VORWORT
Von Stevan Paul
Dass Kochen eventuell mehr sein könnte als einfach ein Handwerk, ahnte ich erstmals während meiner Ausbildung zum Koch im Romantikhotel Waldhorn in Ravensburg: »Kochen ist Physik und Glückssache«, pflegte mein Lehrherr Albert Bouley zu sagen, und das war mir, dem eben aus der Schule entlassenen Jungen mit staatlich attestierter Physik- und Mathe-Schwäche, ein Graus. Konnte es sein, dass ich künftig in der Küche allein auf mein Glück angewiesen sein sollte? Es stellte sich (glücklicherweise!) heraus, dass man die Naturwissenschaft erst mal umgehen konnte, Fleiß, Hingabe und eventuell ein Quäntchen Talent waren die Zahlungsmittel der ersten Jahre.
Ab Mitte der Lehrzeit dämmerte mir, dass es beim Kochen vielleicht doch um mehr gehen könnte als »das perfekte Produkt und das Wissen um die richtige Garzeit«, wie es der französische Minimalist und Starkoch Alain Ducasse einmal proklamierte.
Ich begann, Literatur über das Kochen zu lesen, stibitzte zunächst regelmäßig die neuste Ausgabe des Gourmetmagazins Der Feinschmecker vom Tresen der Hotelrezeption. Dort war in Porträts über berühmte Kollegen viel von der Philosophie der Meisterköche die Rede. Bis heute beginnen viele Interviews mit Köchen mit der Frage nach ihrer Philosophie. Die Antworten damals, Ende der Achtzigerjahre, waren so überwiegend wie flächendeckend einheitlich: frische Produkte und eine modernisierte Nouvelle Cuisine. Heute ist man bei der Beantwortung der alten Frage oft noch ähnlich einfallslos, regional und saisonal sind die Buzzwords unserer Zeit, die gerne auf die Frage nach der Philosophie eines Küchenchefs folgen. Verwechselt werden, damals wie heute, die Begriffe Küchenstil und Küchenphilosophie. Ich ahnte, es musste beim Kochen um mehr gehen als um die Idee auf dem Teller, um mehr als um die Entwicklung eines eigenen Stils, nämlich um die Entwicklung einer damit zwingend verbundenen eigenen Haltung und der Idee, durch das Kochen zu kommunizieren, sich auszudrücken, in Austausch zu treten. Ging es nicht auch darum: durch Kochen und Kulinarik die ganze Welt zu entdecken, andere Kulturen zu verstehen und dabei von der eigenen zu erzählen?
Auf die Sprünge half mir später ein ungemein schweres und nicht sehr einladend gestaltetes Buch, das ich mir 1995 zu Beginn meiner Zeit in der Redaktion der Zeitschrift essen & trinken kaufte. Ich hatte den Eindruck, außer vom Kochen selbst nichts zu wissen von der Welt, und deshalb wollte ich mir als frischgebackener Versuchskoch mit Redakteursvertrag rasch ein bisschen Hintergrund und Tiefe »draufschaffen«, zumal der männliche Part des gemischten Autorenduos zu dieser Zeit Kolumnist und Kritiker des Magazins war. Ich las also Gert von Paczenskys und Anna Dünnebiers Kulturgeschichte des Essens und Trinkens1. Das war ein bisweilen mühsames, aber lohnendes Erweckungserlebnis. Konnte es sein, dass ich ausgerechnet jenen Beruf erlernt hatte, um den sich die Welt dreht, auf dem die Welt fußt? Meine Lesereise führte mich zu den ersten Feuerstellen der Menschheit, von dort zu Brei und Brot, zu Philosophen, Gastrosophen (Bauch und Weisheit!), zu stilbildenden Köchen, zu Jean Anthelme Brillat-Savarin, Marie-Antoine Carême und Auguste Escoffier. Ich lernte, dass Kochen Kultur ist, aber auch Verortung und Heimat sein kann, Religion und Sinn, Ritual und Rausch. Im Laufe der Jahre sind die Disziplinen Philosophie und Küche eins geworden für mich, untrennbar miteinander verwoben, sei es bei der journalistischen Arbeit, sei es als Autor von Kochbüchern, die mehr sein sollen als reine Rezeptsammlungen.
Als der mairisch Verlag, in dem meine literarischen Bücher zu Hause sind, fragte, ob ich eine Philosophie des Kochens als Kurator und Herausgeber betreuen wollte, war ich sofort begeistert von der mir angetragenen Aufgabe. Gleichwohl war mir klar, wie breit, vielfältig und tief dieses Thema ist, und ich notierte auf einem Blatt Papier die Namen von klugen Menschen, von denen ich wusste, dass sie zu den unterschiedlichen Aspekten Erhellendes würden beitragen können: eine bunte Mischung aus Philosophen, Gastrosophen und Soziologen, aus forschenden Wissenschaftlern, aus praktizierenden Köchen und einem Sommelier, aus Künstlern, Journalisten und Trendforschern. Menschen, denen ich einen Antrag machte. Und alle haben sofort zugesagt. Ihnen allen gilt an dieser Stelle mein größter Dank, sie sind es, die dieses Buch zu einer wahrlich vielschichtigen Philosophie des Kochens machen, mit ihren Geschichten, Konzepten, Ideen und Forschungen, mit ihrer Kunst, ihrem Handwerk.
Weil das Heute nur versteht, wer auch die Vergangenheit kennt, eröffnet der Gastrosoph und Journalist Nikolai Wojtko den Band mit einer spannenden Geschichte zur Menschwerdung durch das Feuer und die Kulturtechnik des Kochens. Denn erst durch die regelmäßige Verwendung des Feuers entwickelte sich menschliche Kultur.
Professor Dr. Thomas A. Vilgis forscht u. a. zur statistischen Physik weicher Materie, was mich kurz an meinen Lehrherrn und das eingangs erwähnte Wechselspiel von Glück und Physik denken ließ. Thomas Vilgis ist dankenswerterweise auch leidenschaftlicher Kulinariker und als (Koch-)Buchautor und Herausgeber der Zeitschrift Journal Culinaire – Kultur und Wissenschaft des Essens Mittler und Wanderer zwischen zwei untrennbaren Disziplinen. Er schreibt in diesem Band über die Evolution des Geschmacks, über Fermentation und den Geschmack umami, über die Entkulturisierung des Essens und Unsinnigkeiten wie vegane Paleosmoothies.
Trends sind auch das Thema von Hanni Rützler und Wolfgang Reiter, die in Wien das futurefoodstudio betreiben, einen Thinktank zur Erforschung, Entwicklung und Bewertung von innovativen Konzepten und Strategien für die Lebensmittelwirtschaft. In ihrem Beitrag beleuchten sie, wie jene Generation mit dem Kochen umgeht, die keinen Hunger mehr hat, sondern Appetit und einen guten Geschmack, wie das Versorgungskochen von einst sich wandelte und Kochen zur kulinarischen Selbstdarstellungsbühne, zum Mittel zur Selbstoptimierung, zum öffentlich zur Schau getragenen Lebensentwurf, zur Ersatzreligion wurde.
Um die Essthetik des Widerstandes geht es dagegen dem Philosophen Harald Lemke, der über das Kochen selbst nachgedacht hat, über das Essenmachen als Weltrettungsaktion, über Kochen als Handwerk, als demokratisierte Alltagspraxis, als Kunstform. Lemke liefert mit seinem Beitrag ein Herzstück dieses Bandes, denn: »Wer über die kulinarische Praxis nachdenkt und Weisheit und die Wahrheit der Kunst auch in Küchen sucht, der philosophiert zugleich über das Selbstverständnis der Philosophie, einschließlich einer Philosophie der Kunst und des allgemeinen Kunstverständnisses. Denn was soll man von einem philosophischen Denken halten, dessen Relevanz sich nicht darin beweist, uns aufschlussreiche und intelligente Erkenntnisse über die alltäglichsten Dinge und Werke des menschlichen Lebens zu bieten?«
Der gelernte Koch und studierte Philosoph Malte Härtig nimmt uns mit nach Japan, jenes Land, in dem die Philosophie des Kochens, das Nachdenken über Kochen, auch den kulinarischen Alltag durchdringt. Es geht um die Wertschätzung der Produkte und um die gute Idee, dass Kochen auf dem Feld beginnt. Malte Härtig stellt uns Gedanken und Konzepte vor, die dort jahrhundertealte, gelebte Tradition bedeuten und bei uns gerade erst aktuell werden: das Interesse an Herkunft und Qualität von Produkten und die damit verbundene Wertschätzung dieser Produkte, Nachhaltigkeit und Achtsamkeit sowie die Ökonomie des Minimalismus.
In die Küchen der Welt geht es ebenfalls mit dem Essayisten und ZEIT-Journalisten Maximilian Probst, der uns die Küche und das Kochen als Ort und Praxis der Vermittlung nahebringen will. Es geht um die Entfremdung des Menschen von der Natur und darum, wie wir vom Kochen lernen können, dass es eigentlich keine Grenzen gibt, keine Grenzen geben sollte. Genauso, wie sich in einer einfachen Tomatensoße auf unserem Herd mindestens die halbe Welt befindet. Rühren lautet das Programm!
So zukünftig wie zeitgeistig denkt man im positivsten Sinne im jungen Restaurant Sosein in Heroldsberg bei Nürnberg. Das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurant gehört zu den spannendsten Adressen in Deutschland. Hier denkt das junge Team um Küchenchef Felix Schneider weiter und tiefergehend über das Kochen nach als andere. Dabei entwickelte die Küchenmannschaft eine ganz eigene Philosophie einer regionalen Küche: Sie erproben neue Kochtechniken, verändern die klassischen Küchenabläufe und erneuern die Traditionen des Gastgebens. Angesehen und aufgeschrieben hat sich das Nikolai Wojtko, in Zusammenarbeit mit Felix Schneider.
Tanja Grandits gehört zu den besten Köchinnen der Welt, Gäste und Kritiker sind gleichermaßen begeistert von ihrer farbenfrohen Aromenküche, ihrer Philosophie der monochromen Gerichte in einem Menü. Gemeinsam mit Tanja Grandits habe ich mich auf die Spuren der kulinarischen Farbenlehre begeben – und die führt direkt zum Oxford-University-Professor und Neurogastronomie-Pionier Charles Spence und der Frage, wie äußere Reize und Einflüsse unser Erleben von Geschmack und Genuss steuern können.
Der Soziologe Daniel Kofahl ergründet für uns, durchaus vergnüglich, das Feld der Gastroerotik: eine Geschichte zwischen Liebe und Libido, Food Porn, Trieb und Hunger, der Erotik des Kulinarischen und den Zusammenhängen zwischen Orgasmen und Pommes frites.
Eine Liebeserklärung an das Brot kommt von...