Das himmlische Finale zum irdischen Trauerakte
Der tote König
Abb. 5: Tausende zogen vorüber –
der Katafalk Ludwigs II. in der Hofkapelle der Münchner Residenz
Es war zwei Uhr nachts, wenn nicht später. In den endlosen Gängen der Münchner Residenz herrschte gespenstische Stille. Und nirgendwo zeigte sich ein Diener! Philipp zu Eulenburg, seit knapp fünf Jahren Legationssekretär der Preußischen Gesandtschaft in Bayern, eilte orientierungslos durch die spärlich beleuchteten Korridore. Er kam von einer Unterredung mit dem preußischen Kronprinzen und dem Großherzog von Baden, die in der Residenz logierten und ihn zu sich gebeten hatten. Er sollte ihnen erzählen, was in der Nacht zum vergangenen Montag wirklich passiert war. Dieser Pflicht hatte er, aus seiner Sicht, Genüge getan. Jetzt wollte er endlich nach Hause. Aber wo ging es hinunter ins Parterre, zur Pforte, die auf die Residenzgasse hinausführte? Am Ende eines dunklen Ganges zeichnete sich eine Tür ab. Eulenburg öffnete sie – und »prallte entsetzt zurück«, wie er in seinen Erinnerungen erzählt. Denn er stand auf einer Empore der Hofkapelle und blickte direkt in den offenen Sarg Ludwigs II.: »So hoch war der Katafalk, auf dem die Leiche des Königs in der Tracht der Georgsritter [richtig müsste es heißen »Hubertusritter«] ruhte, daß sie den Rand dieser Galerie erreichte. Schauderhaft verzerrt war das rot und weiß geschminkte Totenantlitz, auf dem der Widerschein der gelben Kerzen sich spiegelte!«, so Eulenburg.
Seit Jahren hatte sich Ludwig II. kaum in seiner königlichen Haupt- und Residenzstadt München aufgehalten – manchmal nicht viel länger als jene einundzwanzig Tage, die die Verfassung dem Monarchen zwingend vorschrieb. Jetzt aber war er für immer zurückgekehrt. Und das Volk, das ihn – den Einsamen, Menschenscheuen, Weltflüchtigen – nur noch vom Hörensagen kannte, kam in hellen Scharen, um ihn ein letztes Mal zu sehen. »In der Residenzstraße war zeitweilig an ein Durchkommen gar nicht zu denken«, heißt es im Jahrbuch der Stadt München unter dem 15. Juni 1886, »zu Hunderten und Tausenden standen die Leute vor dem Portal und warteten, bis der Torflügel sich wieder einmal öffnen und einer neuen Gruppe Einlaß gewähren sollte«.
Auch die damals einundzwanzigjährige Komponistentochter Helene Raff, eine angehende Schriftstellerin und Porträtmalerin, hatte sich in die Schlange eingereiht: »Sämtliche Tore der Residenz waren geschlossen, nur das Löwentor und Apothekertor wurden alle 15 Minuten abwechselnd geöffnet, um den draußen Harrenden den Anblick des Toten zu gönnen. Sooft ein Tor aufging, drängte ein Menschenknäuel vorwärts – Stöhnen und Angstschreie der Eingepressten wurden laut. Und es regnete – regnete – regnete. Zweimal gelang es mir, den toten König zu sehen. Einmal mit meiner Mutter unter den Scharen, welche vor dem Katafalk vorüberzogen. Dann von der Galerie der Kapelle aus, wo Bekannte mich eingeschmuggelt hatten. Steil brennende Wachskerzen warfen einen rötlichen Flackerschein auf den Katafalk, an dem Georgiritter und Hartschiere Wache hielten. Geistliche knieten auf Betstühlen, knieten regungslos. Ebenso steinern standen die Wächter um den hochgebetteten, unheimlich starren Körper. Der König war, so schön die Züge auch im Tode noch erschienen, der furchtbarste Tote, den ich je bis dahin gesehen, weil der erste, dessen Antlitz von Frieden nichts wusste. Eine Bitterkeit, die es fast ins Böse verzerrte, sprach daraus. Inmitten des nur von Flüstern unterbrochenen Schweigens, der dumpfen, nach Wachs und Blumen riechenden Luft ward mir eng und beklommen ums Herz. Ich konnte erst wieder atmen, als ich draußen war.«
Abb. 6: Der Münchner »Centralbahnhof« – damals der größte der Welt
Am Tag der Beisetzung traf ein Sonderzug nach dem anderen am neueröffneten »Centralbahnhof« ein – dem damals größten der Welt. Und Zehntausende säumten die Straßen, als sich der Leichenzug am späten Vormittag bei Nieselregen in Bewegung setzte. Unter dumpfem Trommelwirbel und dem Geläut aller Glocken der Stadt führte des Königs letzter Weg von der Residenz über die Briennerstraße, den Karolinenplatz, die Arcis- und die Sophienstraße, den Stachus und die Neuhauserstraße nach St. Michael, zur Hof- und Gruftkirche der bayerischen Herrscherdynastie.
Die Geschäfte waren geschlossen, an den Fassaden der Häuser flatterten schwarze Fahnen. »Behufs Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit während der Allerhöchsten Leichenfeier« hatte man laut einem Bericht des Bayerischen Vaterlands vom 22. Juni 1886 »in den Straßen, welche der Kondukt berührt«, sogar das Rauchen verboten. Außerdem war »das Besteigen von Bauten, Baugerüsten, Leitern, Einfriedungen und Dachungen« strengstens untersagt, woran sich allerdings niemand hielt.
Abb. 7: Trotz Verbots – Blick vom Dach auf den Leichenzug
Angeführt wurde der Leichenzug von Soldaten der bayerischen Armee. Ihnen folgten die Münchner Schulkinder mit ihren Lehrern, die Ordensleute, die Diener und Hofbeamten, der Stadtklerus, die Angehörigen des königlichen Hochstifts St. Kajetan, die Oberhirten von Bamberg, Eichstätt, Passau, Regensburg und Würzburg, der Münchner Erzbischof und das Domkapitel, der königliche Kammerdiener, die Leibärzte. Erst jetzt kam der von acht Pferden gezogene, mit Kränzen geschmückte Hoftrauerwagen in den Blick, flankiert von Georgirittern, königlichen Edelknaben, Hartschieren, Kammerherren, General- und Flügeladjutanten. Dicht hinter dem Sarg schritten Kronprinz Rudolf von Österreich und Kronprinz Friedrich von Preußen – in ihrer Mitte Prinz Luitpold, der Onkel des toten Königs. Er hatte nicht nur die Nachfolge seines Neffen übernommen, weswegen er als »Prinzregent« in die Geschichte eingehen sollte. Der Fünfundsechzigjährige war nun auch das neue Familienoberhaupt der Wittelsbacher.
Helene Raff blickte von den offenen Wohnungsfenstern der Familie Cornelius in der Arcisstraße auf das düstere Spektakel: »Von der Persönlichkeit Ludwigs II. ganz abgesehen, hatte das Zeremoniell Fesselndes genug. Das gesattelte Trauerpferd, die Pagen in [den Landesfarben] Blau und Silber, welche Kerzen trugen und die Zipfel des Bahrtuches hielten, und die unmittelbar vor dem Sarg schreitenden ›Gugelmänner‹ im schwarzen, kuttenartigen Überwurf, der nur die Arme frei ließ und auf der Brustseite die Wappen des Königs nebst gekreuzten Totenbeinen zeigte« – das alles wirkte »spukhaft erschütternd«.
Abb. 8: Begleitet von schwarz vermummten Guglmännern –
der Leichenzug am Münchner Karolinenplatz
Das Grauen sollte sich allerdings noch steigern. Denn als der Sarg um halb drei Uhr nachmittags am Portal von St. Michael »von Stiftsdekan Ritter von Türk und der Hofgeistlichkeit empfangen, nach Absingung der Vigil in einen zweiten gelegt, vom Minister des königlichen Hauses versiegelt und der Gruft übergeben wurde, fuhr angesichts der hocherschreckten Menge eine mächtige Feuergarbe, ein Blitz, herab auf die St. Michaelskirche, dem ein entsetzlicher Donnerschlag folgte. Das war das himmlische Finale zu dem irdischen Trauerakte«, so der Berichterstatter des Bayerischen Vaterlands.
Das Königreich Bayern hatte in den Tagen zuvor die wohl aufwühlendsten Stunden seiner jüngeren Geschichte erlebt – einen Krimi, der als »Königskatastrophe« in die Annalen einging. Das Geschehen gibt bis heute Rätsel auf – zumal es mit einem unerhörten Vorgang begann: mit der Entmündigung und Absetzung eines regierenden Monarchen durch seine eigenen Minister und Familienangehörigen. Am frühen Morgen des 10. Juni 1886 stand die »Regentschaftsproklamation« an allen Straßenecken angeschlagen: »Unser Königliches Haus und Bayerns treubewährtes Volk ist nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse von dem erschütternden Ereignis betroffen worden, daß Unser vielgeliebter Neffe, der allerdurchlauchtigste großmächtigste König und Herr, seine Majestät König Ludwig II. an einem schweren Leiden erkrankt sind, welches Allerhöchstdieselben an der Ausübung der Regierung verhindert. Da Seine Majestät für diesen Fall weder Vorsehung getroffen haben noch dermalen treffen können, so legen Uns die Bestimmungen der Verfassungsurkunde als nächstem berufenen Agnaten die traurige Pflicht auf, die Reichsverwesung zu übernehmen. München, den 10. Juni 1886, Luitpold, Prinz von Bayern.«
Ludwig II. sollte sich zu diesem Zeitpunkt eigentlich längst in Gewahrsam befinden. Doch ein erster Versuch, ihn festzunehmen, war in der Nacht zuvor auf geradezu tragikomische Weise gescheitert: Der König, von seinem Leibkutscher gewarnt, hatte sich in Schloss Neuschwanstein verbarrikadiert, zur Verstärkung seiner Wachen Gendarmen aus dem nahen Füssen angefordert und die Feuerwehren (!) der umliegenden Dörfer alarmiert. Entsprechend unfreundlich wurde die »Fangkommission«, angeführt vom Minister des Königlichen Hauses und des Äußeren, empfangen. Unten im Dorf standen nach dem Augenzeugenbericht eines Kommissionsmitglieds »zwanzig sehr verdächtige Leute, denen man ansah, daß sie gute Lust hatten, uns in Stücke zu hauen. Oben im Schloßhof wartete eine ganze Rotte ähnlicher Gestalten, Feuerwehrleute, Bauern, Holzknechte, durch deren Reihen wir Spießruten laufen mussten.« Einer von ihnen drohte, dem...