnen in dieser Nacht vom 20. auf den 21. Jänner 2000.
Zusammen mit unzähligen Journalisten, Fotografen und Kameraleuten warten wir vor dem Haus Löwelstraße 18 auf ein Ende der Sitzung und einen Beschluss der Partei. Mitternacht, ein Uhr früh, zwei Uhr, drei Uhr. Die Stimmung ist angespannt. Wir sind erschöpft. Es passiert nichts. Irgendwann in dieser Zeit kommt es zu einem „Vorfall“, der uns viele Gespräche und viele Jahre später dazu brachte, gemeinsam dieses Buch zu schreiben. Denn während wir beide, zitternd vor Kälte und müde vor Langeweile, zur nächsten Zigarette greifen, kommt plötzlich Bewegung in die wartende Meute. Ein Kameramann, unweit von uns entfernt, schultert sein Gerät und richtet das Objektiv in unsere Richtung aus. Plötzlich ist die Müdigkeit verflogen. Wir sind hellwach. Rauchen vor laufender Kamera? Niemals! Schnell weg mit der Zigarette. Meine Mutter darf nicht sehen, dass ich rauche! Meine Tochter darf nicht wissen, dass ich wieder angefangen habe! Es ist vier Uhr früh. Die Sitzung ist zu Ende, die amtierende Regierung Geschichte.
Im Nachhinein wussten wir, dass unser kurzer Dialog ein großes Thema angerissen hat. Eines, das viele Frauen ein Leben lang beschäftigt. Wir haben uns damals und auch kurz danach nicht mehr darüber unterhalten, was dieser Reflex einer Mutter und einer Tochter zu bedeuten hatte. Das große Thema war das Ende sozialdemokratischer Regierungen nach dreißig Jahren. Viele Wochen und Monate lang. Der „Vorfall“ geriet in Vergessenheit. Er gab aber Jahre später den Anstoß, sich mit der Vielfalt, der Komplexität, der oft lebensentscheidenden Konsequenz der Mutter-Tochter-Beziehungen näher zu beschäftigen.
Diese „Mutter aller Beziehungen“, wie sie in der Psychologie oft bezeichnet wird, prägt maßgeblich Biografien von Frauen. Beziehungsmuster, Karriereweg, Familienplanung – sobald Frauen darüber reflektieren, führt es sie meistens zurück zu ihrer Mutter. Zum Rollenbild, das ihnen ihre Mutter vorgelebt hat. Zur bedingungslosen Mutterliebe, die sie bekommen haben oder eben nicht, mit Auswirkungen auf ihr gesamtes Leben. Zu viel Liebe oder zu wenig, zu streng oder zu liberal – im Zweifelsfall sind die Mütter schuld. Und wenn Töchter dann selbst Mütter werden, geht diese unendliche Beziehungsgeschichte in die Fortsetzung. Dann verändert sich der Blick auf die eigene Mutter und Frauen staunen, wie ähnlich sie als Mutter ihrer eigenen Mutter werden oder wie sehr sie sich selbst als das Gegenmodell definieren. Nicht alle Frauen sind Mütter, aber alle Frauen sind Töchter – und bleiben, ob sie wollen oder nicht, ihrer Mutter gegenüber ein Leben lang in dieser Kinderrolle. Jetzt könnte man einwerfen, das gelte genauso für Söhne. Auch Söhne haben Mütter, auch Söhne erleben diese Urprägung durch die Mutter. Selbstverständlich! Genauso wie Väter und Töchter oder Väter und Söhne eine ganz wichtige, einmalige Beziehung miteinander haben können. Aber keine andere Eltern-Kind-Beziehung reicht in der Komplexität an jene zwischen Mutter und Tochter. Oder erzählen Männer, wie sie sich Abende lang mit Freunden über das Verhältnis zu ihrer Mutter unterhalten? Wohl nur wenige. Viele Frauen aber machen eine Therapie, um ihr Verhältnis zu ihrer Mutter und die Auswirkung auf ihr Leben besser zu verstehen. Töchter leiden unter ihren Müttern und umgekehrt. Andere Töchter und Mütter wiederum erleben eine ganz besonders intensive und schöne Bindung. Mütter, die von kleinen Mädchen wie ihr größeres Ich angehimmelt werden, werden spätestens in der Pubertät vom Podest gestoßen. Will ich mich als Frau einmal so ähnlich positionieren wie sie? Dem Partner gegenüber oder im Job? Oder kann ich mir vorstellen, mein Leben – so wie meine Mutter – ganz der Familie zu widmen? Mütter fungieren als Orientierungshilfen im Erwachsenwerden von Töchtern, Töchter als Projektionsfläche für Mütter, die ihre eigenen verlorenen Lebensziele bei ihren Töchtern gerne erfüllt sähen.
Das birgt Konfliktpotenzial. „Du bist wie deine Mutter“, ein Satz, der von Töchtern selten als Kompliment aufgefasst wird. Denn bei aller Liebe, welche Tochter will schon als Kopie ihrer Mutter wahrgenommen werden? Mütter wiederum sehen sich gesellschaftlichen Erwartungshaltungen in ihrer Lebensrolle ausgesetzt. Lange Zeit galt es für Töchter fast als Tabu, ihre eigene Mutter zu kritisieren oder sie gar für Defizite im eigenen Leben verantwortlich zu machen.
Der Mythos der grenzenlosen Mutterliebe, der liebevollen Solidarität zwischen Müttern und Töchtern, verbat das. Kein Wunder, dass in den 1970er-Jahren das Buch „Wie meine Mutter“ der amerikanischen Autorin Nancy Friday von der Kritik als „Buch wie ein Schock“ rezensiert wurde, bevor es zum Bestseller avancierte. Das Buch ist ein schonungslos ehrlicher Blick auf das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern. So schreibt Friday: „Egal, wie wir das Netz von Emotionen zwischen uns und anderen weben, häufig ist es geprägt von dem Muster, das zwischen ihr und uns besteht. Viele der Beziehungen, die wir als Erwachsene führen, enthalten Elemente der Mutter-TochterBeziehung.“ Es war wie ein Befreiungsschlag für viele Frauen, die sich durch dieses Buch ermutigt fühlten, sich mit ihren Müttern ehrlich auseinanderzusetzen. Viel hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Und doch beschäftigt viele erwachsene Frauen ein Leben lang die Frage, wie und ob sie den Erwartungshaltungen ihrer Mütter entsprechen, es sollten oder eigentlich gar nicht wollen.
Auch in Literatur und Film sind Mutter-Tochter-Storys stets ein guter Plot. Ob Elfriede Jelineks autobiografischer Roman „Die Klavierspielerin“ oder jüngst der Film „Lady Bird“ – Mutter-Tochter-Geschichten verlieren nie an Brisanz. Die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Beziehungen fasziniert. Und spiegelt Gesellschaftsbilder und Trends.
Sollte die Mutter früher für Töchter vor allem eine Respektsperson sein, werden Mütter und Töchter mittlerweile gerne medial als beste Freundinnen inszeniert.
Auf den ersten Blick kaum zu erkennen, wer Mutter, wer Tochter ist – eine attraktiver und jugendlicher als die andere. Aber kann das funktionieren? Vom Eltern-Kind-Verhältnis zu einer Begegnung auf Augenhöhe? Bleibt eine Mutter nicht immer in einer anderen Rolle, als wir es uns von einer Freundin erwarten? Muss dieses freundschaftliche Setting nicht zwangsläufig zu Enttäuschungen auf beiden Seiten führen?
Oder ist das alles völlig übertrieben? Sind Mutter-Tochter-Beziehungen einmal besser, einmal schlechter und die Auswirkungen auf das Leben von Frauen völlig überzeichnet?
Fragen über Fragen, die wir in diesem Buch sicher nicht beantworten werden. Nicht können und auch nicht wollen. Wir sind keine Therapeutinnen und haben auch keinerlei therapeutischen Ansatz. Wir sind Journalistinnen, die gelernt haben, genau hinzuschauen und gut zuzuhören. In vielen, sehr persönlichen Gesprächen sind wir in den vergangenen Jahren immer wieder beim Mutter-Tochter-Thema gelandet. Auch in der Beobachtung politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Auf den Kern reduziert, erklären sich Verhaltensmuster von Menschen in ihren ersten Prägungen. Da landet man bei Frauen recht schnell bei ihrer Muttergeschichte. Das war Grund genug, uns dem Thema einmal ausführlicher zu widmen.
Unsere Perspektiven sind unterschiedlich – die eine könnte die Mutter der anderen sein, das gibt naturgemäß einen anderen Blick. Beide sind wir Mütter von Töchtern, die wir allein erzogen haben oder erziehen. Die eine erlebt seit Jahren eine mehr als gelungene Beziehung mit ihrer erwachsenen Tochter, die andere hofft, dass ihr das mit ihrer Tochter auch so gut gelingen möge, und steckt gerade mitten in den Herausforderungen, die sich einer Mutter im Zuge der Pubertät der Tochter stellen.
In diesem Buch erzählen Mütter und Töchter ihre ganz persönlichen Mutter-Tochter-Geschichten, jede aus ihrer Sicht – manchmal ist diese ähnlich, manchmal völlig konträr. Eines haben alle Geschichten gemeinsam – sobald wir Mütter zu ihren Töchtern befragten, berichteten diese innerhalb kürzester Zeit über ihre eigenen Mütter und ihre Prägungen durch diese. Die Mutter, die ich sein wollte. Die Tochter, die ich bin. Eine unendliche...