STEPHEN E. SCHMID
INS BLAUE HINEIN - EINFÜHRUNG
Übersetzung: Peter Reichenbach
»Weil er da ist.« Das soll George Mallory einem Journalisten geantwortet haben auf die Frage, warum er den Mount Everest besteigen wolle. Es ist sicherlich das berühmteste Kletter-Zitat.1 Der Journalist ließ im Tonfall seiner Frage offensichtlich die wohlbekannte Verwirrung anklingen: Warum sollte sich jemand auf diese anscheinend bedeutungslose, unnütze, lebensgefährliche Unternehmung einlassen? Es gibt sicherlich Besseres, was man mit seinem Leben anstellen könnte! Dass Mallorys Antwort weiterhin so populär ist, liegt wohl eher an dem, was sie impliziert, als an dem, was sie tatsächlich aussagt. Besieht man sie sich nämlich im Zusammenhang mit der versuchten Everest-Besteigung, dann kann man darin weitaus mehr lesen: Es geht darum, die Grenzen des menschlich Machbaren zu verschieben. Seine Antwort inspiriert uns dazu, unsere Träume zu leben und nach Höherem zu streben; sie fordert uns auf, uns dem Unbekannten zu stellen, und erinnert uns daran, dass es für unsere Unternehmung keine anderen Gründen braucht als die Herausforderung, das Abenteuer und den Spaß am Klettern.
Wie beim Klettern kann man auch in der Philosophie Neues entdecken, wenn man sich auf unbekannte Pfade wagt. Bertrand Russell schrieb über den Wert der Philosophie: »... man soll sich mit der Philosophie nicht so sehr wegen irgendwelcher bestimmter Antworten auf ihre Fragen beschäftigen (denn in der Regel kann man diese bestimmten Antworten nicht als wahr erkennen). Man soll sich um der Fragen selber willen mit ihr beschäftigen, weil sie unsere Vorstellung von dem, was möglich ist, verbessern, unsere intellektuelle Phantasie bereichern und die dogmatische Sicherheit vermindern, die den Geist gegen alle Spekulation verschließt. Vor allem aber werden wir durch die Größe der Welt, die die Philosophie betrachtet, selber zu etwas Größerem gemacht und zu jener Einheit mit der Welt fähig, die das größte Gut ist, das man in ihr finden kann.«2
Stellt man also dem Philosophen die Frage, warum man sich mit der Philosophie befassen solle, dann könnte die Antwort ähnlich der von Mallory ausfallen: »Weil es sie gibt!«
In den letzten Jahrzehnten wurde zunehmend eine Verbindung zwischen Philosophie und Klettern gezogen, vor allem im Bereich der Ethik, wo versucht wird, Prinzipien für unser Handeln zu definieren. Der einflussreichste Essay zum Thema Klettern und Ethik wurde von Tejada-Flores im Jahr 1967 geschrieben: Games Climbers Play, der zuerst im amerikanischen Magazin Ascent erschien und später auch in einer Anthologie mit weiteren Aufsätzen übers Klettern. Dieser Essay war der Anstoß, neu über das Klettern nachzudenken. Tejada-Flores zeigte darin, dass der Klettersport eigentlich eine Ansammlung von unterschiedlichen Disziplinen ist, jede mit ganz eigenen Regeln und Schauplätzen. Vom Bouldering bis zur Bergexpedition benannte Tejada-Flores insgesamt sieben Disziplinen und gab uns damit Mittel an die Hand, neu über die Ethik des Kletterns zu sprechen. Ethisch zu klettern, so schrieb er, »bedeutet, die Regeln des Kletterstils zu beachten, in dem man sich gerade befindet«3. Indem er einen Weg fand, ethisches Klettern zu definieren, konnte er es außerdem mit einem Klettern mit Stil gleichsetzen. Ein Kletterer mit einem guten Stil klettert ganz bewusst nach den Regeln dieses speziellen Stils. Ein besserer Stil entsteht, wenn der Kletterer sich noch strengeren, noch schwieriger umzusetzenden Regeln unterwirft, um seine Kletter-Disziplin zu absolvieren (etwa indem er eine Bigwall im traditionellen Stil klettert). Heutzutage ist das Benennen der unterschiedlichen Kletterstile und die dazugehörige Ethik Teil des Kletterdiskurses und ist überall präsent, von Klettermagazinen bis hin zu Debatten am Lagerfeuer. Indem er die unterschiedlichen Kletterstile benannte, erreichte Tejada-Flores’ Essay genau das, was jede gute Philosophie tut – sie zwang uns, nachzudenken und unsere Welt neu zu verstehen. Rund zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung schrieb Ken Wilson, dass dieser Essay noch immer sehr gute Grundlagen bereithalte, um das Klettern zu verstehen.4 Wenn die philosophischen Beiträge in diesem Buch für irgendetwas stehen, dann dafür, dass Tejada-Flores’ Text noch genauso einflussreich ist wie vor vierzig Jahren.
Sieben Jahre später veröffentlichten Yvon Chouinard und Tom Frost einen gleichermaßen bedeutsamen Essay, in dem sie sich gegen ein unvernünftiges Schlagen von Griffen aussprechen und davor warnen, dass dies zu einem Verlust des Abenteuers und der Geheimnisse in der Wildnis der Berge führe; bedeuteten Klettertouren früher, sich dem Unbekannten zu stellen, so würden sie nun zur austauschbaren Routine, ähnlich dem Training in einer Sporthalle.5 Ihre Forderung nach individueller Beschränkung und Verantwortung verdeutlichte, dass Erfolg nicht dadurch definiert wird, wo man schon überall obendrauf stand, sondern dadurch, wie man klettert. Ihr Aufruf, mit so wenig Auswirkungen auf die Umwelt wie möglich zu klettern, wurde zur vorherrschenden Maxime und ist Richtlinie für das ethische Verständnis vieler Kletterer.
Wer die Beiträge im vorliegenden Buch liest, wird feststellen, in welchem Ausmaß diese frühen Essays die heutige Philosophie des Kletterns beeinflussen. Die aktuellen Essays zollen dem Weitblick dieser frühen Beiträge in jedem Fall ihre Anerkennung. Zur gleichen Zeit aber betritt dieses Buch neuen Boden, streift sensible Debatten, die rund ums Lagerfeuer geführt werden, spürt klassischen philosophischen Fragestellungen nach und freut sich an dem, was dadurch ausgelöst wird. Egal, ob Sie angehender Boulderer oder erfahrener Alpin-Kletterer sind, diese Essays werden hoffentlich helfen, zwei wichtige Fragen zu beantworten: Warum klettern? und Warum philosophieren?
Im Folgenden möchte ich Ihnen einen Überblick über die vorliegenden Essays geben und kurz darauf eingehen, welche Fragen darin jeweils behandelt werden. Es gibt vier Teile in diesem Buch. Die ersten drei Teile konzentrieren sich jeweils auf einen unterschiedlichen Aspekt des Kletterns oder auf eine philosophische Methode. Die Themen im letzten Teil sind etwas gemischter.
Teil eins widmet sich dem Aspekt, der für viele der offensichtlichste beim Klettern ist: dem Risiko. Sowohl das Klettern als auch die Philosophie sind ernsthafte Angelegenheiten. Aber ein Fehler in der Philosophie wird einen nicht das Leben kosten. Beim Klettern können selbst die einfachsten Fehler lebensbedrohlich sein. Und so fragt man sich angesichts des Risikos, warum man überhaupt den ersten Schritt in die Wand wagt? Welchen Nutzen hat das Risiko? Können wir es bei den Gefahren überhaupt rechtfertigen, klettern zu gehen? Und warum finden so viele Nicht-Kletterer das immanente Risiko so inakzeptabel? Die Autoren dieses Abschnitts beschäftigen sich mit diesen Fragen.
Der erste ist Kevin Krein. Er erforscht ein offensichtliches Paradox, das bei vielen Kletterarten zum Vorschein kommt. Viele Kletterer lieben am Klettern, neben anderen Aspekten, vor allem das Gefühl der Freiheit. Zugleich kann Klettern aber auch eine sehr einengende und begrenzende Aktivität sein: Festgesetzt zu sein durch einen Sturm in einem winddurchrüttelten Zelt, oder in einer komplizierten Felsroute zwischen schwierigen Griffen nicht vor oder zurück zu können, sind nicht unbedingt das, was man sich normalerweise unter Freiheit vorstellt. Krein nimmt in seinem Essay die altgriechischen Stoiker genauer unter die Lupe und argumentiert, dass das Risiko und andere dem Klettern immanente Eigenschaften eine einzigartige Möglichkeit bieten, Freiheit zu erfahren. Das Konzept der Freiheit kommt in der Sicht der Stoiker zum Tragen, sobald jemand in der Lage ist, seine Umgebung zu verstehen und sich ihr anzupassen. Die begrenzten Möglichkeiten, wie sie fürs Klettern typisch sind, werden durch das Risiko noch weiter eingeschränkt und ermöglichen es dem Kletterer, seinen Willen mit den Anforderungen und Möglichkeiten der Bergwelt in Einklang zu bringen. In diesen Momenten fühlt sich der Kletterer frei.
Viele, die schon etwas länger klettern, kennen jemanden, der bei einem Kletterunfall ums Leben gekommen ist, einerlei, ob es eigenes Verschulden war oder durch unvorhersehbare Ereignisse passiert ist. Paul Charlton besieht sich dieses Risiko vor dem Hintergrund des Todes seines langjährigen Kletterpartners und Freundes. Da die Risiken beim Klettern weitaus präsenter sind als die des täglichen Lebens, müssen wir, nach Charlton, den Nutzen, den uns das Klettern bringen kann, gut gegenüber den Risiken abwägen, um das Klettern rechtfertigen zu können. Für einige werden die positiven Werte und Belohnungen – etwa Freude und persönliche Entwicklung – die Risiken des Kletterns aufwiegen, die von der Verschwendung von Ressourcen bis hin zum Tod reichen. Charlton überlässt es jedem Kletterer selbst, zu entscheiden, ob der Nutzen des Kletterns das Risiko rechtfertigt.
Teil zwei konzentriert sich auf die Charakterzüge, die das Klettern hervorbringt, und fragt danach, welche davon für das Erklimmen des Gipfels am wertvollsten sind. Der erste Beitrag greift noch einmal die Frage auf: Warum klettern? Brian Treanor bezieht sich in seiner Antwort auf Aristoteles und schreibt, dass das Klettern dabei hilft, wichtige Tugenden zu etablieren, besonders Mut, Demut und Respekt für die Natur. Zwar seien dies, so Treanor, noch lange nicht alle Tugenden, und auch nicht alle Kletterer erlangten sie, doch seien dies diejenigen, die in unserer modernisierten, verweichlichten und risikoscheuen Welt besonders wichtig seien. Klettern erfüllt so gewissermaßen einen praktischen Zweck: Es kann...