Einleitung
Die Reformation gilt als Ereignis von »epochaler« Bedeutung. Die traditionelle Periodisierung der Weltgeschichte, die mit der Reformation die Neuzeit beginnen lässt, bringt diese Auffassung am deutlichsten zum Ausdruck. Was Reformation im herkömmlichen Verständnis bedeutet, lässt sich thesenhaft mit einem kursorischen Blick auf die Wirkungen der Reformation vergegenwärtigen. Den Stellenwert der Wirkungen der Reformation hat die Forschung mit der Bezeichnung »Weltwirkung« sehr hoch angesetzt1. Darunter wird negativ die Aufspaltung der christlich-abendländischen Einheit, positiv die Herausbildung einer neuen Kultur verstanden. Beide Erscheinungen haben dieselben Ursachen: Mit der Entfaltung einer alternativen Theologie zu jener der spätmittelalterlichen römischen Kirche wird das Verhältnis des Menschen zu Gott neu bestimmt; in der Dialektik von neuer Theologie und empirisch vorfindbarer Welt entsteht notwendigerweise eine neue Sozialethik; diese »reformatorische Ethik« verändert das Verhältnis des Christen zu Gesellschaft, Wirtschaft und Staat.
Ernst Troeltsch, einer der bedeutendsten Religionssoziologen, Geschichtsphilosophen und Kulturhistoriker zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hebt auf drei Momente des fundamentalen Wandels ab, der durch die Reformation bewirkt wurde: Es sind die »religiös begründete und geweihte Verselbständigung der nationalen Kulturen«, »der mit einer prinzipiellen Kritik des Herkommens verbundene Individualismus der persönlichen Glaubensüberzeugung« und »die religiöse Heiligung der diesseitigen Weltarbeit«2.
Das von Troeltsch betonte gemeinsame Substrat des »Protestantismus«, wie er die reformatorischen Richtungen begrifflich zusammenfasst, hat freilich nicht dazu geführt, dass sich lediglich zwei Kulturen – die katholische und die protestantische – ausgeprägt hätten. Vielmehr gibt es zur je spezifischen Reformation eine ihr entsprechende Kultur. »Luthertum« und »Calvinismus« trennt nicht nur das unterschiedliche religiöse Bekenntnis, sondern auch eine unterschiedliche Auffassung von einer ethisch vertretbaren Wirtschaftsordnung beispielsweise. Das lässt sich damit erklären, dass der Protestantismus seine Theologie aus der individuellen Interpretation des Evangeliums als der Offenbarung Gottes gewinnt. Konsequenterweise entstehen so viele Theologien, davon abgeleitet unterschiedliche ethische Aussagen und mit ihrer Verwirklichung unterschiedliche Ausformungen von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat. Worin die »Weltwirkungen« der Reformation gesehen wurden, kann auswahlweise und doch mit einem hohen Anspruch auf Repräsentativität am Luthertum (1), am Calvinismus (2) und am Täufertum (3) gezeigt werden.
(1) Aus Anlass seines 70. Geburtstags wurde Thomas Mann 1945 in den USA gebeten, einen Vortrag über »Germany and the Germans« zu halten3. Manns Absicht war es, »einem gebildeten amerikanischen Publikum zu erklären, wie doch in Deutschland alles so kommen konnte«. Das Dämonische, Gewalttätige, Grobe des deutschen Faschismus, der die Welt ein Jahrzehnt in Atem gehalten hatte, und die »gewaltigen Werte«, die Deutschland geschaffen hatte, suchte Mann zu erklären. Eine Personalisierung dieser Probleme sah er in Luther. Luther war für ihn »eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens«. Er bekannte seinen Zuhörern in Washington:
»Ich liebe ihn nicht [ … ]. Das Deutsche in Reinkultur, das Separatistisch-Antirömische, Anti-Europäische befremdet und ängstigt mich, auch wenn es als evangelische Freiheit und geistliche Emanzipation erscheint, und das spezifisch Lutherische, das Cholerisch-Grobianische, das Schimpfen, Speien und Wüten, das fürchterlich Robuste, verbunden mit zarter Gemütstiefe und dem massivsten Aberglauben an Dämonen, Incubi und Kielkröpfe, erregt meine instinktive Abneigung«.
Auf der anderen Seite würdigte Mann die positive Bedeutung Luthers als Befreier aus scholastischen Zwängen und als Erwecker des individuellen Gewissens. Damit habe Luther »der Freiheit der Forschung, der Kritik, der philosophischen Spekulation gewaltigen Vorschub geleistet« und, indem er die »Unmittelbarkeit des Verhältnisses des Menschen zu seinem Gott herstellte […], die europäische Demokratie befördert«. Luther war ein »Freiheitsheld«, aber eben ein Freiheitsheld »im deutschen Stil, denn er verstand nichts von Freiheit«, da ihm alle Regungen der politischen Freiheit im tiefsten zuwider waren. So ist Luther gleichermaßen ein Repräsentant wie ein Verursacher einer im Grunde konservativen politischen Haltung – eine Interpretation, die sich jener Traditionslinie zuordnen lässt, die Luther für das deutsche Obrigkeitsdenken mitverantwortlich macht.
Man mag die distanzierte Haltung Thomas Manns gegenüber Luther und im weiteren gegenüber dem Luthertum zum Teil als Folge einer extrem deutschfeindlichen politischen Gesamtkonstellation des ersten Nachkriegsjahres werten, doch ist nicht zu übersehen, dass zeitgleich kritische Stimmen zu Luther und zum Luthertum überall dort deutlich zu hören waren, wo immer es galt, das Phänomen des Nationalsozialismus zu erklären4.
Der Schweizer Theologe Karl Barth hatte bereits 1938 in einem Vortrag ausgeführt, es sei »mit Händen zu greifen«, dass Luther und Calvin in den Fragen, die das Verhältnis des Christen zum Staat betreffen, »uns etwas schuldig geblieben sind«, und es sei die Aufgabe der Gegenwart und ihrer Theologen, dieses Vakuum auszufüllen. Deutlicher äußerte sich Barth ein Jahr später in einem Brief nach Frankreich: Deutschland leide
»an der Erbschaft eines besonders tiefsinnigen und gerade darum besonders wilden, unweisen, lebensunkundigen Heidentums. Und es leidet an der Erbschaft des größten christlichen Deutschen: an dem Irrtum Martin Luthers hinsichtlich des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium, von weltlicher und geistlicher Ordnung und Macht, durch den sein natürliches Heidentum nicht sowohl begrenzt und beschränkt als vielmehr ideologisch verklärt, bestätigt und bestärkt worden ist«5.
Der Philosoph Max Scheler, kaustischer Kritiker der zweifelhaften moralischen Normen des wilhelminischen Deutschland und der Weimarer Republik, stellt Luther an den Beginn einer »deutschen Krankheit«6. Zu ihren Symptomen gehören das Auseinandertreten von »Innerlichkeit« und »Äußerlichkeit«, von Geist und Macht, von »privater« Literatur, Kunst und Philosophie einerseits, »öffentlicher« Politik, Wirtschaft und Technik andererseits. Wechselseitige Missachtung und Geringschätzung von Geist und Macht führten dazu, dass beide ihre Verantwortung für das Ganze verlören, so aber je ein relativ autonomes Dasein führten.
»In den unsagbaren Tiefen der ›reinen Innerlichkeit‹ wird der Geist, werden die Ideen, werden Taten und Gesinnung, werden Schönheitssinn und Religion, wird selbst Christus in der Tat schlechthin harmlos, verantwortungslos, bedeutungslos; und je mehr sie dieses werden, desto hemmungsloser können Herrschsucht, Klassenegoismus, Beamtenroutine, Militärdressur, und ebenso blinder Arbeits-und Betätigungsdrang wie geschmack-und geistfreie Genußsucht sich bei denen auswirken, die zur Innerlichkeit – zu diesem einzigen Luxus der Dienenden und Gehorchenden nicht verpflichtet sind«.
Die »Innerlichen« hingegen bilden ein umso maßloseres Selbst-, ja Gottähnlichkeitsgefühl in sich aus,
»als sie für ihren systematischen Verzicht auf Verwirklichung, Darstellung ihres ›Innerlichen‹ im ungefügten ›Äußerlichen‹ jede Art von Narrenfreiheit von ihren Ernährern eingeräumt erhalten«7.
Max Scheler beklagt die Kluft zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, nicht die mit der Innerlichkeit an sich verbundenen Werte. Insofern ist sein Urteil über den Protestantismus, wie bei allen, die auf die Bedeutung der Reformation reflektiert haben, zwiespältig. Das gilt auch für Historiker im engeren Sinn.
Jacob Burckhardt anerkennt als »geistiges Resultat« der Reformation, dass »unendlich viel mehr Einzelne geistig geweckt und gereift (wurden) als vorher. Und durch die Verinnerlichung der Religion wurde das seelische mehr und in viel weiteren Kreisen ausgebildet.« Zur Bilanz der Reformationsfolgen gehört für ihn aber auch das Entstehen neuer...