7Rainer Forst
VORWORT
»Die Herausbildung normativer Ordnungen« – so lauten Titel und Programm eines interdisziplinären Forschungsverbundes an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, der seit 2007 im Rahmen der Exzellenzinitiative gefördert wird.[1] Der Begriff der »normativen Ordnung« wurde von uns gewählt, um zu betonen, dass wir gesellschaftliche Ordnungen primär als »Rechtfertigungsordnungen« verstehen: als Ordnungen, die, wie auch immer sie konkret aussehen, einen Anspruch auf Legitimität stellen und in diesem Sinne als dynamische und häufig auch widersprüchliche Gebilde anzusehen sind. Sie beruhen nicht nur auf einer einzigen Rechtfertigung, und ihre Rechtfertigungen sind komplexer Art und in der Regel umstritten. Wir sind davon überzeugt, dass die dadurch ermöglichte Sicht auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen und auf Transformationsprozesse es uns hilft zu begreifen, was es heißt, in einer Periode des Übergangs zu leben – und wir bemühen uns, Parallelen und Unterschiede zu früheren Zeiten herauszuarbeiten. Wir versuchen, soziale Prozesse und Konflikte quasi »von innen« her zu erschließen, aus der Perspektive der Betroffenen selbst, die Rechtfertigungen akzeptieren oder hinterfragen bzw. zurückweisen – und sich gegebenenfalls das Recht dazu erkämpfen. Diese gemeinsame Frage verbindet unsere Forschungen, die disziplinär gesehen von der Philosophie über die Geschichts-, Rechts und Sozialwissenschaften bis hin zur Ethnologie und zur Ökonomie reichen.
Die Analyse normativer Ordnungen setzt freilich voraus, die Unterschiedlichkeit von Normen zu betrachten, die Geltung beanspruchen, seien es Normen des Rechts oder der Moral, 8der Konvention, der Sitte, bestimmter Institutionen – sowie ihre Ursprünge, die Grundlagen ihrer Geltung, zu erforschen. Innerhalb der Philosophie gibt es nicht erst in der Gegenwart, sondern immer schon eine große Debatte über die »Quellen« der Normativität, auch wenn der Begriff der Normativität eher neueren Datums ist. Liegen diese Quellen außerhalb von uns, oder sind wir selbst die höchste normative Autorität und, wenn ja, was erklärt dann die Bindekraft von Normen, insbesondere solchen der Moral? Menschen sind zutiefst normative Wesen, auch dort, wo sie versuchen, bestimmte Normen abzuschütteln, und sie haben sogar das Adjektiv »menschlich« als normatives reserviert. Aber was heißt es, solch ein Wesen zu sein; was für Rechtfertigungen sind es, denen Menschen folgen, die sie akzeptieren oder zurückweisen? Und vermittels welchen Vermögens, welcher Prinzipien tun sie das?
Diese zentrale philosophische Fragestellung greift Charles Larmore in diesem Text auf, und er machte damit den Anfang unserer im Rahmen des Clusters neugeschaffenen »Frankfurter Vorlesungen«. Wir laden dazu jeweils einmal in einem Semester renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein, die auf ihrem Gebiet bahnbrechende Erkenntnisse zu wichtigen Aspekten unserer Forschungsthematik gewonnen haben; und wir bitten sie, sich an zwei aufeinanderfolgenden Abenden ausführlich den Fragen zu widmen, die sie mit uns diskutieren möchten.
Es ist uns eine besondere Freude gewesen, dass Charles Larmore unsere Einladung annahm, diese Vorlesungen zu halten. Denn unter den heutigen Philosophen sticht sein Werk zum Thema der Normativität heraus; und seine Vorlesungen zeigen, wie grundsätzlich, originell und elegant er es versteht, uns in einigen Grundfesten bislang geglaubter Wahrheiten zu erschüttern, um vor diesem Hintergrund ein eigenes umfassendes Programm zu entfalten.
An dieser Stelle seien einige kurze Worte zu ihm und seiner Arbeit erlaubt. Charles Larmore ist ein ganz außergewöhnliches Exemplar des Wissenschaftlers in der heutigen, sehr stark 9durch kleinteilige Spezialisierung geprägten philosophischen Landschaft. Denn er ist zugleich ein universaler Geist und ein Detailhandwerker; er arbeitet hauptsächlich auf den Gebieten der praktischen Philosophie und der Geschichte der modernen Philosophie, aber er ist ebenso in der Antike und in der theoretischen Philosophie zu Hause. Aber mehr noch, er spricht nicht nur verschiedene Sprachen wie das Deutsche oder das Französische perfekt, er ist auch ein intimer Kenner sowohl der antiken und natürlich der anglo-amerikanischen, als auch der deutschen und der französischen Philosophie. Platon ist ihm ebenso gegenwärtig wie Montaigne oder Hölderlin, die Romantik ebenso wie die avancierte Wissenschaftstheorie, Habermas oder Luhmann. Es ist dieser Hintergrund, der seiner Konzentration auf die Themen dieser Vorlesungen eine besondere Tiefe und Kraft verleiht.
Zunächst kurz zu seinem Werdegang. Charles Larmore war Student an der Harvard University, als John Rawls’ großes Werk über die Gerechtigkeit erschien, und er ist bis heute vielen Aspekten dieses Ansatzes treu geblieben und hat ihn vielschichtig weiterentwickelt. Mehr als das, er gilt derzeit neben Rawls als einer der wichtigsten Proponenten des politischen Liberalismus. Doch zurück: 1972 zieht es ihn zunächst an die École Normale Supérieure in Paris, danach geht er für sein PhD an die Yale University, unterbrochen von einem Studienjahr in Münster. Nach dem PhD 1978 ist er zunächst Fellow, dann Assistant Professor bis hin zum Full Professor an der Columbia University in New York. 1997 tritt er eine Professur für Philosophie und Politische Wissenschaften an der University of Chicago an, die er 2006 in Richtung Ostküste wieder verlässt; seitdem ist er Professor of Philosophy und W. Duncan MacMillan Family Professor in the Humanities an der Brown University in Providence.
Große Resonanz erfuhr bereits sein erstes Buch, Patterns of Moral Complexity, das 1987 erschienen ist (1995 in deutscher Übersetzung publiziert unter dem Titel Strukturen moralischer Komplexität). Dort nimmt er die Themen des moralischen Plu10ralismus (und verschiedener Quellen der Moral) ebenso auf wie die Frage der staatlichen Neutralität angesichts einer Vielzahl legitimer ethischer Lebensvorstellungen, wobei seine These einer »neutralen« Rechtfertigung dieser Neutralität oft falsch verstanden wurde, denn er ließ und lässt keinen Zweifel daran, dass sie eine moralische Begründung ist. Die Frage nach der normativen Welt der Moderne lässt ihn seither nicht los, er verfolgt sie eingehend in seinen Büchern Modernité et morale (1993), The Romantic Legacy (1996), The Morals of Modernity (1996) bis hin zu Débat sur l’éthique (2004, gemeinsam mit Alain Renault) und Les pratiques du moi (2004) – wofür er den »Grand Prix de Philosophie« der Académie Française erhielt; eine englische Version ist 2010 als The Practices of the Self erschienen. Der Titel des nicht minder wichtigen Buches The Autonomy of Morality von 2008 markiert eine seiner Kernthesen, die auch in seinen Frankfurter Vorlesungen wiederkehrt. Nicht unerwähnt bleiben sollen zwei weitere, neuere Bücher, das italienische Dare ragioni (2008) und (gemeinsam mit Vincent Descombes) das französische Dernières nouvelles du moi (2009).
Larmores »Frankfurter Vorlesungen« widmen sich dem Zusammenhang von Vernunft und Subjektivität und lokalisieren das Phänomen der Normativität in einer »normativen Ordnung von Gründen, von deren Autorität wir nicht die Urheber sind« (30). Von diesem Grundgedanken aus entfaltet er eine Konzeption der Vernunft, die diese nicht auf transzendentale Prinzipien zurückführt, sondern sie als wesentlich heteronomes, rezeptives Vermögen ansieht. Larmore zeigt uns die Welt nicht als stummes Material, dem wir eine Form aufprägen, sondern als Welt der Gründe, die sozusagen außer uns liegen. Diese Wiederverzauberung der Welt richtet sich ebenso gegen den Naturalismus wie gegen kantische Konstruktivismen, auch in ihrer diskurstheoretischen Variante. Larmores »Platonismus von Gründen« (45) sieht diese zwar als Gründe »für uns«, doch zugleich als nicht von uns »gemachte« an; das Normative ist eigener Art und lässt sich nicht aus Nichtnormativem ableiten oder bilden.
11Die zweite Vorlesung nimmt vor diesem Hintergrund die Frage auf, wie in diesem normativen Universum die Existenz von Subjekten gedacht werden kann – genauer, was es heißt, ein »Selbst« zu sein, das sich auf sich selbst bezieht. Denn ist die Vernunft eine »übersubjektive« Größe, wie in der ersten Vorlesung ausgeführt, muss sie nun mit der Binnenperspektive eines Selbst vermittelt werden. Larmore vertritt in diesem Zusammenhang nicht nur die These, dass unsere Selbstbeziehung als das Sichrichten nach Gründen gedacht werden muss, dass also in jedem Bezug auf Gründe auch ein Selbstbezug steckt. Mehr noch, seine zweite These besagt, dass diese Selbstbeziehung primär eine praktische und nicht eine epistemische des Selbstwissens oder Selbsterkennens ist: das Orientieren im Raum der Gründe ist ein Sichfestlegen in einem praktischen Raum des Sichverhaltens zu anderen und zu der Welt. Auf dem Weg zu dieser Pointe räumt er eine ganze Reihe von fundamentalen philosophischen Theoremen wie etwa eine internalistische Verbindung von Wunsch, Überzeugung und Motiv beiseite. Zudem greift er die Diskussion innerhalb der deutschen Philosophie nach Dieter Henrichs Deutung von Fichtes Problematisierung des inneren Selbstbezugs als Frage nach einer »Vertrautheit mit sich selbst« auf und bietet eine »praktische« Lösung dafür an. Dabei schließt er an eine von Heidegger bis Brandom reichende pragmatistische Denkweise an, wendet sie aber so, dass die ganz antipragmatistische, »platonische« Konzeption der Gründe, die in der ersten Vorlesung erarbeitet...