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E-Book

Ehrlichkeit ist eine Währung

Erinnerungen

AutorTheo Waigel
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783843720380
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Als Politiker kämpfte Theo Waigel entschlossen, aber stets fair. Der Grundsatz, Freund und Feind gegenüber ehrlich zu sein, durchzieht wie ein roter Faden sein Leben. Bis in die Kindheit reicht dieser Anspruch zurück - 'heuchlerisch' nennt Waigel heute das Klima der Fünfzigerjahre, in dem die NS-Verbrechen verschwiegen und verdrängt wurden. In seiner Autobiografie erinnert er sich an Weggefährten wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Franz Josef Strauß, erzählt von 1989/90 und den entscheidenden Gesprächen mit Gorbatschow, Mitterrand und Bush, die zur deutschen Einheit führten. War die Zustimmung zum Euro tatsächlich der Preis, den die Deutschen für die Wiedervereinigung zahlen mussten, wie  manche behaupten? Waigel schreibt sein politisches Vermächtnis und stellt sich den wichtigen Fragen der Gegenwart: Wohin führt der Weg der CSU? Und hat die europäische Idee noch eine Chance?

Dr. Theo Waigel, geb. 1939 in Oberrohr/Schwaben, war von 1989 bis 1998 Bundesminister der Finanzen und von 1988 bis 1999 Vorsitzender der CSU. Seit 2009 ist er Ehrenvorsitzender seiner Partei. In seine Amtszeit als Bundesfinanzminister fiel die Währungsumstellung nach der deutschen Wiedervereinigung und die Einführung des Euro. Der gelernte Jurist betreibt mit seinem Sohn eine Kanzlei in München und lebt mit seiner Frau Irene Epple-Waigel in Seeg im Allgäu.

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Leseprobe

Jahrgang 1939

Kindheit und Jugend

Wenige Monate vor einem fürchterlichen Weltkrieg begann mein Leben an einem Samstag – dem 22. April – im mittelschwäbischen Dorf Oberrohr. Schon kurz nach meiner Geburt wurde mein Vater mit 44 Jahren als Soldat eingezogen. Trotzdem wuchs ich zunächst unbesorgt und behütet auf. Maria, die aus einer früheren Beziehung meines Vaters stammte, war mir eine liebevolle ältere Schwester. Mein 13 Jahre älterer Bruder Gustl kümmerte sich in rührender Weise um mich. Ich erinnere mich noch, wie er mich mit in die Ursberger Klosterkirche nahm und hoch auf der Empore auf die Brüstung setzen wollte. Ich hatte Angst und wehrte mich heftig. Falls ich nach vorne überkippte, so glaubte ich, würde mich selbst mein großer Bruder nicht halten können. Als ich einmal unsere Katze mit dem Schwanz an den Gartenzaun angebunden hatte, wollte er mich bestrafen. Ich versuchte zu fliehen, doch vor dem Stadeltor erwischte er mich und versohlte mir kräftig den Hintern.

An Gustls Einberufung zum Wehrdienst 1943 und seinen Abschied hingegen kann ich mich nicht mehr bewusst erinnern. Umso deutlicher steht mir ein Oktobertag 1944 vor Augen: Der Bürgermeister von Oberrohr, Karl Thoma, kam ins Haus, um uns die grausame Nachricht mitzuteilen. Gustl war tot. Meine Mutter brach zusammen. Ich saß in einer Ecke der Küche auf einer Holzkiste, fast unbeteiligt, verstand nicht, was geschehen war. Eine klösterliche Krankenschwester aus Ursberg wurde gerufen, um die Mutter zu beruhigen. Tröstend nahm sie die Verzweifelte in die Arme und zeigte beschwichtigend auf mich, den kleinen Sohn. Doch dass ich meinen Eltern geblieben war, konnte deren Leid nicht lindern. Zum Gedenkgottesdienst in der Ursberger Klosterkirche kamen die Verwandten und meine Taufpatin, die meine Hand nahm. Noch war mir nicht so recht klar, welch tragische Lebenswende eingetreten war.

Tragisch auch für mich, obwohl ich das Geschehen als Kind kaum einordnen konnte. Bisweilen fand ich meine Mutter weinend am Fenster der Schlafkammer, sehnsüchtig in die Ferne schauend. Sie trauerte ihr ganzes Leben um ihren Sohn, den sie 1943 in Augsburg letztmals gesehen hatte. Er war im Juni zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und danach gleich weiter an die Westfront geschickt worden. Am 30. September 1944 war er gefallen – einen »Heldentod«, vermerkte das militärische Abschiedsschreiben seines Vorgesetzten.

Manchmal hielt meine Mutter ein kleines Paket mit ver­gilbten Kuverts in ihren Händen, die von einer Seidenschnur zusammengehalten wurden. Es waren 61 Briefe, die Gustl zwischen dem 28. August 1943 und dem 24. September 1944 an meine Eltern geschrieben hatte. Als ich sie Jahrzehnte ­später öffnete und Gustls handschriftliche Zeilen Wort für Wort entzifferte, konnte ich erstmals ermessen, wie sehr das Leben und Sterben meines Bruders mich selbst geprägt hatten. Meist schloss Gustl seine Zeilen mit vielen Grüßen »an Euch alle, besonders an Theo«. Wenn ich seinen Briefen auf diesen ersten Seiten bewusst viel Raum einräume, dann aus dem Grund, weil mir die letzten Erinnerungen an meinen gefallenen Bruder so kostbar und teuer sind. Zudem geben sie der Nachwelt ein Zeugnis gegen Krieg und Nationalismus.

Aus der Anfangszeit existiert ein Feldpostbrief vom »Panzergrenadier Waigel«, auf dem Marsch verfasst und am 14. Dezember 1943 abgestempelt. Er sei mit 45 Mann in einem Waggon, und sie hätten eben die deutsche Grenze überschritten und befänden sich nun im Elsass. Man erkenne an den Dörfern, dass sie nicht mehr den Deutschen gehörten. Er hofft auf ein baldiges Wiedersehen und grüßt Maria und Theo.

Im nächsten Brief vom 15. Dezember vermeldet Gustl, sie seien nun in Frankreich. »Wo wir sind, dürfen wir nicht schreiben, das ist ja egal.« Natürlich gehe es hier in den nächsten acht Wochen schwer zu. Was andere ausgehalten hätten, werde er wohl auch aushalten. Er wünscht alles Gute zu Weihnachten und schreibt, er wäre am Heiligen Abend gerne daheim.

Am Heiligabend 1943 berichtet mein Bruder von der trostlosen Weihnachtsfeier an der Front, die nicht vergleichbar sei mit Weihnachten zu Hause. Er spricht die Hoffnung aus, dass Theo schon eine nette Bescherung bekommen habe. Er hätte gern etwas geschickt, aber die nächste Stadt, wo man etwas kaufen könne, sei 15 Kilometer entfernt. Wo er nun sei, könne man sich ja denken – mutmaßlich war es Marseille –, schreiben dürfe er es leider nicht. Von Augsburg sei er 2000 Kilometer entfernt an der spanischen Grenze. Wieder endet sein Brief mit Grüßen an mich und die Schwester.

Am 15. Januar zeigt er sich bestürzt über die Nachricht, dass unser Nachbar Andreas Lerchner gefallen sei. Er könne es gar nicht glauben.

Und im Februar 1944 wendet er sich dann direkt an mich:

Nun lieber Theo.

Wie geht es dir denn immer? Hoffentlich gut. Denkst auch noch manchmal [an mich] oder hast du deinen bösen Bruder schon vergessen. Es freut mich schon sehr, daß du für mich betest. Nach dem Krieg komme ich schon wieder heim. Nun sei recht brav und folge Vater und Mama immer recht schön.

Dein Bruder Gustl

Ich weiß nicht mehr, ob meine Eltern mir diesen Brief vorgelesen haben. Als ich ihn vor ein paar Jahren zum ersten Mal bewusst in Händen hielt, zog sich mein Herz zusammen, und die Tränen wollten nicht versiegen.

Im Brief vom 20. März beklagt sich Gustl, dass überhaupt keine Post mehr ankomme. Sie befänden sich wieder in einer Übung und seien 180 Kilometer von ihrem eigentlichen Standort entfernt. Er wisse aber nicht, wie das Städtchen heiße. In der Nähe seien mehrere Züge in die Luft geflogen, und da könne auch die für ihn bestimmte Post vernichtet worden sein, die er so sehnlichst erwarte.

Einmal, am 25. März 1944, legt Gustl sogar ein kleines Foto von sich in Uniform bei. Es zeigt ihn, den mir kaum bildlich erinnerlichen Bruder, vor einem alten Gebäude neben einem Baum. Auf einem weiteren Foto ist er mit einem Kameraden zu sehen. Beide sehen aus wie Buben in Uniform. In seinem nächsten Brief schwingt Hoffnung mit auf einen Fronturlaub, denn »es wäre halt doch schön«, wenn er zu Hause sein könnte. Er erzählt weiter von einem Gottesdienst des Regimentspfarrers und erwähnt, dass er die Möglichkeit zum Beichten gehabt habe. »Wenn sonst eine Kirche ist, dürfen wir nicht hingehen, sonst würde ich schon öfters gehen.« Ich las aus diesen Sätzen ein unermessliches Heimweh heraus. Mein Bruder vermisste den Trost, den ein religiöses Leben, wie er es als Ministrant und aus unserem Elternhaus kannte, zu spenden vermochte.

Wenn »nur einmal der Krieg ein Ende nehmen würde«, hofft Gustl immer stärker. Besonders bewegend ist der Brief vom 7. Mai 1944, der wieder einmal direkt an mich geht:

Lieber Theo!

Will dir doch heute auch mal einige Zeilen senden. Wirst mir schon böse sein, weil ich dir so lang nicht geschrieben habe. Vielleicht komme ich bald heim zu dir, dann raufen wir wieder ein bischen, dann ist wieder alles vergessen. Nun lieber Theo, wie geht es dir immer? Hoffentlich gut. Ich werde dich halt fast nicht mehr kennen, wenn ich nach Hause komme. Nun sei immer recht brav und folge Mama und Papa immer schön und sei vielmals gegrüßt

von Gustl

Der Brief vom 17. Mai 1944 geht an die Mutter mit herzlichen Gratulationen zum Muttertag. Er könne sich nur wünschen, dass sie recht gesund bleibe und er noch lange eine gute Mutter habe. Wenn man ein Soldat sei, dann wisse man, was es wert sei, wenn man gute Eltern hat. »Ich möchte nur mal ­wieder für einige Tage nach Hause kommen«, aber es gebe dafür keine Aussicht, weil er wieder auf einen Lehrgang müsse. Wo dieser Lehrgang stattfinde, wisse er noch nicht. Er hoffe, dass die Mutter diesen einzigen Tag im Jahr auch gut verbringe.

Am 1. Juni 1944 schreibt er, er sei durch Zufall in ein Wirtshaus gekommen, und dort habe ihm die Frau gesagt, dass ihr Sohn in Thannhausen – in unmittelbarer Nachbarschaft von Oberrohr – bei den Fleischwerken Zimmermann als Metzger arbeite. Sie habe ihm sogar Bilder von Thannhausen gezeigt. Er habe ihr angeboten, dass der Sohn nach Oberrohr kommen und meine Eltern besuchen könne. Dazu ist es auch gekommen, denn der Zwangsarbeiter übersandte Gustl einen Brief mit der Bitte um Weiterleitung an seine Eltern. Dieser menschliche Vorschlag meines Bruders hat mich angerührt.

Mein Vater hatte als Maurerpolier in Ursberg während des Krieges auch französische Arbeiter zu beaufsichtigen. Als der Krieg zu Ende und Oberrohr französisch besetzt war, kam einer von diesen Fremdarbeitern zu uns ins Haus und bat seine Landsleute, doch korrekt zu uns zu sein, weil auch mein Vater gut zu ihnen gewesen sei. Damit hatte er Erfolg, denn wir kamen mit den beiden französischen Soldaten, die einige Wochen in unserem Haus wohnten, sehr gut aus.

In den folgenden Wochen werden Gustls Klagen bitterer, die Stimmung düster. Er denkt nun manchmal in vielsagenden Punkten über den »Scheißkrieg« nach – obgleich er den Ausdruck selbst weder gebrauchen wollte noch durfte. Die Soldaten seien wie »die Ratten« untergebracht. Die SS sei der Wehrmacht voraus und habe »schon vorher die Stadt durchstöbert und es hat natürlich böse ausgeschaut«. Man kann nur ahnen, was dort vorgefallen ist. Ich wünsche mir für meinen Bruder, dass er mit diesen Einsätzen und den schrecklichen Verbrechen nichts zu tun hatte. In keinem einzigen seiner Briefe taucht das Wort Hitler auf, auch nicht als Abschiedsgruß. Es...

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