B. Hauptteil
4. (Politische) Ausgangslage zur aktuellen Änderung
4.1 Istanbul-Konvention
1998 wurde eine Bulgarin (in Bulgarien) von drei Männern vergewaltigt. Da sie den kräftigeren Männern ohnmächtig gegenüberstand, verzichtete sie auf Gegenwehr. Da das bulgarische Recht vorsah, dass eine Straftat nur dann verwirklicht ist, wenn die sexuelle Handlung mittels Gewalt oder Drohung mit Gewalt durchgesetzt wird, gingen die Täter straffrei aus. Deshalb klagte die Geschädigte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser stellte 2003 fest, dass Bulgarien gegen Art. 3 (Verbot der Folter) und 8 (Recht auf Achtung des Privatlebens) der EMRK verstoßen hatte. Bulgarien vernachlässige demzufolge seine Pflichten zum Schutz seiner Bürger vor jedweder Art sexueller Gewalt oder Nötigung mittels entsprechender Gesetze und Strafverfolgung.44 Somit wurde bereits durch dieses Urteil im Jahre 2003 für alle EU-Mitgliedsstaaten entschieden, dass diese verpflichtet sind sämtliche nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen unter Strafe zu stellen und entsprechend zu verfolgen und abzuurteilen, gerade auch dann, wenn das Opfer keinen physischen Widerstand leistet.45
Am 11.05.2011 unterzeichnete Deutschland das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“46 (Istanbul-Konvention). Im dortigen Art. 36 wird festgelegt, dass die Vertragsparteien aufgefordert sind, die „erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen Maßnahmen [zu treffen], um sicherzustellen, dass […] nicht einverständliches, sexuell bestimmtes […] Eindringen in den Körper einer anderen Person […oder] sonstige nicht einverständliche sexuell bestimmte Handlungen“47 unter Strafe gestellt sind. Gleiches gilt für das Veranlassen einer Person zu Handlungen an Dritten.48 Die Istanbul-Konvention erfordert also zwei Dinge: Erstens sollen alle sexuellen Handlungen gegen den Willen einer Person unter Strafe gestellt werden. Zweitens wird von den Vertragsstaaten eine konsequente Strafverfolgung dieser Delikte erwartet.
In der Begründung eines 2014 erlassenen StÄG49 schreibt die Bundesregierung: „Ob und gegebenenfalls inwiefern aus Artikel 36 der Istanbul-Konvention gesetzgeberischer Handlungsbedarf im Hinblick auf die Strafbarkeit nicht einvernehmlicher sexueller Handlungen folgt, ist noch Gegenstand der Prüfung“50.
In den folgenden Jahren entstand eine andauernde Diskussion darüber, ob das deutsche StGB in ausreichender Weise alle relevanten strafwürdigen Handlungen abdeckt.
Bei einer sehr strikten Auslegung der Überschriften der Istanbul-Konvention könnte man zu dem Schluss kommen, dass nach wie vor (ausschließlich) die „Gewalt“ im Mittelpunkt steht. In den Artikeln zuvor geht es um „psychische Gewalt“ (Art. 33) und um „körperliche Gewalt“ (Art. 35).51 Legt man dem eine semantische Logik zu Grunde, könnte man deshalb bei enger wörtlicher Auslegung zu dem Schluss gelangen, dass Art. 36 sozusagen sexuell motivierte Gewalt beschreibt, was u.a. Fischer zu befürworten scheint.52 Dem widerspricht jedoch der erläuternde Bericht zur Istanbul-Konvention, welcher sich u.a. auf o.g. Urteil bezieht.53 Weiter heißt es dort, der Artikel berühre alle Formen sexueller Handlungen „which are performed on another person without her or his freely given consent“54 (welche ohne die freie Zustimmung/ Einwilligung/ Konsens/ Einverständnis der anderen Person erfolgen).
Fischer sieht keinen Handlungsbedarf, weil, die Istanbul-Konvention eher darauf abgezielt habe das Strafrecht von Europarats-Vertragsstaaten wie etwa Albanien, Moldau, Georgien und Aserbaidschan westlichen Standards anzugleichen.55
Eine gegenteilige Haltung vertreten diverse Frauenverbände, das Deutsche Institut für Menschenrechte oder weitere Strafrechtswissenschaftler.56 Sie sahen Handlungsbedarf, da sie auch im deutschen Recht Lücken wähnten.57 Eine besonders extreme Haltung vertreten Herning/Illgner, indem sie behaupten, Deutschland sei eine Gesellschaft „welche auf unzählige Arten Vergewaltigung begünstigt und hinnimmt. In einer solchen ‚Vergewaltigungskultur‘ werden Frauen sexuell objektifiziert, Opfer werden für ihr Verhalten verurteilt, Vergewaltigung und sexualisierte Übergriffe werden negiert und kleingeredet, Daten/ Fakten zu Vergewaltigungen werden nicht ernst genommen und sexualisierte Übergriffe werden trivialisiert“58. Die Autoren bringen, obwohl sie damit argumentieren, keine belastbaren Zahlen in ihrem Aufsatz. Fakt ist, dass die Anzahl der Delikte „Vergewaltigung/ sexuelle Nötigung“ in den Jahren 2011 bis 2015 leicht auf 7022 Fälle gefallen ist, während die Aufklärungsquote von 82,5 % auf 80,9 % gleichfalls gesunken ist.59 Im selben Jahr wurden in diesem Deliktsfeld 1038 Personen verurteilt60, was einer Quote von 15 % spricht. Somit sind keine relevanten Unterschiede zu ähnlichen Deliktsfeldern wie etwa Körperverletzung zu erkennen61. Das Dunkelfeld nun einmal ganz außer Acht gelassen, erscheint sich auf den ersten Blick kein Zusammenhang zwischen alleiniger Betrachtung von Verurteilungs- oder Aufklärungsquote und dem Bedarf nach einer Gesetzesreform zu erschließen. Zu diesem Thema existiert relativ wenig Forschungsmaterial. Man könnte genauso gut argumentieren, dass es kein Regelungsdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit geben könnte. Diese Behauptung müsste also wesentlich differenzierter betrachtet werden.62
Interessanterweise ist die Istanbul-Konvention bis heute, also auch nach der neuesten Reform 2016, noch immer nicht von der Bundesregierung ratifiziert worden.63
4.2 Schutzlücken
Mehrere deutsche Strafrechtsgelehrte befürworteten 2016 ein Handeln des Staates.64 Ihrer Auffassung nach war § 177 StGB a.F. nicht geeignet alle relevanten sexuellen Handlungen entsprechend unter Strafe zu stellen. Die Grundstruktur des § 177 a.F. weist laut Hörnle einen „Konstruktionsfehler“65 auf, da sich dieser noch immer auf die Betonung des jahrhundertealten Gewaltparadigmas beruft. Problematisch wurde die Tatsache angesehen, dass der § 177 a.F. voraussetzte, dass das Opfer genötigt wird. Fehlte eine solche Nötigung, so entfiel nach altem Recht eine Strafbarkeit.66 Zum Teil wurde die Meinung vertreten, dass sexuelle Selbstbestimmung nur dann strafrechtlich geschützt sei, wenn sie „dem Grundsatz nach wehrhaft verteidigt wird“67. Dies wurde bei genauerer Betrachtung auch durch die Systematik im StGB a.F. verdeutlicht. Im § 179 a.F. „Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen“ hieß es: „Wer eine andere Person, [welche aufgrund …] einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung […] oder körperlich zum Widerstand unfähig ist […]“68. Das heißt, es gab einen eigenen Paragraphen, der das besondere Unrecht einer solchen Straftat gegenüber Personen ausdrücken sollte, welche aus den genannten Gründen keinen Widerstand leisten können. Somit wurde impliziert, dass der eigentliche Tatbestand (§ 177 a.F.) Widerstand erforderte.
Folgende Probleme (bzw. „Schutzlücken“) waren nach herrschender Meinung im StGB a.F. zu finden, welche bislang nicht als strafwürdig erfasst wurden oder aufgrund von Auslegungsproblemen strittig erschienen:
- Fälle des § 177 Abs. I a.F., in denen der Täter kurz vor der sexuellen Handlung gemäß den tatbestandlichen Alternativen Gewalt ausübt (Alt. 1), mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben droht (Alt. 2) oder unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage das Opfer nötigt (Alt. 3), jedoch der Entschluss zur sexuellen Handlung erst später gefasst wird. Sofern das Opfer zu diesem späteren Zeitpunkt noch eingeschüchtert ist und sich deshalb nicht wehrt, fehlt es tatbestandlich am finalen Zusammenhang.69
- Fälle des § 177 Abs. I a.F., in denen der Täter zwar Gewalt ausübt, diese aber als nicht hinreichend genug eingestuft wurde.70
- Fälle in denen das Opfer mittels eines überraschenden Angriffs (und somit ohne Zwang) angegangen wird.71
- Fälle, die (aufgrund der sehr stringenten Rechtsprechung, was ursprünglich vom Gesetzgeber nicht so geplant war) objektiv nicht unter eine schutzlose Lage gem. § 177 Abs. I, 3. Alternative a.F. fallen, bei denen Opfern aber eine Wehr aussichtslos erscheint. Dies gilt insbesondere für Beziehungstaten in einem sogenannten „Klimader-Gewalt“. Die Opfer haben bereits in der Vergangenheit Gewalt durch diesen Täter erlebt und lassen die sexuellen Handlungen aus Angst vor neuen Gewalttaten über sich ergehen.72 Hat der Täter allerdings ausdrücklich oder konkludent Bezug zu zurückliegenden...