Herkunft und Herkunftsgeschichte
Die beliebte Frage nach der Herkunft oder Urheimat der Völker ist mit Hilfe herkömmlicher historischer Fragestellungen nicht zu beantworten, weil für die antiken Ethnographen ein Volk erst existierte, wenn es in den Gesichtskreis der zivilisierten Welt getreten war. Dazu kommt, daß die Autoren die ihnen zugänglichen Informationen heranzogen, ohne nach Zeit und Ort zu differenzieren oder viel nach Veränderungen zu fragen. Selbstverständlich gab es Ausnahmen wie den römischen Geschichtsschreiber Tacitus, der den Aufstieg und Niedergang der Cherusker sehr wohl registrierte (Germania c. 36). Aber für gewöhnlich arbeiteten die Autoren „ungeschichtlich“, indem sie den Zeitfaktor mißachteten und die Objekte ihrer Darstellung als unveränderliche, eben geschichtslose Barbaren behandelten.
Als die Goten im Jahre 238 urplötzlich auftraten, als wären sie wie weiland Pallas Athene gewappnet dem Haupt des Zeus entsprungen, verstand man sie als Skythen (Dexippos frag. 20 [14]). Das heißt, man gab ihnen den Namen eines längst untergegangenen Reitervolkes der eurasischen Steppen. Unter diesem Namen überschritten barbarische Heerhaufen, die andere Quellen als Goten bezeichneten, die unterste Donau und fielen auf römisches Reichsgebiet ein. Ab 238 kann man daher mit Fug und Recht von Goten und ihrer Geschichte sprechen.
Der osteuropäischen Herkunft der Goten steht aber eine gotische Herkunftsgeschichte gegenüber, die viel weiter als 238 zurückreichen und in Skandinavien, ungefähr im Jahre 1490 vor Christus (Getica 25, 94f. und 313) beginnen will. Das heißt noch vor dem Trojanischen Krieg, von dem die Römer ihrerseits die Herkunft herleiteten. Die Herkunftsgeschichte verfaßte Cassiodorus Senator, der „Minister“ Theoderichs des Großen in Ravenna. Die Schrift entstand auf Wunsch des Königs, wurde aber erst 533 nach dessen Tod fertig und vom Autor um die Jahrhundertmitte in Konstantinopel überarbeitet. Hier redigierte das Werk der romanisierte und katholische Gote Jordanes als des Senators Origo actusque Getarum (kurz: Getica). Er brachte es in eine Form, die erhalten blieb, weil sie die historische Entwicklung von 550 berücksichtigte, während die umfangreichere Vorlage ihre Aktualität verloren hatte und daher verloren ging (Getica 1ff.).
Jordanes änderte aber nichts an Cassiodors Entwurf, der einen genetischen Zusammenhang zwischen den Goten von 238 und einem ebenfalls als Goten bezeichnetem Volk herstellte, das unter König Berig die „Insel Skandia“, Skandinavien, in drei Schiffen verließ, an der heute pommerschwestpreußischen Küste landete und von dort nach etwa fünf Generationen in den ukrainischen Raum zog (Getica 25–28; vgl. 9 und 16ff. sowie Ptolemaios II 11, 33–35). Hier nahm sich ihrer die kunstreiche Dame „Etymologie“ an und machte aus ihnen – des angeblichen Gleichklangs willen – die Geten. Von diesem, der Antike seit langem vertrauten Balkanvolk war es nicht weit zu dessen dakischen und skythischen Nachbarn, deren Geschichte ebenfalls den Goten zugesprochen wurde. Schon die jüdische Geschichtsschreibung hatte die Endzeitvölker Gog und Magog bei den Skythen gefunden, ein Wissen, das nun auf die Goten übertragen wurde, wobei die ursprünglich pejorative Bedeutung verloren ging (Getica 29). Mit der Verschriftlichung ihrer Herkunft erhielten die Goten eine neue Identität, eine den antiken Völkern vergleichbare Geschichte (Getica 40 und 69). Cassiodor folgte dabei den ethnographischen Methoden und Stilmitteln, deren sich um 100 nach Christus schon Tacitus bedient hatte, um die grundsätzlich andere barbarische Welt der Germanen zu beschreiben. Cassiodor kannte das große Vorbild und wandte seine und andere traditionelle Einsichten in vielfach erweiterter Form auf die Goten an. Das heißt, die fremden Lebensformen, Begriffe und Institutionen wurden mit den Erscheinungen der mediterranen Welt erklärt und ihnen gleichgesetzt, eine Vorgangsweise, die Tacitus interpretatio Romana nannte (Germania c. 43, 3). Nur dort, wo dies nicht möglich war, blieben fremde Namen und Ausdrücke mehr oder weniger latinisiert stehen.
In diesem Sinne machte Cassiodor die skythischen Amazonen zu gotischen Kriegerinnen, die es mit Herkules aufnahmen, der bei ihnen pflichtschuldigst einen seiner zahlreichen Söhne zeugte und ihn als Gotenkönig zurückließ, die sich aber auch mit dem athenischen Sagenkönig Theseus messen konnten. Selbstverständlich eroberten die Gotinnen beinahe Troja, erbauten jedenfalls den Dianatempel von Ephesus und herrschten an die hundert Jahre über Asien (Getica 49ff.). Ihrer männlichen Taten wegen mißachtete der Verfasser sogar die Grammatik und teilte den Amazonen maskulines Geschlecht zu (Getica 51, vgl. S. 189).
Die männlichen Goten ließen sich ebensowenig lumpen, kämpften siegreich mit Ägyptern und Persern, worauf die Makedonen ihre Freundschaft suchten und Philipp, der Vater Alexander des Großen, die Tochter des Gotenkönigs Gudila heiratete. Der berühmte Dakerkönig Burebista wurde ebenso zum Gotenkönig wie der Gete Dekaineos (Getica 39ff. und 58ff.). Unter beiden begannen die gotisch-römischen Beziehungen. Ein Sieg über die Römer zur Zeit Kaiser Domitians (81–96) – selbstverständlich der getischen Historia entnommen – motivierte die origo Amalorum, den Beginn der Amaler, des höchstrangigen gotischen Königsgeschlechts (Getica 78ff.).
Es ist dem Leser nicht zu verübeln, wenn er eine derart krause Geschichtsklitterung als Unsinn abtut. Davon werden ihn auch Hinweise auf einen gotischen Geschichtsschreiber Ablabius (Getica 28, 82 und 117) nicht abbringen. Wenn es diesen je gegeben hat, ist er bis heute ein großer Unbekannter geblieben, obwohl er die mündliche Überlieferung, auf die sich die Getica berufen, absichern soll (Getica 28). Welchen Stellenwert besitzt aber diese vor-ethnographische Tradition in der Herkunftsgeschichte? Sie hat verschiedene Namen, heißt memoria (Getica 25), vor allem ist sie eine fabula. Das Alte Testament verwendet das Wort, um den Spott der anderen Völker über das von Gott bestrafte Israel zu beschreiben (etwa 3 Reg 9, 7). In diesem Sinne kommt der Ausdruck auch in den Getica vor, wenn es um die Zurückweisung einer Altweibergeschichte geht, die die Goten herabsetzt (Getica 38). Schon der Apostel Paulus hatte vor solchen aniles fabulae gewarnt (I Tim 4, 7), und zwar ebenso wie vor der Freude an Stammbäumen, genealogiae (I Tim 1, 4). Trotzdem gibt es – und auch für diesen Wortgebrauch legen die Getica Zeugnis ab – eine ganz andere Auffassung von fabula. Sie unterscheidet sich von der die Wirklichkeit wiedergebenden historia und dem die Möglichkeit beschreibenden argumentum (Isidor, Etymologiae I 45). Eine Fabelgeschichte ist zwar contra naturam, erfunden und „gegen natürliche und vernünftige Erfahrung“, hat aber eine tiefere Bedeutung. So finden die Getica in den gotischen Fabeln, in ipsis fabulis, den Nachweis von der halbgöttlich-heroischen Herkunft der Amaler, obwohl eine derart heidnische Vorstellung für einen Christen des 6. Jahrhunderts selbstverständlich contra naturam sein muß (vgl. Getica 79 und 199, mit Variae VIII 2, 1ff.).
Die mündliche Überlieferung ist Teil der gotischen Herkunft, der Origo, die Cassiodor durch ihre Historisierung im dialektischen Sinne aufhebt: Originem Gothicam historiam fecit esse Romanam. „Er machte, daß die gotische Herkunftsgeschichte eine römische Historie ist“ (Variae IX 25, 5). Daher müssen die Fabeln samt den „alten Liedern“ und der Erinnerung verwissenschaftlicht und zur Historie erhöht werden. Das heißt, Cassiodor bindet die gotische Herkunft vornehmlich mit Hilfe der Getika, der Getengeschichte, des Griechen Dion Chrysostomos in die antike Ethnographie ein.
Allerdings war die Möglichkeit zur Historisierung der gotischen Herkunft bereits in ihr selbst angelegt. Ein Volk galt nämlich als um so zivilisierter, je länger es von Königen regiert wurde. Die Historie wird im Unterschied zu den zeitlosen Fabeln durch die Regierungszeit von Königen bestimmt. Daher ist es Cassiodor selbst, der seine gotische Herkunftsgeschichte „von einst bis heute durch die Generationen und Abfolge von Königen“ ordnet (Getica 1) und Amalasuintha ein tot reges quot parentes, „so viele Könige wie Vorfahren,“ bescheinigt (Variae XI 1, 10). Und deshalb darf es in den Getica heißen, daß die gotischen „alten Lieder fast nach historischer Art,“ prisca carmina pene storico ritu, entstanden seien (Getica 28; vgl. Germania c. 2, 2).
Mögen die Getica als historische Quelle noch so verdächtig wirken, ihre Abfassung bedurfte einer enormen Gelehrsamkeit und reicher Kenntnisse schriftlicher Vorlagen wie auch des Wissens um mündliche Überlieferungen. Allein der dafür nötige Aufwand an Papyrus oder eher schon Pergament wäre nicht zu rechtfertigen gewesen, hätte es sich...