Washington stellt unterdes die Weichen
Am Abend des 11. November lud Marlin Fitzwater ins Oval Office des Weißen Hauses. Der glatzköpfige, stämmige Endvierziger diente schon Präsident Reagan als Pressesprecher, Nachfolger Bush beließ ihn in der Funktion des White House Press Secretary. Die Journalisten und Fernsehreporter erlebten einen sichtlich um Gelassenheit bemühten Präsidenten, doch die aufmerksamen Beobachter registrierten durchaus, dass George Bush ziemlich nervös an seinem Füllfederhalter drehte.
Der ehemalige CIA-Direktor Bush hatte sich bereits Vorwürfe anhören müssen. Wieso habe er sich nicht unverzüglich nach Berlin begeben, der Präsident müsse Flagge zeigen und die Lücken in der Mauer persönlich in Augenschein nehmen. Bush reagierte besonnen wie Kennedy 1961 bei der Errichtung der Mauer. Der hatte sich auch nicht zu einem demonstrativen Auftritt überreden lassen und war erst zwei Jahre später nach Westberlin geflogen. Bush dachte zudem strategisch: Er wollte in dieser Situation die Russen nicht verärgern und sie ihre Niederlage durch eine Demonstration des Triumphes spüren lassen. Bush brauchte Gorbatschow – auch für den denkbaren Fall, dass die Falken im Kreml versuchten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
Also musste er wohl oder übel die Vorhaltungen und Forderungen aus dem westlichen Lager und im eigenen Hause aus- und also stillhalten. Wiederholt erklärte er öffentlich wie auch im privaten Kreis: »Ich werde nicht auf der Mauer tanzen.« Keine Frage: Auch Washington war sich nicht sicher, dass die Prozesse bereits unumkehrbar waren. Sicherheitsberater Brent Scowcroft versteckte sich hinter der Erklärung, die von der DDR gewährte Freizügigkeit sei noch längst kein Grund anzunehmen, dass Moskau oder Ostberlin »das ostdeutsche Volk seinen eigenen Weg und damit den Staat zum Teufel gehen« ließen. Entweder konnte Bushs Berater sich nicht vorstellen, dass Gorbatschow die DDR aus dem Warschauer Pakt entlassen würde (»Nichts hat sich an der grundlegenden Tatsache, dass Ostdeutschland ein kommunistischer Staat im sowjetischen Machtbereich ist, geändert, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird es auch immer so bleiben«), oder Scowroft sagte so etwas aus taktischem Kalkül. Oder um im Bild zu bleiben: Er pokerte mit.
Auf diplomatischen Kanälen allerdings, so ließ der sowjetische Botschafter Kotschemassow Staats- und Parteichef Krenz am Abend des 12. November wissen, machten die Amerikaner Druck: Sie wünschten, dass die Mauer am Brandenburger Tor geöffnet werde. Ohne es explizit zu sagen, ahnten Kotschemassow und Krenz, was der Grund für diese »Bitte« war. US-Präsident Reagan hatte bei seinem Besuch am 12. Juni 1987 in Westberlin, mit dem Brandenburger Tor im Rücken, den Satz ausgerufen: »Mr. Gorbachev, tear down this wall!«.
Diese symbolträchtige »Berlin Wall Speech« sollte sich nun erfüllen. Auf einen Grenzübergang mehr oder weniger kam es jetzt gewiss nicht mehr an. Also auf damit!
Egon Krenz reagierte auf dieses Ansinnen sowohl mit dem Hinweis, dass diese Frage aus Sicherheitsgründen in Moskau entschieden werden müsse, schließlich befände sich unweit des Tores die sowjetische Botschaft, als auch mit einem Zitat des Bundespräsidenten. Richard von Weizsäcker. Der hatte einmal gesagt: »Die deutsche Frage ist so lange offen, wie das Brandenburger Tor geschlossen ist.«
Womit Egon Krenz deutlich machen wollte, dass die deutsche Zweistaatlichkeit nicht zur Disposition stehe und er darum dagegen sei.
Diese Bemerkung des Bundespräsidenten hatte übrigens auch Reagan 1987 in seine Rede vom Brandenburger Tor eingebaut und pathetisch fortgeführt: »Es ist nicht die deutsche Frage allein, die offen bleibt, sondern die Frage der Freiheit für die gesamte Menschheit.«18
Wenn sich Ostberlin und Moskau dessen erinnert hätten, wäre ihnen bewusst geworden, dass es nicht um irgendeinen Grenzübergang mehr oder weniger ging. Der Wunsch Washingtons griff weiter.
Am Montag, dem 13. November, trat die DDR-Volkskammer zusammen. Sie wählte zunächst einen neuen Parlaments-Präsidenten: den Vorsitzenden der Bauernpartei Dr. Günter Maleuda. Die zweite Personalie betraf Dr. Hans Modrow. Der als Hoffnungsträger gehandelte Dresdner SED-Bezirkschef wurde als Ministerpräsident gewählt und mit der Regierungsbildung beauftragt, nachdem das alte Kabinett zurückgetreten war.
Ich saß auf der Pressetribüne in der 5. Etage im Palast der Republik und wie auf Kohlen. Bild-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje hatte mich beauftragt, sowohl Krenz als auch den neuen Regierungschef zu interviewen. Wie immer wollte Bild das Wettrennen gewinnen, die Zeitung wollte die erste in der Bundesrepublik sein.
Es gab mehrere Umstände, die dem entgegenstanden.
Zum einen gehörte unsere Zeitung aufgrund ihres Charakters nicht unbedingt zu den in der DDR besonders geschätzten Blättern, zum anderen hatten alle Zeitungen des Springer-Konzerns bis vor wenigen Tagen noch das Kürzel DDR prizipiell nur mit Anführungszeichen gedruckt. Das waren für mich keine guten Referenzen. Und schließlich: Wie kam ich an die beiden heran? Überall standen die Sicherheitsnadeln und schirmten sie ab.
Und schließlich: Ich war ja nicht akkrediert, hatte also gar keinen Zutritt zum Plenarsaal.
Ich belog den Mann, der die Liste mit den Fotografen führte. Mit einer Kamera vorm Bauch und Augenzwinkern ließ ich mich von Wolfgang Genz als »Foto-Mann« registrieren, denn Foto und Bild war schließlich dasselbe. So gelangte ich schließlich auf die Pressetribüne und konnte das Treiben von oben beobachten.
In der Pause ging ich zum Angriff über. Ich ließ meine Presse-Karte in der Jackentasche verschwinden, die Kamera »vergaß« ich im Pressebüro. Dann schlenderte ich unauffällig die Treppen hinunter, niemand hielt mich auf. Ich tat, als sei ich ein Mitarbeiter oder ein Volkskammerabgeordneter. Mein Kalkül ging auf. Ohne Probleme gelangte ich in den Vorraum zum Plenarsaal. In meiner Jacketttasche steckte ein Diktiergerät. Es standen einige Abgeordnete herum und rauchten. Wo war Modrow, wo Krenz?
Plötzlich kam der neue Ministerpräsident aus dem Plenarsaal. Ich sprach ihn sofort an. »Brinkmann, Bild, Herr Modrow …«
Der ließ mich nicht weitersprechen. »’tschuldigung, ich muss mal wohin.«
»Dann begleite ich Sie.«
»Bitte«, sagt Modrow.
Ich nestelte mein Aufnahmegerät heraus. Auf dem Weg zur Toilette beantwortete der Ministerpräsident meine Fragen. Nach der Erleichterung, die Klinke in der Hand und das Diktiergerät fast schon in der Tasche, erkundige ich mich beiläufig, wann das Brandenburger Tor geöffnet werde. Von den diplomatischen Verrenkungen des Vortages hatte ich keine Ahnung.
»Wir werden darüber demnächst sprechen. Vor allen Dingen muss ich mich mit meinen Leuten, die dafür Verantwortung tragen, beraten. Zurzeit ist es dafür noch zu früh.«19
Diese Aussage hatte den gleichen Nachrichtenwert wie die Wetterprognose: »Kräht der Hahn früh auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie es ist.«
Allerdings hatte Modrow das Wörtchen »demnächst« gebraucht. Und in Zeiten, in denen die Presse auf jeden Wimpernschlag achtete, bekam ein einzelnes Wort unerhörtes Gewicht.
Anderentags stand mein Gespräch in der Bild, es wurde weltweit zitiert, der Ankündigung des DDR-Premiers, »demnächst« werde man über die Öffnung des Brandenburger Tores sprechen, maß man dabei besondere Bedeutung zu.
Noch am gleichen Tage zogen Heerscharen von internationalen Journalisten vor das Tor und warteten.
Sie harrten dort sieben Wochen aus.
Erst am 22. Dezember 1989 schritten Hans Modrow und Helmut Kohl durch das Langhans-Bauwerk mit der Schadow-Quadriga, dem Wahrzeichen Berlins. Zehntausende drängten sich bei strömendem Regen auf dem Pariser Platz und sorgten für chaotische Verhältnisse.
Und Egon Krenz? Ich sollte ja auch mit ihm an jenem 13. November sprechen.
Nach dem Toilettengang mit Hans Modrow ging ich mit diesem einfach in den Plenarsaal.
Egon Krenz saß auf seinem Platz links neben dem Parlamentspräsidium. Er war umringt von mehreren Abgeordneten, die mit ihm und mit sich redeten. Ich drängte mich vor. »Herr Generalsekretär, mein Name ist Brinkmann. Ich bin von der Bild und hätte gern ein Interview mit Ihnen.«
Schlagartig herrschte entsetzte Stille.
Zu allem Überfluss rief eine westdeutsche Kollegin von der Presse-Tribüne, die mich erkannt hatte: »Was macht der Brinkmann da unten?« Womit sie auf ihre vermeintliche...