Sie sind hier
E-Book

Präsenz

AutorHans Ulrich Gumbrecht
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl360 Seiten
ISBN9783518782804
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR


<p>Hans Ulrich Gumbrecht wurde 1948 in Würzburg geboren. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca (Spanien) und Pavia (Italien). Nach seiner Habilitation 1974 war er von 1975-1982 Professor in Bochum und von 1983-1989 an der Universität in Siegen. Von 1989 bis 2018 hatte er den Lehrstuhl für Komparatistik an der Stanford University inne. Gegenwärtig ist er ständiger Gastprofessor an der Université de Montréal, am Collège de France sowie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2015 den Kulturpreis der Stadt Würzburg.</p>

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

262
Kaskaden der Modernisierung


Niemand, der sich mit Problemen und Begriffen wie Moderne und Modernisierung, Epochen und Epochenübergänge, Fortschritt und Stagnation beschäftigt – zumindest niemand, der dies innerhalb der westlichen Kultur tut und mit dem Interesse, die Identität der eigenen historischen Gegenwart zu diskutieren, kann es vermeiden, sich der Tatsache einer ›unsauberen‹ Überschneidung zwischen verschiedenen Begriffen von Moderne und Modernisierung zu stellen. Wie Kaskaden scheinen diese unterschiedlichen Auffassungen von Moderne in hastigem Ablauf aufeinander zu folgen, aber rückblickend beobachtet man auch, wie sie sich überschneiden, wie ihre Wirkungen sich potenzieren und wie sie sich in einer (schwer zu beschreibenden) Dimension der Gleichzeitigkeit gegenseitig beeinflussen.

Aufgrund der Etymologie dieser Worte, die sich in den verschiedenen europäischen Sprachen vom lateinischen ›hodiernus‹ (d. h. ›heutig‹) ableiten, war es seit der Antike möglich, das Adjektiv ›modern‹ zur Unterscheidung gegenwärtiger von früheren Stadien in der Geschichte von Institutionen zu verwenden.[1] So verweist ein Ausdruck wie ›papa modernus‹ wohl kaum auf einen besonders ›aufgeschlossenen‹ (oder gar ›fortschrittlichen‹) Papst, sondern 27einfach auf den ›gegenwärtigen Papst‹ in einem bestimmten chronologischen Moment. Während dieser Wortgebrauch noch immer sehr lebendig ist, stammen die interessanten Probleme bezüglich ›modern‹ ausschließlich von einer anderen Ebene der Bedeutungen, nämlich von der gegenseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Epochenbegriffe, die alle an diesen einen Signifikanten ›modern‹ gebunden sind. Es gibt einen Begriff der Frühmoderne, der, indem er Ereignisse wie die Entdeckung der Neuen Welt oder die Erfindung der Druckerpresse[2] hervorhebt, Bewegungen und Veränderungen zusammenfasst, so dass sie den Eindruck erwecken, das, was seither das ›dunkle Mittelalter‹ genannt wurde, ›hinter sich gelassen zu haben‹. Während diese Moderne der Renaissance für das 19. Jahrhundert ein zentraler Gegenstand der Faszination war, befassen die Historiker unserer eigenen Gegenwart sich eher damit, einen komplexen Prozess der epistemologischen Modernisierung zu beschreiben, dessen Zentrum sie zwischen 1780 und 1830 vermuten.[3] Genau auf diesen Übergang als zeitgenössische Situation bezieht sich Hegel, indem er seiner eigenen Philosophie den Status verleiht, die Geschichte zum Ende zu bringen, und in einer komplementären These behauptet, die Kunst habe nunmehr ihre 28Funktionen für die Menschheit verloren. In scheinbarem Widerspruch zum hegelschen Begriff ›vom Ende der Kunstperiode‹ hat eine dritte Vorstellung der Moderne, häufig Hochmoderne genannt, einen viel engeren Anwendungsbereich. Sie beschwört eine besonders produktive Phase in der Geschichte der westlichen Literatur und Kunst während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, eine Zeit, die besonders durch radikale Programme und gewagte Experimente geprägt war.[4] Obwohl es stimmen mag, dass der Begriff der Postmoderne zuerst bei der Beschreibung bestimmter stilistischer Eigenschaften entstand, die es zuließen, einen Unterschied zwischen der Literatur und Kunst der Hochmoderne und des späten 20. Jahrhunderts zu begründen,[5] kann es keinen Zweifel darüber geben, dass dieser aktuellste Begriff der Moderne mittlerweile zum Brennpunkt einer neuen epistemologischen Diskussion geworden ist, die versucht, die Identität unseres eigenen Millennium-Endes zu bestimmen, und dabei zugleich seinem Status als Konstruktion von Zeitlichkeit besondere Aufmerksamkeit widmet.

Einen Aufsatz damit zu beginnen, auf vier unterschiedliche Konstellationen und Konzepte hinzuweisen, die leicht zu verwechseln sind, weil alle vom selben Namen ›Moderne‹ repräsentiert werden können, muss die Erwartung wecken, dass die darauf folgende Argumentation allzu leicht vorhersehbar wird. Muss ich nun nicht durchschaubarere Definitionen vorschlagen, die uns in die Lage versetzen, die vier verschiedenen Epochen der Moderne eindeutig voneinander zu unterscheiden? Ich leugne nicht, dass eine größere Klarheit bei der Verwendung dieser Begriffe hilfreich wäre. Aber trotzdem muss man betonen, dass (anders als bei systematischen Begriffen) die Probleme, welche den historiographischen Begriffen innewohnen, nicht durch transparente oder sogar konsensuelle Definitionen gelöst werden können. Es ist weniger die Aufgabe des Historikers, Klarheit durch Definitionen zu gewinnen, als immer komplexere und anspruchsvollere Beschreibungen der vergangenen Momente und Situationen zu entwickeln – Beschreibungen, die in 29immer komplexeren Begriffen von der Epoche reflektiert werden. Im Grunde sollte es nicht unser Interesse sein, die Vergangenheit zu beseitigen, indem wir sie mit stromlinienförmigen Begriffen kontrollieren, sondern eher, uns selbst und unsere Gegenwart mit möglichst reichhaltigen Bildern der historischen Verschiedenheit zu konfrontieren. Deshalb ist es, indem ich versuche, die Unterschiede zwischen den vier erwähnten ›Modernen‹ hervorzuheben, mein Ziel, die Dynamik ihrer kaskadenartigen Folge als eine Vorgeschichte zu analysieren, die uns dabei helfen wird, den besonderen historischen Status unserer Jetztzeit zu erfassen. Innerhalb dieser ganz konventionellen hermeneutischen Prozedur der Gegenüberstellung von Gegenwart und Vergangenheit steht jedoch etwas weniger Konventionelles auf dem Spiel. Es könnte ja sehr wohl der Fall sein, dass die Möglichkeit eines solchen Gegensatzes vom Chronotopen der ›historischen Zeit‹ abhinge – den wir oft als ein metahistorisches Phänomen missverstehen, obwohl die Dauer seiner Existenz (höchstens) auf die Zeitspanne der verschiedenen Modernen begrenzt ist. Wenn es sich herausstellen würde, dass in den und durch die Kaskaden der Modernisierung der Chronotop der historischen Zeit zu seinem Ende gekommen ist, dann würde die Beschreibung der Vergangenheit nicht mehr – zumindest nicht mehr notwendigerweise – als ein Hintergrund für die Identifizierung der Gegenwart dienen. In diesem Falle hätte die historische Analyse der Kaskaden von Modernisierung den Status einer ›mise-en-abime‹ für diesen Typus von Analyse und für den Chronotop ›historische Zeit‹ als ihre zentrale Voraussetzung.

Frühmodern


Die Reihe von Innovationen, welche, wie ich bereits angedeutet habe, durch die Druckerpresse und die Entdeckung des amerikanischen Kontinents metonymisch repräsentiert werden kann, verweist auf die Entstehung des westlichen Typs der Subjektivität – einer Subjektivität, die sich zur Rolle des Beobachters erster Ordnung[6] und zur Funktion der Produktion von Wissen verdichtet 30hat. Im Gegensatz hierzu präsentierte während des Mittelalters das vorherrschende Selbstbild des Menschen diesen als Teil einer göttlichen Schöpfung, deren Wahrheit entweder dem menschlichen Verstehen entzogen oder im besten Falle durch Gottes Offenbarung enthüllt war. Statt neues Wissen zu produzieren, war es vielmehr die Aufgabe menschlichen Studiums, alles offenbarte Wissen vor dem Vergessen zu bewahren – und diese offenbarte Wahrheit durch die Predigt und vor allem das Feiern der Sakramente präsent werden zu lassen.[7] Die zentrale Verschiebung hin zur Moderne liegt deshalb in der Möglichkeit, sich selbst in der Rolle des Subjekts zu sehen (was im Zusammenhang mit der protestantischen Theologie den Status der Sakramente zu einem reinen Akt der Erinnerung macht). Anstatt Teil der Welt zu sein, sieht sich das moderne Subjekt als ihr gegenüber exzentrisch, und anstatt sich selbst als Einheit von Körper und Geist zu beschreiben,[8] beansprucht das Subjekt – zumindest das Subjekt als exzentrischer Beobachter und als Produzent von Wissen[9] –, ein rein geistiges und geschlechtsneutrales zu sein. Diese – horizontale – Achse der Konfrontation des geistigen Subjektes mit einer Welt aus Objekten (welche den Körper des Subjekts einschließt) ist die erste strukturelle Vorbedingung der frühen Moderne. Ihre zweite Vorbedingung liegt in der Idee einer – vertikalen – Bewegung, mit der das Subjekt die Welt der Objekte liest oder interpretiert. Indem es die Welt der Objekte wie eine Oberfläche durchdringt, ihre Elemente als Signifikanten entziffert und diese, sobald ihnen eine Bedeutung verliehen wurde, als bloße 31Materialität hinter sich lässt, glaubt das Subjekt, die geistige Tiefe des Signifikats und der Bedeutung, d. h. die endgültige Wahrheit der Welt zu erreichen. Der Schnittpunkt dieser beiden Polaritäten – zwischen Subjekt und Objekt, Oberfläche und Tiefe – hat schon Jahrhunderte vor der Institutionalisierung der Hermeneutik als philosophische Teildisziplin das ›hermeneutische Feld‹ konstituiert.[10] Das hermeneutische Feld impliziert die Annahme, dass die Signifikanten als der materiellen Oberfläche der Welt zugehörig niemals ausreichen, um die ganze Wahrheit auszudrücken, die in ihrer geistigen Tiefe präsent ist, und begründet deshalb die beständige Forderung nach Interpretation als einem Akt, der die Unzulänglichkeiten des Ausdrucks ausgleicht. Obwohl es gute Gründe gibt, anzunehmen, dass das hermeneutische Feld seit dem 18. Jahrhundert den Höhepunkt seiner Komplexität und Akzeptanz überschritten hat, liegt es natürlich unseren konventionellen Begriffen von Literatur, Kunst und sogar von Wissen noch immer gleichsam ›natürlich‹ zugrunde. Dies ist umso erstaunlicher, da das hermeneutische Feld seit dem Ende der Aufklärung einer ununterbrochenen Folge von Herausforderungen und Krisen ausgesetzt...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Buch3
Impressum5
Inhalt6
Teil 1: Zeit8
1 Posthistoire Now10
2 Kaskaden der Modernisierung27
3 nachMODERNE ZEITENräume50
4 Die Gegenwart wird (immer) breiter67
Teil 2: Die Rahmen der Disziplinen90
1 Literaturgeschichte – Fragment einer geschwundenen Totalität?92
2 Die Anfänge der Literaturwissenschaft – und ihr Ende?108
3 Von der Lesbarkeit der Welt zu ihrer Emergenz123
4 Die Aufgabe der Geisteswissenschaften heute146
Teil 3: Suche170
1 Ein Abschiedsgruß an die Interpretation172
2 Das Nicht-Hermeneutische191
Teil 4: Präsenzen212
1 Zehn kurze Überlegungen zu Institutionen und Re/Präsentation214
2 Rhythmus und Sinn224
3 Wahrnehmung versus Erfahrung oder die schnellen Bilder und ihre Interpretationsresistenz241
4 Die Schönheit des Mannschaftssports: American Football im Stadion und im Fernsehen262
5 Präsenz-Spuren292
6 Präsenz. Gelassenheit310
7 Epiphanien333
Nachwort von Jürgen Klein353
Drucknachweise360

Weitere E-Books zum Thema: Literatur - Sprache - Literaturwissenschaft

Der Gral. Mythos und Literatur

E-Book Der Gral. Mythos und Literatur
Mertens, Volker - Entwicklung einer Legende - 1., Aufl. - Reclam Literaturstudium  Format: PDF

Der Gral ist der faszinierendste, fruchtbarste der aus dem Mittelalter überkommenen Mythen. Sein Ursprung verliert sich im Dunkel der keltischen Vorzeit, was folgte, war eine jahrhundertlange…

Der Gral. Mythos und Literatur

E-Book Der Gral. Mythos und Literatur
Mertens, Volker - Entwicklung einer Legende - 1., Aufl. - Reclam Literaturstudium  Format: PDF

Der Gral ist der faszinierendste, fruchtbarste der aus dem Mittelalter überkommenen Mythen. Sein Ursprung verliert sich im Dunkel der keltischen Vorzeit, was folgte, war eine jahrhundertlange…

Instrumente in Kunst und Wissenschaft

E-Book Instrumente in Kunst und Wissenschaft
Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert Format: PDF

This volume presents a collection of original papers at the intersection of philosophy, the history of science, cultural and theatrical studies. Based on a series of case studies on the 17th…

Instrumente in Kunst und Wissenschaft

E-Book Instrumente in Kunst und Wissenschaft
Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert Format: PDF

This volume presents a collection of original papers at the intersection of philosophy, the history of science, cultural and theatrical studies. Based on a series of case studies on the 17th…

Instrumente in Kunst und Wissenschaft

E-Book Instrumente in Kunst und Wissenschaft
Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert Format: PDF

This volume presents a collection of original papers at the intersection of philosophy, the history of science, cultural and theatrical studies. Based on a series of case studies on the 17th…

Weitere Zeitschriften

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

Berufsstart Bewerbung

Berufsstart Bewerbung

»Berufsstart Bewerbung« erscheint jährlich zum Wintersemester im November mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und ermöglicht Unternehmen sich bei Studenten und Absolventen mit einer ...

Burgen und Schlösser

Burgen und Schlösser

aktuelle Berichte zum Thema Burgen, Schlösser, Wehrbauten, Forschungsergebnisse zur Bau- und Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Denkmalschutz Seit ihrer Gründung 1899 gibt die Deutsche ...

e-commerce magazin

e-commerce magazin

e-commerce magazin Die Redaktion des e-commerce magazin versteht sich als Mittler zwischen Anbietern und Markt und berichtet unabhängig, kompetent und kritisch über ...

filmdienst#de

filmdienst#de

filmdienst.de führt die Tradition der 1947 gegründeten Zeitschrift FILMDIENST im digitalen Zeitalter fort. Wir begleiten seit 1947 Filme in allen ihren Ausprägungen und Erscheinungsformen.  ...