Knochen
Zunächst ist es angebracht, die Körperteile ein wenig zu betrachten, die dem Menschen den Halt geben, das, was man das Knochengerüst nennt.
Ich erinnere hier gleich wieder daran, daß auch der Knochen, diese scheinbar so starre steinerne Masse, aus Zellen zusammengesetzt ist, die allerdings die merkwürdige Eigenschaft besitzen, sich aus dem im Blut kreisenden Nahrungsmaterial bestimmte Salze, im wesentlichen Kalksalze, herauszusuchen, sich damit zu umpanzern und so das feste Gerüst herzustellen, mit dessen Hilfe wir erst existieren können, und ohne das wir wie ein Kuchenteig zusammensinken würden.
Jeder weiß oder sollte wissen, wenigstens die Frauen sollten es wissen, daß unter Umständen schon in der frühsten Kindheit dieser Aufbau von Kalksalzen nicht richtig stattfindet, daß Zustände entstehn, bei denen die Knochen zu lange weich bleiben und die man unter dem Namen: Englische Krankheit, Rachitis zusammenfaßt. Es ist ohne weiteres klar, daß eine Bedingung zur Genesung bei diesem Leiden eine genügende Zufuhr von Kalksalzen ist. Dafür reicht im allgemeinen die natürliche Ernährung des Säuglings an der Mutterbrust aus. Dagegen ist die künstliche Ernährung mit Kuhmilch, falls eine Anlage zur englischen Krankheit vorhanden ist, nicht genügend. Sie genügt kaum für das gesunde Kind, ist sozusagen eine Hungerdiät, aus der wohl ein starker Organismus sich aufbauen kann, bei der der schwache oder vernachlässigte aber häufig versagt. Da empfiehlt es sich denn, so bald wie möglich mit andern Nahrungsmitteln nachzuhelfen, vor allem mit Vegetabilien, mit Salaten, Rüben, Spinat, Radieschen und so weiter. Auch weißer Käse ist recht zweckmäßig. Daß gerade diese Art der Ernährung auch von der Mutter während der Schwangerschaft bevorzugt werden sollte, leuchtet ein. Wird doch das Knochengerüst zum großen Teil schon im Mutterleib aufgebaut.
Im allgemeinen ist es Vorschrift, die schwangre Frau und erst recht die Wöchnerin kräftig zu nähren. Mit andern Worten, man stopft in sie hinein, was hineingehn will. Das ist verkehrt; an und für sich verändert ja die Schwangerschaft die Lage und den gegenseitigen Druck der Bauchorgane erheblich. Es lassen sich Stockungen in dem Kreislauf der Säfte kaum vermeiden. Da nun durch große Mahlzeiten die Stockungen, speziell die Verstopfungen noch zu vergrößern, durch maßloses Milchschlampen künstlich Krampfadern, Hämorrhoiden, Ödeme herbeizuführen, ist doch eine seltsame Behandlung. Der Haupterfolg ist immer der, daß die Schönheit des Weibes dabei zerstört wird. Statt einer Frau mit festen Formen und schönen Linien, erhebt sich ein verunstaltetes Wesen mit dickem Bauch, fetten Hüften und hängenden Brüsten aus dem Wochenbett, so daß bei dieser Betätigung liebevoller Pflege entscheidende Werte für die Ehe verlorengehn. Und schließlich beruht diese ganze Milchfütterung nur auf der uralten Vorstellung, daß die Kuhmilch bei der Wöchnerin zum Munde hereinfließt, um dann in den Brüsten wieder zum Vorschein zu kommen. Man sollte denken, allmählich hätten Verwandte, Freunde, Hebammen, zum mindesten alle Mütter sich eine ungefähre Vorstellung von Kreislauf machen können, das scheint aber nicht der Fall zu sein. Man weiß wohl, daß Blut in den Andern kreist, aber man handelt, als ob Milch darin flösse. Es ist derselbe Gedankengang, der Blutarmen Rotwein anrät, weil das Blut rot gefärbt ist. Des Herrn Mühlen mahlen langsam.
Schwangre nicht allzureichlich zu ernähren, besonders die Flüssigkeitszufuhr knapp zu halten, hat einen besondern Grund. Der leichte oder schwere Verlauf einer Geburt hängt in erster Linie von der Größe des kindlichen Kopfs ab. Wer sich einmal recht deutlich vorstellt, wie stark Gebärmutter und Scheide gedehnt werden müssen, damit ein Kindskopf hindurchgeht, der wird sich hüten, mutwillig diesen Kopf noch zu vergrößern. Tatsächlich ist aber der Kindskopf um so umfangreicher, je reichlicher die Ernährung der Mutter in den letzten Monaten war. Für das Gedeihen des Kindes ist die Größe des Kopfes im Moment der Geburt ohne jede Bedeutung, ja das Gewicht des Kindes sollte überhaupt in den mittleren Grenzen bleiben. Zu große Kinder sind dem Verderben ebensoleicht ausgesetzt wie zu kleine.
Dasselbe was hier von den Müttern gesagt wurde, gilt auch von den Kindern. Der Wettstreit der Frauen, welches Kind die meiste Milch vertilgen kann, ist weder edel noch vernünftig. Ganz abgesehn davon, daß die Fresser und Säufer unter uns, an denen unsre Nation gewiß keinen Mangel leidet, zu diesem ihrem Beruf schon als Säuglinge abgerichtet werden, sind auch die meisten der gefürchteten Brechdurchfälle auf die Überfütterung der Kinder zurückzuführen. Alle soziale Tätigkeit scheitert vorderhand an der Unkenntnis der Menschen. Es gibt immer noch genug Mütter, die Milch in ihr Kind hineintrichtern, bis es überläuft wie ein allzu volles Faß.
Ein Mittel gegen die Rachitis ist die Überernährung nicht. Wohl aber werden die Kinder dabei fett und schwer, und eine sichre Folge davon sind krumme Beine. Jede Mutter hält ihr Kind für eine Art Weltwunder, und daß sie dieses wunderbare Kind so bald wie möglich laufen sehn will, ist begreiflich. Sie wollen den Beweis des Genies leibhaftig herumschwanken sehn. Aber diese Mütter sollten bedenken, daß selbst die Knochen eines gesunden Kindes erst sehr spät stark genug werden, um die Last des Körpers zu tragen, daß aber ein weicher Knochen krumm wird, wenn man ihn belastet. Sie sollten einmal auf der Straße die Schar krummbeiniger Menschen zählen, die ihnen begegnen, ja sie haben vielleicht nichts andres nötig, als sich im Spiegel zu betrachten. Wir geben ja dank unsrer unerhörten Kulturfortschritte nicht mehr viel darauf, wie die Gestalt des Menschen aussieht; wenn nur das Gesicht glatt ist, mögen die Füße verkrüppelt sein, der Kopf kahl und die Schultern schief. Ja, nicht einmal der Leib des Mädchens gilt mehr etwas, eine jede läßt ihn sich ohne Sorge zerschneiden, da es ja gefahrlos ist; und die Narbe sieht doch nur der Liebste, und auch er erst, wenn er unlösbar gefesselt ist. Aber damit wird Krummes nicht gerade. Gesellen sich zu den krummen Beinen dann noch schiefe Hüften und ein leidlicher Buckel, wie es bei der Gewohnheit, die jungen Menschen täglich 6-10 Stunden lang während der Entwicklung auf die Schulbank zu nageln, kaum anders sein kann, dann ist allerdings ein Wunder von Kind da, und man segnet die Erfindung der Kleider, unter denen alle Greuel verborgen bleiben. Das Wachstum der Kinder zu überwachen, für das Ebenmaß ihrer Gestalt zu sorgen, ist eine dringende Aufgabe der Erziehung. Es wird von den Eltern so viel am Charakter herumerzogen und verdorben, warum geschieht es dann nicht in den äußern Dingen, die doch viel leichter zu regeln sind?
Der Natur die Bildung gerader Glieder zu überlassen, ist ebenso falsch, wie ihr die Heilung zerbrochner Knochen anzuvertrauen. Das fällt ja niemandem ein, wenn er es vermeiden kann. Es fällt selbst denen nicht ein, die die Natur gepachtet haben, unsern Naturheilkünstlern.
Ich habe schon oft versucht, hinter den Sinn des Wortes Naturheilverfahren – ein schönes Wort ist es ja – zu kommen. Er liegt, wenn ich es recht verstehe, darin, daß es im Gegensatz zu diesem Naturheilverfahren ein Kunstheilverfahren gibt. Nun, wenn man unser ärztliches Handeln eine Kunst nennt, so können wir es zufrieden sein und wollen gern unsern Gegner den Ruhm lassen, daß sie keine Künstler sind. Mir scheint jedoch in dem Anlegen eines feuchten Wickels, in einem Überguß- oder Sitzreibebade nicht mehr Natur zu sein als in dem Abnehmen eines Beins oder in dem Trinken von einem Fingerhutaufguß. Ich habe noch keinen Menschen gesehn, der sich mit einem feuchten Wickel um den Leib natürlich vorgekommen wäre. Es ist sehr freundlich von den Leuten, uns Ärzte außerhalb der Natur zu stellen, so, als ob wir deren Meister wären. Wir beanspruchen das aber nicht. Wir sind stolz darauf, Diener der Natur zu sein, nur ist das Gebiet der Natur für uns nicht gar so eng wie in jenen Köpfen. Außerhalb der Natur wirkt niemand, und jedes Heilverfahren ist ein Naturheilverfahren. Freilich Narren sind nicht zu belehren. So soll man Narren Narren sein lassen. Aber die arzneilose, operationslose Behandlung? Das klingt schon besser, wenigstens wird nicht die Mutter Natur als Reklame benutzt. Nur darf man nicht näher zusehn. Denn dann stellt sich heraus, daß das vornehmste und wichtigste Medikament, das Wasser, von diesen Leutchen nicht Arznei genannt wird, daß sie das Kochsalz, die Kohlensäure, die Zitronensäure, die Elektrizität, das Radium, die Chemie des Sonnenlichts, die Mineralquellen, ja sogar allerhand Tees zum sogenannten Blutreinigen nicht zu den Arzneimitteln zählen. Bequem ist das, aber nicht ganz ehrlich. Und nun gar operationslos. Ich bin gewiß kein Freund vom Operieren, habe in meiner zweiundzwanzigjährigen Tätigkeit vielleicht ein halbes Dutzend größerer Operationen angeraten. Aber so dumm bin ich denn doch nicht, anzunehmen, es ginge auf dem Schlachtfelde, bei den Unglücksfällen in Fabriken und anderwärts ohne das Messer. Und wie, wenn ich fragen darf, denken sich denn die Jünger der Naturheilkunde die Behandlung eines Knochenbruchs? Wollen sie den auch der Natur überlassen, operationslos behandeln? Oder ist etwa das Einrichten der Knochen keine Operation? Das ist sie wohl und unter Umständen eine recht schwierige, langwierige und blutige. Ohne Operation, das weiß jedes Kind, heilt der Knochen schief, abgesehn von ein paar Ausnahmefällen, muß schief heilen. Da ist es doch besser, man greift zur Kunst.
Man vergegenwärtige sich nur die Lage oder mache sie sich durch einen Vergleich deutlich. Nehmen wir einen...