IV. Die postkommunistischen Gesellschaften
Die politischen Systeme in Mittel- und Südosteuropa
Über zwanzig Jahre sind seit dem Beginn des Prozesses der Transformation (hier: des Systemwechsels von kommunistischen Regimen zu Demokratien) im östlichen Europa vergangen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hatten die Staaten Mittel- und Südosteuropas vor allem zwei Umgestaltungsaufgaben zu bewältigen: die Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft. In Sachen Demokratie, mit der sich die Euphorie des Aufbruchs verband, zeigte sich alsbald eine weitgehende Ernüchterung[10]. Die Lage hatte sich als schwieriger erwiesen als ursprünglich angenommen. Neben Ländern, die die Demokratisierung erfolgreich vorangetrieben haben, stehen solche, in denen sich instabile Demokratien herausbildeten. Es vollzog sich ein Prozess der Differenzierung von Land zu Land und zwischen bestimmten Gruppen von Ländern. Während in Mitteleuropa – vor allem in Ungarn und Polen sowie in der Tschechischen Republik – relativ beachtliche Transformationserfolge zu verzeichnen sind, stagnierten viele Jahre lang die Prozesse der Umgestaltung in den südosteuropäischen Ländern Rumänien und Bulgarien. In Mitteleuropa weisen die Wahlen in Ungarn (2002, 2006 und 2010) und Polen (2001, 2005 und 2007) auf eine Festigung der demokratischen Systeme in diesen Ländern hin. Das ungarische System wurde durch die verfassungsrechtliche Verankerung eines konstruktiven Misstrauensvotums gestärkt. In Polen trug neben dem relativ erfolgreichen Übergang zur Marktwirtschaft das 1993 eingeführte Wahlgesetz (Verhältniswahlsystem mit einer Fünf-Prozent-Sperrklausel für Parteien und einer Acht-Prozent-Hürde für Wahlbündnisse) zu einer Stabilisierung des politischen Systems bei. Auch vollzog sich in diesen beiden Staaten schon vor 1989 eine verhältnismäßig lange währende partielle Liberalisierung – im Unterschied zu den osteuropäischen Staaten Bulgarien und Rumänien, in denen die Liberalisierung mit der Krise der alten Regimeeliten einherging; erst daraufhin wurden oppositionelle Parteien zugelassen und demokratische Wahlen durchgeführt.
In Mittel- und Südosteuropa befinden sich gleichwohl die politischen Systeme noch in einem Transformationsprozess, der es erschwert, sie Systemtypen zuzuordnen. Dennoch haben sich auch hier politische Systeme herausgebildet, die sich als parlamentarische oder parlamentarisch-präsidentielle Systeme bezeichnen lassen, wenngleich sie als postkommunistische demokratische Systeme von den entsprechenden Systemen in Westeuropa durch die formale Legitimität der Verfassungen (s. unten) und die Phasen der Transition (Systemwechsel) abweichen. Die meisten politischen Systeme der Region können als parlamentarische Systeme bezeichnet werden. Für die zu behandelnden Systeme trifft dies auf Ungarn, Bulgarien sowie auf die Tschechische und die Slowakische Republik zu, während die politischen Systeme Polens und Rumäniens dem parlamentarisch-präsidentiellen Systemtyp zugeordnet werden können. Diese neu verfassten Staaten lassen sich des Weiteren danach unterscheiden, welchen Einfluss die Art und Weise des Systemwechsels auf die postkommunistischen Institutionen hatte. Hier stehen politische Systeme (wie Rumänien und Bulgarien), deren Transition von den alten Regimeeliten gelenkt wurde, politischen Systemen mit einer ausgehandelten Transition gegenüber, die nur selten zu parlamentarischen Systemen (Ungarn bildet hier eine Ausnahme), sondern zumeist zu parlamentarisch-präsidentiellen Systemen führte. Darüber hinaus ist die Legitimität der demokratischen Verfassungen von Bedeutung. Ausgehend von der Frage, ob eine demokratisch gewählte verfassungsgebende Versammlung den Verfassungsentwurf erstellte oder der Verfassungsvorschlag durch ein Staatsorgan per Volksabstimmung angenommen wurde, kann zwischen einer Legitimität von oben wie im Falle Bulgariens (1991) oder einer Legitimität von unten wie im Falle Polens (1997) gesprochen werden.
Die Republiken Ungarn und Polen, die Tschechische und die Slowakische Republik
Wie in vielen postkommunistischen Ländern vollzog sich auch in Ungarn eine Politik der Kompromisse zwischen den alten Regimeeliten und den neuen demokratischen Reformkräften bei den Verhandlungen zur Verfassungsrevision am Runden Tisch, wo die Diskussionen über die Direktwahl und die Kompetenzen des Staatspräsidenten sowie über das allgemeine Wahlsystem konfliktreich verliefen. So erhofften sich die alten Regimeeliten von der Mehrheitswahl und die Opposition von der Verhältniswahl jeweils Vorteile. Die Frage der Befugnisse des Staatspräsidenten bestimmte noch die zweite Verhandlungsrunde nach den Gründungswahlen im März/April 1990, die zu einer Koalitionsregierung des Demokratischen Forums (MDF) mit den Christdemokraten (KDNP) und den Kleinlandwirten (UKD) führten. Die Postkommunisten, die Sozialistische Partei (MSZP), befürworteten nach wie vor die unmittelbare Volkswahl des Präsidenten, dem in einem parlamentarisch-präsidentiellen System relativ weite Machtbefugnisse zugeteilt worden wären. Es kam zu mehreren Referenden, die mit knapper Mehrheit die mittelbare Wahl des Präsidenten durch das Parlament beschlossen.
Die Verfassung der Republik Ungarn vom Oktober 1989 (mit den seit 1990 vorgenommenen Verfassungsänderungen) bezeichnet denn auch das Parlament, die Nationalversammlung, als das höchste Organ der Staatsgewalt, das die Grundrichtung und die Bedingungen der Regierungstätigkeit bestimmt und das neben seiner Gesetzeskompetenz und dem Budgetrecht völkerrechtliche Verträge abschließt sowie den Präsidenten, den Ministerpräsidenten, die Mitglieder des Verfassungsgerichts, die Präsidenten des Staatsrechnungshofes, den Präsidenten des Obersten Gerichts und den Generalstaatsanwalt wählt. Diese starke Stellung der Nationalversammlung wird durch eine ähnlich starke Position der Exekutive ergänzt. Im Mittelpunkt steht hier der Ministerpräsident, der auf Vorschlag des Präsidenten mit der Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Parlaments gewählt wird (womit die Annahme des Regierungsprogramms verbunden ist) und dessen Minister auf seinen Vorschlag vom Präsidenten ernannt und entlassen werden. Die Regierung kann in ihrem Zuständigkeitsbereich Verordnungen und Beschlüsse erlassen und wird durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestärkt. Der für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählte Präsident „wacht über die demokratische Funktionsweise des Staatswesens“; er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und schließt völkerrechtliche Verträge ab. Diese Kompetenzzuschreibungen sowie das System der checks and balances stellen einen beständigen verfassungsrechtlichen Rahmen dar.
In den Neuwahlen zur Nationalversammlung, die nach Inkrafttreten der überarbeiteten Verfassung stattfanden, in den Wahlen vom Mai 1994, erlangten die Sozialisten (MSZP) die Mehrheit. Die MSZP bildete mit dem Bund Freier Demokraten (SZDSZ) eine Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Gyula Horn, der ein Modernisierungsprogramm bis zum April 1995 auszuarbeiten versprach. Doch weder die neuen Privatisierungsgesetze noch konkrete politische und wirtschaftliche Pläne wurden bis zu diesem Datum vorgelegt. Zur Politik der Falschmünzerei, die die Koalitionsparteien vor 1994 in der Opposition begannen und in ihrer Regierungszeit weiterführten, kamen mehrere Korruptionsfälle. So nahm es nicht wunder, dass die Parlamentswahlen vom Mai 1998 einen deutlichen Rechtsruck brachten. Die Jungdemokraten (FIDESZ – Bürgerliche Partei) bildeten mit zwei weiteren bürgerlichen Parteien eine Regierungskoalition, die nach den Parlamentswahlen von 2002 und 2006 erneut durch ein Bündnis der Sozialisten (MSZP) mit den Linksliberalen (SZDSZ) abgelöst wurde. Die Wahlen von 2010 brachten FIDESZ eine Zweidrittelmehrheit. Damit zeigte sich bei den Wahlen von 1990 bis zu den Wahlen von 2010 ein konfliktfreier Regierungswechsel von richtungspolitisch unterschiedlichen Parteien – für die Transformationsforschung ein Hinweis auf eine demokratische Konsolidierung.
Ebenso wie in Ungarn begannen in Polen 1989 die Verhandlungen über die Verfassung am Runden Tisch, an dem die reformwilligen alten Regimeeliten und die politische Opposition schließlich ein parlamentarisch-präsidentielles System für die Polnische Republik ausarbeiteten. Es entstand zunächst die provisorische „Kleine Verfassung“ vom Oktober 1992, die jedoch die Zuständigkeiten des Präsidenten, der Regierung und des Parlaments nicht eindeutig festlegte. Im Herbst 1993 gelangte nach den Parlamentswahlen eine Koalition aus dem postkommunistischen Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) und der Bauernpartei (PSL) an die Macht. Und im April 1997 entstand nach langen Bemühungen eine neue Verfassung, die durch ein Referendum im Mai 1997 angenommen wurde.
In der neuen Verfassung, bei der das parlamentarisch-präsidentielle Modell Frankreichs (ohne das Mehrheitswahlrecht) Pate stand, wird die Position des Abgeordnetenhauses, des Sejm, und des Senats leicht und die der Exekutive erheblich gestärkt. Der Ministerrat mit seinem Präses bestimmt neben der...