I.6 Erstickt an der Mutterliebe
(Marcel Proust)
Wer sich einmal im Leben die nötige Zeit und Muße nehmen konnte, um in die Welt von Marcel Proust einzutauchen, weiß, welchen Reichtum an Gefühlen, Empfindungen, Bildern und Beobachtungen dieser Autor dem Leser schenken konnte. Um so zu schreiben, mußte auch er all diesen Reichtum durchlebt haben, als er mehrere Jahre lang an seinem Werk arbeitete. Weshalb gaben ihm diese Erlebnisse nicht die Kraft zum Leben? Weshalb starb er schon zwei Monate nach der Beendigung des Buches? Und weshalb an Erstickung? ›Weil er an Asthma gelitten hatte und schließlich eine Lungenentzündung bekam‹, wäre die übliche Antwort. Aber warum litt er an Asthma? Den ersten schweren Anfall erlebte er schon als neunjähriger Junge. Was trieb ihn in diese Krankheit? War er nicht ein geliebtes Kind seiner Mutter? Hat er ihre Liebe fühlen können, oder kämpfte er vielmehr gegen die Zweifel?
Tatsache ist, daß er die Welt seiner Beobachtungen, Gefühle und Gedanken erst beschreiben konnte, nachdem seine Mutter tot war. Manchmal erlebte er sich wie eine Zumutung für sie, er konnte sich ihr nie zeigen. Nicht so, wie er wirklich war, wie er dachte und fühlte. Das geht aus seinen Briefen an die Mutter, aus denen ich weiter unten zitiere, deutlich hervor. Sie »liebte« ihn auf ihre Weise. Sie war sehr um ihn besorgt, aber wollte über ihn in allen Einzelheiten bestimmen, ihm seine Beziehungen diktieren, sie ihm noch mit achtzehn Jahren erlauben oder verbieten, sie wollte ihn so haben, wie sie ihn brauchte, abhängig und gefügig. Er versuchte sich zu wehren, aber entschuldigte sich dafür ängstlich und verzweifelt, so sehr fürchtete er, ihre Zuwendung zu verlieren. Er suchte zwar ihre wahre Liebe sein Leben lang, mußte sich aber mit einem inneren Rückzug vor ihrer ständigen Kontrolle und ihrem Machtanspruch schützen.
Prousts Asthma brachte diese Not zum Ausdruck. Er atmete zu viel Luft (»Liebe«) ein und durfte die überflüssige Luft (Kontrolle) nicht ausatmen, nicht gegen die Vereinnahmung durch die Mutter rebellieren. Sein großartiges Werk konnte ihm zwar helfen, sich endlich auszudrücken und andere Menschen reich damit zu beschenken. Aber er litt jahrelang körperliche Qualen, weil ihm sein Leiden an der kontrollierenden und fordernden Mutter nicht vollständig bewußt werden durfte. Offenbar mußte er die verinnerlichte Mutter bis zuletzt, bis zu seinem Tode, schonen und meinte auch sich selbst vor der Wahrheit hüten zu müssen. Diesen Kompromiß hat sein Körper nicht akzeptieren können. Er kannte ja die Wahrheit, vermutlich seit Marcels Geburt. Für ihn, den Körper, waren die Manipulation und Sorge nie Ausdruck einer echten Liebe, sondern ein Zeichen der Angst. Es war wohl die Angst einer eher konventionellen, fügsamen, gutbürgerlichen Tochter vor der außergewöhnlichen Kreativität ihres Sohnes. Jeannette Proust war sehr darauf bedacht, ihre Rolle als Frau eines anerkannten Arztes gut zu spielen und in der Gesellschaft, deren Urteil ihr sehr wichtig war, geschätzt zu werden. Marcels Originalität und Lebendigkeit erlebte sie als Bedrohung, die sie mit allen Mitteln aus der Welt schaffen wollte. Das alles entging nicht dem aufgeweckten, sensiblen Kind. Aber es mußte sehr lange schweigen. Erst nach dem Tod der Mutter gelang es ihm, seine scharfen Beobachtungen zu veröffentlichen und die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit, wie wohl keiner vor ihm, kritisch darzustellen. Die eigene Mutter blieb von dieser Kritik verschont, obwohl gerade sie das lebendige Muster dafür abgegeben hatte.
Proust schrieb vierunddreißigjährig, unmittelbar nach dem Tod seiner Mutter, an Montesquiou:
»Sie weiß, daß ich außerstande bin, ohne sie zu leben . . . Von nun an hat mein Leben seinen einzigen Zweck, seine einzige Süße, seine einzige Liebe, seinen einzigen Trost verloren. Ich habe die verloren, deren nie endende Wachsamkeit mir in Frieden, in Liebe das einzige Manna meines Lebens brachte . . . Ich bin mit allen Schmerzen durchtränkt . . . Wie die Schwester sagte, die sie gepflegt hat: Ich bin für sie immer vier Jahre alt geblieben« (zit. n. Mauriac 172002, S. 10).
In dieser Schilderung seiner Liebe zur Mutter spiegelt sich Prousts tragische Abhängigkeit und Bindung an sie, die keine Befreiung ermöglichte und für einen offenen Widerstand gegen die ständige Überwachung keinen Raum ließ. Im Asthma drückte sich diese seine Not aus: ›Ich atme so viel Luft ein und darf sie nicht ausatmen, alles, was sie mir gibt, muß gut für mich sein, auch wenn ich daran ersticke.‹
Ein Rückblick auf die Kindheitsgeschichte erhellt die Ursprünge dieser Tragik, er erklärt, weshalb Proust mit allen Fasern und so lange an seiner Mutter hing, ohne sich von ihr befreien zu können, obwohl er zweifellos unter ihr gelitten hat.
Prousts Eltern haben am 3. September 1870 geheiratet, und am 10. Juli 1871 wurde ihr erster Sohn Marcel geboren. Das geschah in einer sehr unruhigen Nacht in Auteuil, wo die Bevölkerung noch unter dem Schock der preußischen Invasion stand. Man kann sich leicht vorstellen, daß sich seine Mutter kaum vollständig von der damals herrschenden Nervosität freimachen konnte, um sich innerlich ausschließlich und liebevoll auf ihr Neugeborenes einzustellen. Es ist auch naheliegend, daß der Körper des Babys die Unruhe fühlte und Zweifel an seinem Erwünschtsein spürte. In dieser Situation hätte das Kind sicher mehr Beruhigung gebraucht, als es damals erhielt. Ein solcher Mangel kann bei einem Baby unter Umständen Todesängste bewirken, die seine Kindheit später schwer belasten. So war es wohl auch bei Marcel.
Seine ganze Kindheit hindurch konnte er ohne den Gutenachtkuß der Mutter nicht einschlafen, und dieses Bedürfnis wurde um so stärker, je mehr es von den Eltern und der ganzen Umgebung als eine peinliche Unart empfunden wurde. Wie jedes Kind wollte Marcel unbedingt an die Liebe seiner Mutter glauben, doch irgendwie schien er nicht von der Erinnerung seines Körpers loszukommen, die ihn an die gemischten Gefühle seiner Mutter unmittelbar nach seiner Geburt erinnerten. Der Gutenachtkuß sollte diese erste körperliche Wahrnehmung auslöschen, aber schon am nächsten Abend meldeten sich die Zweifel erneut. Zumal die ständigen abendlichen Besuche im Salon im Kind das Gefühl wecken konnten, daß die vielen Männer und Frauen der hohen Bourgeoisie der Mutter mehr bedeuteten als er. Wie winzig klein war er doch im Vergleich mit ihnen. So lag er im Bett und wartete auf ein Zeichen der Liebe, wie er es sich gewünscht hatte. Was er indessen ununterbrochen von der Mutter erhielt, waren die Sorgen um sein gutes Benehmen, seine Angepaßtheit, seine »Normalität«.
Später, als Erwachsener, machte sich Marcel auf den Weg, um die Welt zu erforschen, die ihm seiner Empfindung nach die Liebe seiner Mutter gestohlen hatte. Er tat dies zuerst aktiv als Salondandy und später, nachdem die Mutter gestorben war, in seiner Phantasie, indem er diese Welt mit einer unerhörten Leidenschaft, Präzision und Sensibilität beschrieb. Es ist, als wäre er auf eine große Reise gegangen, um endlich die Antwort auf die Frage zu bekommen: ›Mama, warum sind all diese Leute interessanter als ich? Erkennst du nicht ihre Hohlheit, ihren Snobismus? Weshalb bedeuten dir mein Leben, meine Sehnsucht nach dir, meine Liebe zu dir so wenig? Weshalb bin ich dir lästig?‹ So hätte vielleicht das Kind gedacht, wenn es seine Emotionen hätte bewußt erleben können, aber Marcel wollte doch ein braver Junge sein und keine Probleme bereiten. Also begab er sich in die Welt seiner Mutter, und diese Welt fing an ihn zu faszinieren; er konnte sie in seinem Werk frei gestalten, wie jeder Künstler es kann, und konnte auch ungehindert Kritik an ihr üben. Und das alles tat er im Bett. Von hier aus machte er seine imaginären Reisen, als hätte ihn das Krankenlager schützen können vor den Konsequenzen seiner gigantischen Entlarvung, vor einer gefürchteten Strafe.
Einem Schriftsteller ist es möglich, seine Romanfiguren jene echten Gefühle ausdrücken zu lassen, die er in der Realität den Eltern gegenüber niemals artikulieren würde. In seinem stark autobiographisch geprägten Jugendroman Jean Santeuil, der erst postum erschien und den unter anderem auch Claude Mauriac für seine Biographie als Quelle über die Jugendjahre des Autors heranzieht, äußert Proust nämlich seine Not noch viel direkter, indem er zu verstehen gibt, daß er die Ablehnung seiner Eltern wahrgenommen hat. Er spricht von
»großen Unglückschancen . . . in der Natur dieses Sohnes, seinem Gesundheitszustand, seiner zur Traurigkeit neigenden Wesensart, seiner Verschwendungssucht, seiner Trägheit, der Unmöglichkeit für ihn, sich eine Stelle im Leben zu verschaffen« und von »der Vergeudung seiner Verstandesgaben« (Proust 1992, S. 1051).
Im gleichen Roman zeigt er noch seine Auflehnung der Mutter gegenüber, aber immer nur unter dem Namen seines Helden Jean:
»Da vermehrte sein Zorn auf sich selbst noch den gegen seine Eltern. Da sie aber die Ursache seiner Angst, dieser grausamen Untätigkeit, seines Schluchzens, seiner Migräne, seiner Schlaflosigkeit waren, hätte er ihnen gern etwas Böses zugefügt oder noch lieber gewollt, er könnte, wenn seine Mutter hereinkäme, ihr, anstatt sie mit Schmähungen zu empfangen, erklären, er verzichte auf jede Arbeit, er werde alle Nächte anderswo schlafen, er halte seinen Vater für dumm . . . und das alles nur, weil er das Bedürfnis hatte, um sich zu schlagen und ihr mit Worten, die wie Hiebe trafen, etwas von dem Bösen zurückzugeben, das sie ihm zugefügt hatte. Diese Worte aber,...