Ein Knochen auf dem Schreibtisch
Die Fingerkuppe, die ich eines Morgens im Winter des Jahres 2009 auf meinem Schreibtisch vorfand, war nur noch der klägliche Rest eines Fingers. Der Nagel fehlte, die Haut sowieso, eigentlich war es nur die Spitze eines oberen Fingerknochens, nicht größer als ein Kirschkern. Sie gehörte, wie ich später herausfand, einem fünf- bis siebenjährigen Mädchen. Die Kuppe lag in einem handelsüblichen wattierten Umschlag und kam von weit her, aus Nowosibirsk. Nicht jeder ist erfreut, wenn er noch vor dem Morgenkaffee abgetrennte Körperteile aus Russland auf seinem Schreibtisch findet. Doch ich war es.
Fast ein Jahrzehnt zuvor, im Jahr 2000, hatte der amerikanische Präsident Bill Clinton im Weißen Haus eine Pressekonferenz gegeben, in der, nach zehnjähriger Arbeit und Milliarden an Investitionen in das »Humangenomprojekt«, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms verkündet wurde. DNA war damals auf einmal überall Thema, die FAZ räumte ihr Feuilleton frei, um Sequenzen des menschlichen Genoms abzudrucken – eine endlose Reihe der Basen A, T, C und G, aus denen die DNA besteht. Vielen wurde in dieser Zeit schlagartig bewusst, welche Bedeutung der Genetik künftig zukommen würde. Immerhin bestand die Aussicht, in der DNA des Menschen wie in einem Bauplan zu lesen.
2009 war die Wissenschaft diesem Ziel schon sehr viel näher. Ich arbeitete in dieser Zeit als Post-Doktorand am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, auch bekannt unter dem geradezu sinnbildlichen Kürzel MPI-EVA. Das Institut war damals schon die weltweit erste Adresse für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mithilfe hocheffizienter Technik die DNA aus alten Knochen sequenzieren wollten. Vorangegangen waren jahrzehntelange Kraftanstrengungen der genetischen Forschung, die es erst möglich machten, dass mithilfe des Fingerknochens auf meinem Schreibtisch die Entstehungsgeschichte der Menschheit ein wenig umgeschrieben wurde. Denn bei dem Fund aus Sibirien handelte es sich um die 70 000 Jahre alten Überreste eines Mädchens, das einer bisher unbekannten Urmenschenform angehörte. Das verrieten ein paar Milligramm Knochenstaub – und eine hochkomplexe Sequenziermaschine. Nur wenige Jahre zuvor wäre es technisch undenkbar gewesen, einer winzigen Fingerkuppe zu entlocken, von wem sie stammte. Und nicht nur das zeigte uns der Knochensplitter. Wir erfuhren von ihm auch, was das Mädchen mit uns heute lebenden Menschen verband – und wie es sich von uns unterschied.
Eine Billion am Tag
Die DNA als Bauplan des Lebens ist schon seit über hundert Jahren bekannt. 1953 entdeckten James Watson und Francis Crick nach Vorarbeit von Rosalind Franklin ihre Struktur, wofür beide neun Jahre später den Nobelpreis für Medizin bekamen (Franklin war zu diesem Zeitpunkt schon verstorben, im jungen Alter von 37 Jahren). Die Medizin war es auch, die seitdem die DNA-Forschung antrieb und schließlich das Humangenomprojekt einläutete.
Ein Meilenstein, um DNA zu entschlüsseln, sie also lesen zu können, war in den Achtzigerjahren die Entwicklung der Polymerase-Kettenreaktion.1 Dieses Verfahren ist eine der Grundlagen heutiger Sequenziermaschinen, die die Abfolge der Basen innerhalb eines DNA-Moleküls auslesen. Seit der Jahrtausendwende entwickelten sich die Sequenziermaschinen rasant weiter. Jeder, der sich an seinen alten Commodore 64 erinnert und heute ein Smartphone nutzt, kann sich in Ansätzen vorstellen, wie rasch die Technik auch in der Genetik voranschritt.
Ein paar Zahlen lassen erahnen, in welchen Dimensionen wir uns bewegen, wenn es um die DNA-Entschlüsselung geht: Das menschliche Genom besteht aus 3,3 Milliarden Basen.2 Um die Erbinformationen eines Menschen zu entschlüsseln, brauchte man 2003, als das Humangenomprojekt beendet wurde, noch mehr als zehn Jahre.3 Heute schaffen wir in unserem Labor eine Billion Basenpaare pro Tag. Der Durchsatz der Maschinen hat sich in den vergangenen zwölf Jahren verhundertmillionenfacht, sodass wir heute auf einer einzigen Sequenziermaschine sagenhafte 300 menschliche Genome an einem Tag decodieren können. In zehn Jahren werden weltweit mit einiger Sicherheit die Genome von Millionen Menschen entschlüsselt sein; wobei die künftigen Entwicklungen bislang fast immer unterschätzt wurden. DNA-Sequenzen werden immer schneller und kostengünstiger ausgewertet und damit für alle zur Option. Mittlerweile kostet die Untersuchung eines Genoms weniger als ein großes Blutbild – gut vorstellbar, dass es für junge Eltern bald zur Routine wird, das Genom ihres Neugeborenen zu entschlüsseln. Die DNA-Sequenzierung bietet ungeahnte Möglichkeiten, etwa bei der Früherkennung genetischer Dispositionen für bestimmte Krankheiten, und das Potenzial wird steigen.4
Während die Medizin Genome heute lebender Menschen entschlüsselt, um Krankheiten besser zu verstehen und auf dieser Grundlage neue Therapien und Arzneimittel zu entwickeln, nutzen Archäogenetiker die in der Humangenetik entwickelten Techniken, um archäologische Funde – alte Knochen, Zähne oder auch Bodenproben – zu analysieren und über die darin zu findende DNA Rückschlüsse auf die Herkunft längst verstorbener Menschen zu ziehen. Für die Archäologie eröffnen sich damit ganz neue Wege. Anders als bislang ist sie nicht mehr nur auf Theorien und Interpretationen angewiesen, sondern kann zum Beispiel Wanderungsbewegungen von Menschen auf Grundlage genetischer Analysen in bisher nicht da gewesener Präzision belegen. Die Entschlüsselung alter DNA ist für die Archäologie vergleichbar bedeutend wie eine andere technische Revolution, die auf die Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zurückgeht. Damals wurde die Altersbestimmung archäologischer Funde mit der Radiokarbonmethode auf völlig neue Grundlagen gestellt. Mit ihr konnten menschliche Überreste erstmals zuverlässig datiert werden, wenn auch nicht auf das Jahr genau.5 Die Archäogenetik ermöglicht es nun sogar, in Skelettfragmenten zu lesen und darin Zusammenhänge zu erkennen, von denen selbst die nichts wussten, denen die Knochen einst gehörten. Die menschlichen Überreste, von denen manche seit mehreren zehntausend Jahren in der Erde lagern, werden so zu wertvollen Boten aus der Vergangenheit. In ihnen stehen die Geschichten unserer Vorfahren geschrieben, die in diesem Buch – einige zum ersten Mal – erzählt werden.
1 Johannes Krause entnimmt eine DNA-Probe aus dem Oberarmknochen des Neandertalers aus dem namensgebenden Neandertal.
2 Die größte Gefahr bei der DNA-Analyse ist die Kontamination. Um eine Verunreinigung zu verhindern, werden die Knochenproben in Schutzanzügen und in luftdicht abgeriegelten Räumen entnommen.
Fortschritt durch Mutationen
Die junge Wissenschaft der Archäogenetik kann uns helfen, neue Antworten auf einige der ältesten und grundlegendsten Fragen der Menschheitsgeschichte zu finden: Was macht uns zum Menschen? Woher kommen wir? Und wie wurden wir zu denen, die wir heute sind?
Einer der wichtigsten Pioniere des Fachs ist Svante Pääbo, seit 1999 Direktor des MPI-EVA in Leipzig. Von Haus aus Mediziner, extrahierte Pääbo 1984 während seiner Promotion an der schwedischen Universität Uppsala – mehr oder weniger heimlich nachts im Labor – DNA aus einer ägyptischen Mumie. Es war der Beginn einer großen Karriere. 2003 nahm Pääbo mich in Leipzig als Diplomand an Bord. Als es zwei Jahre später darum ging, ein Thema für meine Doktorarbeit zu finden, schlug er mir vor, zusammen mit seinem Team das Neandertalergenom zu entschlüsseln. Ein Wahnsinn eigentlich: Beim damaligen Stand der Technik hätte ein solches Unternehmen Jahrzehnte in Anspruch genommen, zudem hätten wir gleich Dutzende Kilogramm wertvoller Neandertalerknochen zermahlen müssen. Doch ich vertraute Pääbo und seiner Fähigkeit, das Projekt realistisch einzuschätzen. Ich nahm den Auftrag an. Die Entscheidung erwies sich als richtig. Dank der atemberaubend schnellen Entwicklung der Sequenziertechnik schlossen wir die Arbeit drei Jahre später ab, und zwar mit sehr viel weniger Knochenarbeit.
In dieser Zeit gelangte auch das Stück Finger aus dem Altai zu mir. Solche Knochen sind die Datenträger der Archäogenetik, aus denen wir viele Schlüsse ziehen können. Zählte der Urmensch, dem der Knochen gehörte, zu unseren direkten Vorfahren oder starb seine Linie irgendwann aus? Wie unterscheidet sich sein Erbgut von unserem? Die Genome von Urmenschen werden damit zur Schablone, auf die wir unsere heutige DNA legen. Als Wissenschaftler interessieren uns die Stellen, an denen die Schablone nicht mehr passt. Das nämlich sind die Positionen, auf denen sich unsere DNA verändert hat, wo sie mutiert ist. Wenn das Wort in vielen Ohren auch einen unangenehmen Beiklang haben mag, so sind Mutationen doch der Motor der Evolution und der Grund dafür, dass sich Mensch und Schimpanse heute einander durch einen Zaun getrennt im Zoo bestaunen. Für die Archäogenetik sind Mutationen die Marksteine der Menschheitsgeschichte.
In der Zeit, die Sie zum Lesen dieses Kapitels benötigen, wird sich...