Die Geschichte vom Neandertaler
Entdeckung
«Mettmann, den 4. Sept. Im benachbarten Neanderthale, dem sogenannten Gesteins, ist in den jüngsten Tagen ein überraschender Fund gemacht worden. Durch das Wegbrechen der Kalkfelsen, das freilich vom pittoresken Standpunkte nicht genug beklagt werden kann, gelangte man in eine Höhle, welche im Lauf der Jahrhunderte durch Thonschlamm gefüllt worden war. Bei dem Hinwegräumen dieses Thons fand man ein menschliches Gerippe, das zweifelsohne unberücksichtigt und verloren gegangen, wenn nicht glücklicherweise Dr. Fuhlrott von Elberfeld den Fund gesichert und untersucht hätte.»
Fundort, Fossil und Finder: Die zeitgenössische Beschreibung der Faktenlage der Entdeckung des später weltberühmten Neandertalers in der Elberfelder Zeitung vom 6. September 1856 erscheint, aus heutiger Sicht, eher dürftig. Der erste als solcher erkannte fossile Menschenfund fällt in eine Zeit des technischen und wissenschaftlichen Umbruchs. Die industrielle Revolution hatte Europa geprägt, und die Idee der Evolution war gerade aufgekommen. Als 1758 Carl von Linné, Schwede, gläubiger Christ und Naturwissenschaftler, bereits 100 Jahre vor dem Fund aus dem «Neanderthale» bei Mettmann den Menschen zusammen mit Halbaffen, Affen und Fledermäusen in seine Säugetierordnung der Primaten oder «Herrentiere» einordnete, reagierten seine Zeitgenossen mit Unmut. Galt doch der Affe seit dem Mittelalter als das vom Teufel geschaffene Zerrbild des Menschen. Den Menschen als das Ebenbild Gottes in eine Linie mit dem Affen zu stellen, grenzte an Gotteslästerung. Hundert Jahre später, 1859, war es dann Charles Darwin, der mit nur einer einzigen Bemerkung in seiner «Entstehung der Arten» die Frage nach der Menschwerdung aufwarf: «Light will be thrown on the origin of man and his history»: Licht werde auch fallen auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte – ein ketzerischer Satz, den der erste deutsche Übersetzer des Werkes noch so anstößig fand, daß er ihn nicht übersetzte. Die verdeckte These Darwins und seines oft vergessenen Mitstreiters Alfred Russel Wallace, daß der Mensch, wie alle anderen Lebewesen auch, das Ergebnis eines evolutiven Prozesses und nicht eines einmaligen göttlichen Schöpfungsaktes sein müsse, war revolutionär. Darwin selbst faßte seine Ansichten zur Entstehung des Menschen erst 1871 in seiner «Abstammung des Menschen» zusammen. In Deutschland waren es die Zoologen Carl Vogt und Ernst Haeckel, die der Evolutionstheorie den Weg in die Wissenschaft ebneten. 1863 hielt Haeckel einen Vortrag in dem er behauptete, es müsse ein ausgestorbenes Bindeglied zwischen Affen und Menschen geben. Er taufte dieses «missing link» auf den Namen Pithecanthropus alalus – «sprachloser Affenmensch» – und prophezeite, daß man fossile Reste dieses Urahnen in Südostasien finden werde. Haeckels Prophezeiung sollte sich, was den Fundort betrifft, erfüllen.
Die Diskussion um den Ursprung der Menschheit wurde nie wertfrei geführt, handelt es sich doch um ein Thema, das alle Menschen betrifft und mit dem ideologische und politische Interessen verbunden sind. Die Verlängerung des menschlichen Stammbaums in das Tierreich wurde von vielen als skandalös empfunden: «Nachfahren von Affen! Mein Gott, hoffen wir, daß das nicht wahr ist; sollte es aber doch wahr sein, so laßt uns dafür beten, daß es nicht allgemein bekannt wird», soll die Frau des Bischofs von Worcester nach einem Gespräch mit Darwin-Anhänger Thomas Henry Huxley im Jahre 1860 gesagt haben. Weder die inbrünstige Hoffnung der gottesgläubigen Bischofsgattin noch das bereits 1812 verhängte Edikt des französischen Naturgelehrten Georges Baron de Cuvier «L’homme fossile n’existe pas» hinderte freilich den fossilen Menschen, seinen Weg in die Welt zu finden. Der 1856 entdeckte Neandertaler bildete dafür den ersten «lebenden» Beweis.
Das Neandertal bei Mettmann, der Fundort des ersten fossilen Kronzeugen der menschlichen Urzeit, ist benannt nach dem Bremer Theologen und Kirchenlieddichter Joachim Neumann («Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren»). Ganz der Mode um 1670 entsprechend bediente er sich in Anlehnung an die Antike dem griechischen «Neander» für «Neumann». Joachim Neander, damals Rektor der Düsseldorfer Lateinschule, besuchte das «Gesteins», wie es damals noch hieß, um sich von den Bergen, Klippen, Bächen und Felsen «mit sonderbahrer Verwunderung» inspirieren zu lassen. Ganze Malergenerationen der Düsseldorfer Akademie taten es ihm gleich. Das Neandertal wurde zu einem Ort für Muße-Suchende – ein Ort der Lyrik, Skizzen und Aquarelle. Es waren wohl die pittoresk anmutenden Kalksteinfelsen und die geheimnisvollen Höhlen um den Flußlauf der Düssel, die Kunstschaffende und «Städter» in das zwei Pferdewagenstunden entfernte «Gesteins», im Volksmund auch «Hundsklipp» genannt, lockten. Unzählige «Ausflugsgesellschaften» bestellten per Kurier bei den nahe gelegenen Gasthöfen «auf 25 Personen Forellen in Bereitschaft zu halten, auch für frische Butter und Brot zu sorgen», um dann, gestärkt vom deftigen Mahl, ins Tal zu wandern.
Die malerischen Kalkfelsen zwischen Erkrath und Mettmann sind im Erdzeitalter des Devons, also vor rund 410 bis 360 Millionen Jahren entstanden. Ein flaches, tropisch-warmes Meer bedeckte damals das Gebiet Mittel- und Südeuropas. Ton und Sand wurden dabei immer wieder ins Meer gespült und dort Schicht um Schicht abgelagert. Korallenriffe entstanden, die mit den Überresten ihrer ehemaligen «Bewohner», kalkhaltigen Schneckenhäusern, im Laufe von Millionen von Jahren enorme Kalkschichten bildeten, die sich schließlich zu Kalkstein verfestigten. Überlagert wurden diese Schichten von Schiefer. Letzterer entstand, als im Oberdevon vom Festland erneut Ton und Sand ins Meer gespült wurden und dadurch der Lebensraum der Korallenriffe zerstört wurde. Im anschließenden Erdzeitalter des Karbon (360 bis 290 Millionen Jahre) kam es zu tektonischen Bewegungen, die den Kalkstein durch die überlagernden Schieferschichten hindurch ans Tageslicht schoben. Die Kalkfelsen wurden zum Festland, die Oberfläche verwitterte und wurde durch natürliche Einwirkungen wie Regen und Wind abgetragen. Weniger natürlich waren die Abtragungen, die Millionen Jahre später durch den Menschen vorgenommen wurden. Die Fels- und Höhlenlandschaft, wo gewissermaßen der Genius loci und zugleich der Genius der Paläoanthropologie – jener Wissenschaft vom urzeitlichen Menschen – geboren wurden und zu Hause waren, ist heute leider weitgehend verschwunden.
In weniger als 50 Jahren wurde das malerische Tal und seine gelblich-weißen Kalksandsteinfelsen und -höhlen durch den einsetzenden industriellen Kalksteinabbau zerstört. Ein Umstand, den Johann Carl Fuhlrott, der erste «Schatzhüter» der 1856 von zwei Steinbrucharbeitern gefundenen Gebeine des Neandertalers, in seiner Erstbeschreibung des Fossils bedauerte und doch zugleich begrüßte: «… der sinnige Naturfreund wird es ohne Zweifel beklagen, daß die unaufhaltsam fortschreitende Industrie unserer Tage sich durch die seltenen Reize der kleinen Landschaft von der theilweisen Zerstörung derselben nicht hat abhalten lassen; er wird mit seinen Klagen den lebhaften Wunsch verbinden, daß wenigstens der bis dahin intact gebliebene Theil der rechten Seite der Schlucht, in welchem sich die eigentliche Neandershöhle befindet, der Mit- und Nachwelt erhalten bleibe. Aber wie sehr man sich auch an diesen Klagen und Wünschen betheiligen möge, so ist doch nicht zu verkennen, daß ohne die von der Neanderthaler Actiengesellschaft für Marmor-Industrie auf der linken Düsselseite in Betrieb gesetzten Kalksteinbrüche der fragliche interessante Fund, wenn nicht auf immer, sich jedenfalls noch lange der wissenschaftlichen Beachtung würde entzogen haben.»
Wilhelm Beckershoff, dem Besitzer des Steinbruchs im Neandertal, ist es zu verdanken, daß die freigeschaufelten Knochen nicht im Kalkschutt der Kleinen Feldhofer Grotte – einer Höhle, deren Sedimentfüllung abgetragen wurde – untergingen. Geleitet von der Vermutung, daß es sich bei den geborgenen Fundstücken um fossile Knochen von Höhlenbären handelte, ließ er die Fragmente aus dem losen Schutt einsammeln. Damals waren fossile Tierknochen keine Besonderheit mehr. Bereits der Darmstädter Johann Heinrich Merck, ein guter Freund Goethes, sammelte, beschrieb und rekonstruierte fossile Tiere. Auch der Bonner Geologe Johann Jakob Noeggerath, der im Herbst 1852 das Neandertal und seine Höhlenlandschaft besuchte, schrieb: «Der Lehm der Höhle, welcher gewiß in der wissenschaftlich so genannten Diluvialperiode [Sintflutzeit] der Erde gebildet worden ist, scheint noch nicht durchsucht zu sein. Nach der Analogie eines solchen Vorkommens in anderen Kalksteinhöhlen ist es nicht unwahrscheinlich, daß man in denselben urweltlichen Thierknochen von Höhlenbären, Hyänen, Vielfraß u. dgl. finden könnte. Dieses...