262
Kaskaden der Modernisierung
Niemand, der sich mit Problemen und Begriffen wie Moderne und Modernisierung, Epochen und Epochenübergänge, Fortschritt und Stagnation beschäftigt – zumindest niemand, der dies innerhalb der westlichen Kultur tut und mit dem Interesse, die Identität der eigenen historischen Gegenwart zu diskutieren, kann es vermeiden, sich der Tatsache einer ›unsauberen‹ Überschneidung zwischen verschiedenen Begriffen von Moderne und Modernisierung zu stellen. Wie Kaskaden scheinen diese unterschiedlichen Auffassungen von Moderne in hastigem Ablauf aufeinander zu folgen, aber rückblickend beobachtet man auch, wie sie sich überschneiden, wie ihre Wirkungen sich potenzieren und wie sie sich in einer (schwer zu beschreibenden) Dimension der Gleichzeitigkeit gegenseitig beeinflussen.
Aufgrund der Etymologie dieser Worte, die sich in den verschiedenen europäischen Sprachen vom lateinischen ›hodiernus‹ (d. h. ›heutig‹) ableiten, war es seit der Antike möglich, das Adjektiv ›modern‹ zur Unterscheidung gegenwärtiger von früheren Stadien in der Geschichte von Institutionen zu verwenden.[1] So verweist ein Ausdruck wie ›papa modernus‹ wohl kaum auf einen besonders ›aufgeschlossenen‹ (oder gar ›fortschrittlichen‹) Papst, sondern 27einfach auf den ›gegenwärtigen Papst‹ in einem bestimmten chronologischen Moment. Während dieser Wortgebrauch noch immer sehr lebendig ist, stammen die interessanten Probleme bezüglich ›modern‹ ausschließlich von einer anderen Ebene der Bedeutungen, nämlich von der gegenseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Epochenbegriffe, die alle an diesen einen Signifikanten ›modern‹ gebunden sind. Es gibt einen Begriff der Frühmoderne, der, indem er Ereignisse wie die Entdeckung der Neuen Welt oder die Erfindung der Druckerpresse[2] hervorhebt, Bewegungen und Veränderungen zusammenfasst, so dass sie den Eindruck erwecken, das, was seither das ›dunkle Mittelalter‹ genannt wurde, ›hinter sich gelassen zu haben‹. Während diese Moderne der Renaissance für das 19. Jahrhundert ein zentraler Gegenstand der Faszination war, befassen die Historiker unserer eigenen Gegenwart sich eher damit, einen komplexen Prozess der epistemologischen Modernisierung zu beschreiben, dessen Zentrum sie zwischen 1780 und 1830 vermuten.[3] Genau auf diesen Übergang als zeitgenössische Situation bezieht sich Hegel, indem er seiner eigenen Philosophie den Status verleiht, die Geschichte zum Ende zu bringen, und in einer komplementären These behauptet, die Kunst habe nunmehr ihre 28Funktionen für die Menschheit verloren. In scheinbarem Widerspruch zum hegelschen Begriff ›vom Ende der Kunstperiode‹ hat eine dritte Vorstellung der Moderne, häufig Hochmoderne genannt, einen viel engeren Anwendungsbereich. Sie beschwört eine besonders produktive Phase in der Geschichte der westlichen Literatur und Kunst während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, eine Zeit, die besonders durch radikale Programme und gewagte Experimente geprägt war.[4] Obwohl es stimmen mag, dass der Begriff der Postmoderne zuerst bei der Beschreibung bestimmter stilistischer Eigenschaften entstand, die es zuließen, einen Unterschied zwischen der Literatur und Kunst der Hochmoderne und des späten 20. Jahrhunderts zu begründen,[5] kann es keinen Zweifel darüber geben, dass dieser aktuellste Begriff der Moderne mittlerweile zum Brennpunkt einer neuen epistemologischen Diskussion geworden ist, die versucht, die Identität unseres eigenen Millennium-Endes zu bestimmen, und dabei zugleich seinem Status als Konstruktion von Zeitlichkeit besondere Aufmerksamkeit widmet.
Einen Aufsatz damit zu beginnen, auf vier unterschiedliche Konstellationen und Konzepte hinzuweisen, die leicht zu verwechseln sind, weil alle vom selben Namen ›Moderne‹ repräsentiert werden können, muss die Erwartung wecken, dass die darauf folgende Argumentation allzu leicht vorhersehbar wird. Muss ich nun nicht durchschaubarere Definitionen vorschlagen, die uns in die Lage versetzen, die vier verschiedenen Epochen der Moderne eindeutig voneinander zu unterscheiden? Ich leugne nicht, dass eine größere Klarheit bei der Verwendung dieser Begriffe hilfreich wäre. Aber trotzdem muss man betonen, dass (anders als bei systematischen Begriffen) die Probleme, welche den historiographischen Begriffen innewohnen, nicht durch transparente oder sogar konsensuelle Definitionen gelöst werden können. Es ist weniger die Aufgabe des Historikers, Klarheit durch Definitionen zu gewinnen, als immer komplexere und anspruchsvollere Beschreibungen der vergangenen Momente und Situationen zu entwickeln – Beschreibungen, die in 29immer komplexeren Begriffen von der Epoche reflektiert werden. Im Grunde sollte es nicht unser Interesse sein, die Vergangenheit zu beseitigen, indem wir sie mit stromlinienförmigen Begriffen kontrollieren, sondern eher, uns selbst und unsere Gegenwart mit möglichst reichhaltigen Bildern der historischen Verschiedenheit zu konfrontieren. Deshalb ist es, indem ich versuche, die Unterschiede zwischen den vier erwähnten ›Modernen‹ hervorzuheben, mein Ziel, die Dynamik ihrer kaskadenartigen Folge als eine Vorgeschichte zu analysieren, die uns dabei helfen wird, den besonderen historischen Status unserer Jetztzeit zu erfassen. Innerhalb dieser ganz konventionellen hermeneutischen Prozedur der Gegenüberstellung von Gegenwart und Vergangenheit steht jedoch etwas weniger Konventionelles auf dem Spiel. Es könnte ja sehr wohl der Fall sein, dass die Möglichkeit eines solchen Gegensatzes vom Chronotopen der ›historischen Zeit‹ abhinge – den wir oft als ein metahistorisches Phänomen missverstehen, obwohl die Dauer seiner Existenz (höchstens) auf die Zeitspanne der verschiedenen Modernen begrenzt ist. Wenn es sich herausstellen würde, dass in den und durch die Kaskaden der Modernisierung der Chronotop der historischen Zeit zu seinem Ende gekommen ist, dann würde die Beschreibung der Vergangenheit nicht mehr – zumindest nicht mehr notwendigerweise – als ein Hintergrund für die Identifizierung der Gegenwart dienen. In diesem Falle hätte die historische Analyse der Kaskaden von Modernisierung den Status einer ›mise-en-abime‹ für diesen Typus von Analyse und für den Chronotop ›historische Zeit‹ als ihre zentrale Voraussetzung.
Frühmodern
Die Reihe von Innovationen, welche, wie ich bereits angedeutet habe, durch die Druckerpresse und die Entdeckung des amerikanischen Kontinents metonymisch repräsentiert werden kann, verweist auf die Entstehung des westlichen Typs der Subjektivität – einer Subjektivität, die sich zur Rolle des Beobachters erster Ordnung[6] und zur Funktion der Produktion von Wissen verdichtet 30hat. Im Gegensatz hierzu präsentierte während des Mittelalters das vorherrschende Selbstbild des Menschen diesen als Teil einer göttlichen Schöpfung, deren Wahrheit entweder dem menschlichen Verstehen entzogen oder im besten Falle durch Gottes Offenbarung enthüllt war. Statt neues Wissen zu produzieren, war es vielmehr die Aufgabe menschlichen Studiums, alles offenbarte Wissen vor dem Vergessen zu bewahren – und diese offenbarte Wahrheit durch die Predigt und vor allem das Feiern der Sakramente präsent werden zu lassen.[7] Die zentrale Verschiebung hin zur Moderne liegt deshalb in der Möglichkeit, sich selbst in der Rolle des Subjekts zu sehen (was im Zusammenhang mit der protestantischen Theologie den Status der Sakramente zu einem reinen Akt der Erinnerung macht). Anstatt Teil der Welt zu sein, sieht sich das moderne Subjekt als ihr gegenüber exzentrisch, und anstatt sich selbst als Einheit von Körper und Geist zu beschreiben,[8] beansprucht das Subjekt – zumindest das Subjekt als exzentrischer Beobachter und als Produzent von Wissen[9] –, ein rein geistiges und geschlechtsneutrales zu sein. Diese – horizontale – Achse der Konfrontation des geistigen Subjektes mit einer Welt aus Objekten (welche den Körper des Subjekts einschließt) ist die erste strukturelle Vorbedingung der frühen Moderne. Ihre zweite Vorbedingung liegt in der Idee einer – vertikalen – Bewegung, mit der das Subjekt die Welt der Objekte liest oder interpretiert. Indem es die Welt der Objekte wie eine Oberfläche durchdringt, ihre Elemente als Signifikanten entziffert und diese, sobald ihnen eine Bedeutung verliehen wurde, als bloße 31Materialität hinter sich lässt, glaubt das Subjekt, die geistige Tiefe des Signifikats und der Bedeutung, d. h. die endgültige Wahrheit der Welt zu erreichen. Der Schnittpunkt dieser beiden Polaritäten – zwischen Subjekt und Objekt, Oberfläche und Tiefe – hat schon Jahrhunderte vor der Institutionalisierung der Hermeneutik als philosophische Teildisziplin das ›hermeneutische Feld‹ konstituiert.[10] Das hermeneutische Feld impliziert die Annahme, dass die Signifikanten als der materiellen Oberfläche der Welt zugehörig niemals ausreichen, um die ganze Wahrheit auszudrücken, die in ihrer geistigen Tiefe präsent ist, und begründet deshalb die beständige Forderung nach Interpretation als einem Akt, der die Unzulänglichkeiten des Ausdrucks ausgleicht. Obwohl es gute Gründe gibt, anzunehmen, dass das hermeneutische Feld seit dem 18. Jahrhundert den Höhepunkt seiner Komplexität und Akzeptanz überschritten hat, liegt es natürlich unseren konventionellen Begriffen von Literatur, Kunst und sogar von Wissen noch immer gleichsam ›natürlich‹ zugrunde. Dies ist umso erstaunlicher, da das hermeneutische Feld seit dem Ende der Aufklärung einer ununterbrochenen Folge von Herausforderungen und Krisen ausgesetzt...