Dieses Buch richtet sich an Studenten der Veterinärmedizin und an Tierärzte, die sich für Kleintierkrankheiten interessieren. Es ist auf das fachliche Profil eines Kleintierpraktikers in einer regulären Praxis abgestimmt, in der sich mindestens ein Tierarzt hauptsächlich mit der Behandlung von Kleintieren befasst.1 Dementsprechend beschränkt sich die Beschreibung der Untersuchungsmethoden auf das, was ein Praktiker mit Schwerpunkt Kleintier tatsächlich einsetzen würde. Methoden, die nur in spezialisierten Kliniken zum Einsatz kommen, werden in diesem Buch lediglich am Rande erwähnt, um aufzuzeigen, welche zusätzlichen diagnostischen Möglichkeiten beim Spezialisten existieren.
Das Buch befasst sich vornehmlich mit der Anamnese und körperlichen Untersuchung von Hund und Katze. Im Allgemeinen sind diese Methoden auch auf andere Spezies übertragbar. Tierartspezifische Besonderheiten für die Anamnese und körperliche Untersuchung von Vögeln, Kleinsäugern und Reptilien werden in eigenen Kapiteln abgehandelt.
Der Titel wurde gewählt, um stärker auf die Thematik hinzuweisen, als ältere Begriffe wie »Klinische Diagnostik« oder »Klinische Untersuchung« das tun, die lediglich betonen, dass es sich um einen Gegenstand aus dem Bereich der Diagnostik oder Untersuchung in einem klinischen Umfeld handelt. Dieser könnte schließlich auch Labordiagnostik oder Radiologie beinhalten.
Das Buch stützt sich auf die Annahme, dass der Tierarzt sich aus zwei Gründen mit der Anamnese und körperlichen Untersuchung befasst:
1. Um die Hintergründe eines vom Tierhalter geschilderten Problems auszuleuchten. Auf dieser Grundlage (Diagnose) kann der Tierarzt die Erwartungen des Besitzers erfüllen, die darin bestehen, dass er Erkenntnisse über Art und Schweregrad der Erkrankung gewinnen und nach Möglichkeit eine Behandlung verordnen soll.
2. Um einen konkreten Wunsch des Tierhalters anforderungsgerecht zu erfüllen, wie z. B. eine Impfung, das Ausstellen eines Gesundheitszeugnisses oder eine Untersuchung auf Zuchttauglichkeit.
Auch wenn diese Aufzählung vollständig erscheint, gibt es eine wichtige Einschränkung: Beim ersten Punkt würde eine Unregelmäßigkeit, die noch keine für den Tierhalter sinnfälligen Symptome hervorruft, nicht zwangsläufig entdeckt. Hierfür wären regelmäßige Gesundheits-Check-Ups besser geeignet als eine Untersuchung, die aus einem speziellen Anlass durchgeführt wird.
Die Untersuchung wird also in hohem Maß durch die Motive gelenkt, aus denen der Tierhalter den Rat des Tierarztes sucht. Deshalb wird hier ein Konzept gewählt, bei dem nur solche Untersuchungen durchgeführt werden, die im Hinblick auf das vom Besitzer dargestellte Problem tatsächlich gute Erfolgschancen haben.
Beim Blick in Bücher über die körperliche Untersuchung von menschlichen oder tierischen Patienten wird klar, dass die meisten Autoren großen Wert auf eine gründliche und vollständige Untersuchung als Grundlage für den weiteren Behandlungsplan legen.2 In der Praxis hingegen findet eine vollständige körperliche Untersuchung selten oder nie statt. Hier wird die Untersuchung mithilfe der Vorgeschichte und des ersten Eindrucks rasch auf den Bereich eingegrenzt, der wahrscheinlich am schnellsten zur genaueren Abklärung der Fragestellung führen wird.3
Es finden also zahlreiche Selektionsschritte statt, um die Effizienz einer Untersuchung zu steigern. Mit wachsender Erfahrung werden diese Auswahlschritte spezifischer, woraus sich meist sehr leistungsfähige Verfahren entwickeln. Allerdings ist diese Arbeitsweise dem Studierenden schlecht zu vermitteln, sodass wir Modelle für ein selektiveres Untersuchungskonzept gesucht haben. Es scheinen jedoch keine brauchbaren Modelle zu existieren, auch wenn es vereinzelt Ansätze gibt.4 Sogar die Literatur zum problemorientierten Herangehen an den Patienten beschreibt die körperliche Untersuchung als essenzielle Grundlage, ohne zu erläutern, dass diese Untersuchung durch die Anamnese und den ersten Eindruck vom Patienten beeinflusst wird.5 Es gibt auch Autoren, die eine selektivere Untersuchung ablehnen und die Auffassung vertreten, der Tierarzt müsse sich darin üben, alle Organsysteme angemessen zu untersuchen. Es wurde sogar behauptet, dass »der erfahrene Praktiker ein Tier mit Leichtigkeit in weniger als zehn Minuten gründlich untersuchen kann« und »eine vollständige körperliche Untersuchung nicht mehr als fünf bis acht Minuten dauern sollte«.7 Es muss klar sein, dass diese Einstellung zu einer flüchtigen Untersuchung oder, in der Praxis häufiger, zu einer Einschränkung der Untersuchung führt. Das Missverständnis scheint sich aus dem Begriff der »Routineuntersuchung« herzuleiten, der auch in der medizinischen Lehre verbreitet ist. Es gibt keine Routineuntersuchung. Die körperliche Untersuchung hat immer einen spezifischen Grund und ein bestimmtes Ziel.8
Seit 1971 wird an der Veterinärmedizinischen Fakultät Utrecht die körperliche Untersuchung so gelehrt, dass nach der allgemeinen Untersuchung die Entscheidung getroffen werden kann, nur eines oder wenige Organsysteme zu untersuchen.9 An dieses Konzept halten wir uns. Daraus hat sich in Verbindung mit dem problemorientierten Ansatz der Untersuchungsaufbau entwickelt, der in Abb. 2.1 dargestellt wird. Bei diesem Aufbau sind zwei wichtige Fragen zu beantworten:
1. Handelt es sich um einen Notfall?
Wenn der Eindruck besteht, die Situation könne ein Organ bedrohen oder lebensgefährlich sein, muss die Untersuchung vollständig nach dem in Kapitel 23 aufgezeigten Schema ablaufen. In den übrigen Fällen werden – soweit es sich um einen Erstkontakt mit dem Patienten handelt – erste Informationen vom Tierhalter eingeholt und das Signalement des Tieres dokumentiert (Kap. 5). Im Anschluss wird die Vorgeschichte erfragt (Kap. 6) und dann ein Gesamteindruck vom Tier gewonnen (Kap. 7).
2. Wurde das Problem mittels Anamnese und Feststellung des Gesamteindrucks so weit erfasst, dass spezielle Untersuchungen (anhand eines Leitfadens) durchgeführt werden können?
Diese Frage ist mit ja zu beantworten, wenn der Tierhalter ein konkretes Anliegen hat: z. B. eine Impfung oder das Ausstellen eines Gesundheitszeugnisses (Kap. 27). Gleiches gilt in der Regel für Fälle mit lokal begrenzten Veränderungen z. B. an Ohren und Augen, Lahmheiten oder oberflächlichen Läsionen und Schwellungen. Auch in anderen Fällen kann die Problemerfassung manchmal in diesem Stadium abgeschlossen und mit einer speziellen Untersuchung (mit oder ohne Leitfaden) fortgefahren werden.
Wenn das Problem mithilfe von Anamnese und Gesamteindruck nicht hinreichend erfasst werden kann und/oder Symptome einer Allgemeinerkrankung vorliegen, wird eine ausführlichere Allgemeinuntersuchung durchgeführt (Kap. 8), um Veränderungen zu finden, die im ersten Überblick nicht aufgefallen sind und helfen, das Problem zu verdeutlichen. Je nach Problemlage werden dann ein oder mehrere Organsysteme ganz oder teilweise untersucht (Kap. 9 und folgende).
Aus Abb. 2.1 geht hervor, dass der Ablauf der Untersuchung weitgehend durch die Aufgabenstellung festgelegt ist. Die Aufgabenstellung umfasst alles, was untersucht und/oder behandelt werden soll.10 Mit diesem Aufbau ist es möglich, das Problem zu einem frühen Zeitpunkt zu formulieren und durch die dann erhobenen Befunde weiter zu präzisieren. Die Dokumentation (Notierung) der Befunde wird in Kapitel 5 abgehandelt.
Für einige Fragestellungen steht ein »Leitfaden« zur Verfügung (siehe Kap. 2.6), anhand dessen die Untersuchung durchgeführt werden kann. Wenn während dieser Untersuchung neue Fragen auftauchen, können sie der Aufgabenliste hinzugefügt und im Anschluss angegangen werden (mit oder ohne Leitfaden). Natürlich kann auch eine spezielle Untersuchung, die sich direkt an die Anamnese und Feststellung des Gesamteindrucks anschließt, um Bestandteile der ausführlichen Allgemeinuntersuchung erweitert werden. Aus der Untersuchung kann der Vorschlag resultieren, einen chirurgischen Eingriff oder eine betäubungspflichtige weitere Untersuchung vorzunehmen. Hierzu muss das Tier nach der Anleitung in Kapitel 26 auf Narkosefähigkeit untersucht werden.
Mit diesem System wird versucht, die Untersuchungen auf das notwendige Maß zu beschränken, um die verfügbare Zeit so weit wie möglich zur Lösung des Problems zu nutzen, dessentwegen der Tierhalter das Tier vorgestellt hat. Mit einer gut durchgeführten limitierten Untersuchung soll das bestmögliche diagnostische Ergebnis erzielt werden. Dieses Ziel ist gegenüber der »vollständigen körperlichen Untersuchung« zu bevorzugen, die meist in einer Fahndung nach offensichtlichen Veränderungen endet.
Der Ansatz...