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Die neuen Asiaten

Ein Generationenwechsel und seine Folgen

AutorUrs Schoettli
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783038239734
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,90 EUR
Der Generationenwechsel, der aktuell in Asien vonstattengeht, betrifft uns alle. Der langjährige Asienkenner Urs Schoettli wirft einen neuen Blick auf die Veränderungen und Konstanten, die s ich im Übergang der politischen und wirtschaftlichen Macht von der 68erGeneration auf deren Kinder und Enkel ergeben sowie die daraus resultierenden kulturellen und sozialen Folgen. Es handelt sich um die drei Generationen der zwischen 1930 und 1945, zwischen 1946 und 1970 und nach 1971 Geborenen. Gegliedert wird das Thema in die Vorgeschichte von China, Korea, Japan, Südostasien, Indien, Pakistan u. a., dann in die Zeitgeschichte der drei Generationen, in die wirtschaftlichen, sozialen, geopolitischen und demografischen Rahmenbedingungen sowie in die Konsequenzen, die der Generationenwechsel in Asien für Europa und die Welt haben wird.

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Leseprobe

Chinas verlorenes Jahrhundert

Die Dekadenz der letzten chinesischen Kaiserdynastie, der mandschurischen Ch’ing-Dynastie, hatte bereits kurz vor dem Ende des 18. Jahrhunderts nach dem Abtritt des grossen Kaisers Qianlong eingesetzt. Als ersten Wendepunkt in Richtung Abstieg Chinas können wir den Ersten Opiumkrieg von 1839 bis 1842 bezeichnen. Die externe Erniedrigung des Reichs der Mitte, die mit der rund hundert Jahre später erfolgenden Besetzung grosser Teile Chinas durch die Japaner ihren Höhepunkt erreichen sollte, kam erst mit der bedingungslosen Kapitulation Japans im Sommer 1945 zu ihrem Ende. Sicher hat die 1949 gegründete Volksrepublik unter der Diktatur Mao Zedongs aus eigenem Antrieb und in eigener Verantwortung grosse Verheerungen über ihr Volk gebracht. Doch sind diese für die heute gängigen Geschichtsmythen, die mit Chinas Stellung in der Welt zu tun haben, kaum relevant, werden jedoch die chinesische Historiografie noch zu beschäftigen haben.

China sieht sich seit alten Zeiten als Mitte der Welt. Je weiter ein fremdes Volk vom «Reich der Mitte» entfernt siedelte, desto geringer wurde sein zivilisatorischer Entwicklungsstand veranschlagt. Allerdings hat China nie die koloniale Expansion der europäischen Imperien mitgemacht. So sich Chinesen, wie zu den Zeiten von Admiral Zheng He (1371 bis ca. 1435), auf hohe See und an ferne Küsten begaben, nahmen sie keine kolonialen Besitzungen ein, sondern begnügten sich damit, dass die besuchten Völker dem Kaiser im fernen China als formale Oberhoheit huldigten.

Die Kontakte Chinas mit dem Westen reichen in frühe Zeiten zurück. Davon zeugen die Geschichte der Seidenstrasse und der Austausch von Handelsgütern. Indien und vor allem Sri Lanka waren für den europäisch-chinesischen Handel wichtige Zwischenstationen. Die erste europäische Niederlassung auf chinesischer Erde erfolgte mit der Gründung des portugiesischen Aussenpostens Macau im Jahre 1516. Immerhin anerkannten die Portugiesen stets die chinesische Souveränität über das Territorium, das erst 1999 in Form einer Administrativen Sonderregion wieder an China zurückfallen sollte. Der portugiesische Nadelstich an der Südküste, der winzige Ableger einer schwachen Nation im fernen Europa am Rande des Reichs der Mitte, hat die Chinesen nie beunruhigt. Mit einem Handstreich hätten sie dem portugiesischen Spuk ein ruhmloses und rasches Ende bereiten können. Doch sollte sich Macau als Umschlagplatz für den chinesisch-japanischen Handel als nützlich erweisen.

Erheblich weitreichendere Folgen hatte das Geschehen im 19. Jahrhundert. Die beiden Opiumkriege von 1839 bis 1842 beziehungsweise von 1856 bis 1860, die Nutzung von innerchinesischen Rivalitäten durch ausländische Mächte, beispielsweise während der Taiping-Rebellion von 1850 bis 1864, die chinesische Niederlage im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894 bis 1895, die Errichtung von sogenannten Konzessionen (extraterritoriale ausländische Präsenz) auf chinesischer Erde und die rege Missionstätigkeit christlicher Kirchen und Sekten untermauerten bei der chinesischen Intelligenz den Eindruck, dass sich die Ch’ing-Dynastie in einer terminalen Agonie befand und dass China durch auswärtige Mächte nach Belieben erniedrigt werden konnte.

Es waren diese Erniedrigungen durch fremde Mächte, welche die Reformkräfte, die sich für ein neues China einsetzten, zu Anti-Konfuzianern und zu Nationalisten werden liessen. Konfuzius wurde von den reformbegierigen Kräften mit dem Ancien Régime gleichgesetzt, seine Lehre und seine Werte wurden als reaktionär verschrien. In der Tat hatte sich die Ch’ing-Dynastie, wie andere Dynastien zuvor, mit dem Konfuzianismus identifiziert, wobei sie jedoch nur das übernahm, was ihren Herrschaftszwecken diente. Nationalismus, kultureller Chauvinismus und Patriotismus waren unter den Erneuerern im Schwange, nicht nur weil auswärtige Mächte die Würde Chinas schwer verletzt hatten, sondern auch weil die die Ch’ing-Dynastie selbst eine verhasste Fremdherrschaft war. Die kleine Oberschicht der Mandschuren hatte für sich die exklusive Machtausübung beansprucht und gezielt die grosse Bevölkerungsmehrheit der Han-Chinesen erniedrigt. Ein klassischer Exponent der Verbindung von Antikonfuzianismus und Patriotismus war der spätere Gründer der Republik, Sun Yat-sen. Bei seinen wiederholten Versuchen, die Ch’ing-Dynastie zu stürzen, spielte nicht nur revolutionärer Eifer, sondern eben auch der Kampf gegen eine verhasste Fremdherrschaft eine zentrale Rolle.

Mao Zedong war ebenfalls Anti-Konfuzianer, im Gegensatz zu Sun Yat-sen ermangelte es ihm aber an patriotischem Einsatz. So liess er den Kampf gegen die japanischen Besatzer primär vom Nationalistenführer Chiang Kai-shek und seinen Truppen führen. Die staatliche Neugründung nach dem Sieg der Kommunisten über die Nationalisten und deren anschliessende Vertreibung auf die Insel Taiwan, die von 1895 bis 1945 japanische Kolonie gewesen war, berief sich zunächst noch auf den kommunistischen Internationalismus. Doch schon bald nach dem Tod Stalins und der beginnenden Entstalinisierung in der Sowjetunion ging die wichtigste internationale Bindung der jungen Volksrepublik in die Brüche. In der Folge sollte Peking bis nach dem Tod Maos eine Politik der Isolation betreiben. Die wenige Jahre vor Maos Tod erfolgte Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Peking und Washington brachte zwar wichtige geopolitische Gewichtsverschiebungen in Gang, bedeutete jedoch keine umfassende Öffnung des Landes gegenüber der Aussenwelt.

Tatsächlich interessierte sich Mao kaum für den Marxismus und den im westlichen Zivilisationskreis wurzelnden Kommunismus. Er fühlte sich dem Gründer der kurzzeitigen Qin-Dynastie (221 bis 206 v. Chr.), Kaiser Qin Shihuang, verwandt, der wiederum vielen Werten und Maximen der Legalisten die Treue hielt. Der Legalismus ist eine Staatsphilosophie aus der Zeit der streitenden Reiche, die von 475 v. Chr. bis zur Gründung der Qin-Dynastie, die das Reich unter einem Kaiser einte, anhielt. Diese Lehre setzte auf eine starke Führung und eine absolute, zuweilen auch grausame Herrschaft des Gesetzes. Nach Meinung der Legalisten sind die Menschen von Natur aus schlecht und nur mithilfe von strikten gesetzlichen Kodizes zu zivilisieren und vom Krieg aller gegen alle abzuhalten. Nur mit einer starken Obrigkeit, die ihre Macht auch mit brutalen Methoden ausübt, kann Frieden geschaffen werden.

Nicht ohne Grund wurde der Legalismus während der Jahrhunderte der grossen Wirren, der sich bekämpfenden Reiche entwickelt. Mit der Verfolgung von Intellektuellen und mit Bücherverbrennungen waren seine Vertreter die frühen Vorläufer Mao Zedongs und der «Kulturrevolution». Auch Mao war schliesslich durch Zeiten grosser Wirren (Warlordismus, japanische Besetzung und Bürgerkrieg) hindurchgegangen und auch beim ihm hatte sich offensichtlich die Einsicht durchgesetzt, dass ein geeintes und souveränes China nur mit brutaler Unterdrückung zu schaffen und zu wahren sei.

Geschichtsklitterung und Propaganda

Chinas verlorenes 19. Jahrhundert bestärkte die dort lebenden Menschen, dass es die fremden Mächte waren, die das Land erniedrigen und auf alle Zeiten in der Rückständigkeit halten wollten. Um dieser Interpretation der Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen, brauchte man nicht lange nach Beweisen zu suchen. Man musste nur an die von Briten und Franzosen betriebene Plünderung und Zerstörung des alten Sommerpalasts in Peking im Zweiten Opiumkrieg denken, an die rassistischen Diskriminierungen in den fremden Konzessionen, an die Interventionen ausländischer Mächte während der Taiping-Rebellion, während des Boxeraufstands und während des Bürgerkriegs, an die ungleichen Verträge, durch die China von den Briten um Hongkong und vom russischen Zarenreich um immense Flächen in Sibirien gebracht worden ist, an die japanischen Kriegsverbrechen, an den Plan der europäischen Kolonialmächte, China wie Afrika untereinander aufzuteilen – all dies eignet sich sehr gut zur Bildung von Mythen und Legenden.

Die patriotische Aufarbeitung dieser Verwundungen wird auf immer in der chinesischen Geschichtsschreibung haften bleiben, auch wenn dereinst die aktuelle kommunistische Version ihre offizielle Allgemeinverbindlichkeit eingebüsst haben wird. Auch in der europäischen Historiografie konnten sich für den nationalen Zusammenhalt nützliche Mythen über Jahrhunderte hinweg trotz aller Zeitströmungen halten. Ein Beispiel ist der eidgenössische Mythos von Wilhelm Tell. Die wesentliche Frage lautet, was mit der praktischen Verwertung solcher Mythen geschieht, wenn die Generationen, die noch einen direkten Bezug zu ihnen haben, abgetreten sind. Im Falle der Volksrepublik betrifft dies alle Menschen, welche die Herrschaft Mao Zedongs selbst nicht direkt erlebt haben, will heissen all diejenigen Chinesen, die nach 1971 geboren sind.

Das verlorene Jahrhundert wird also in der kollektiven Wahrnehmung von Chinas Schicksal weiter wirken, aber nicht mehr denselben emotionalen Stellenwert haben. Propagandisten werden sich sicherlich auch in Zukunft immer wieder der Mythen der Erniedrigung und Bedrohung Chinas durch ausländische Kräfte bedienen. Sie werden dies tun, wenn die Bevölkerung für die aussen- und sicherheitspolitischen Absichten Pekings mobilisiert werden soll oder wenn innen- und machtpolitische Motive im Spiel sind. Die sporadischen Spannungen mit Japan zeigen, wie dies in der Praxis aussehen kann: Man mobilisiert die öffentliche Empörung über ein tatsächliches oder vorgebliches Fehlverhalten der Japaner und dämonisiert sie als ein Volk, das aus der Geschichte nichts...

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