Prolog:
Diesmal die praktischen Schuhe
Zentralfriedhof, Tor I. Giuliana Schnitzler trägt einen grünen Mantel an diesem kühlen Vorfrühlingstag, apfelgrün. Das passt zu ihren rotblonden Haaren, die vielleicht ein Erbteil ihrer irischen Vorfahren sind, der mütterlichen Vorfahren. Die väterlichen liegen hier. Links der schnurgeraden Hauptallee sind die Gräber mit den christlichen Symbolen, rechts davon die riesige jüdische Totenstadt: »Bet Kevarot«, der Ort der Gräber. Wir halten uns rechts, spazieren vorbei an den prunkvollen Grabmälern im Geschmack der Gründerzeit – verwittert, bemoost, von Baumwurzeln in Schiefstand gebracht. Manche der Inschriften sind in hebräischen Buchstaben abgefasst, die meisten aber auf Deutsch. Hier liegt das assimilierte jüdische Wien des 19. Jahrhunderts. Die Gräber zeigen, wie sie gesehen werden wollten: tatkräftige Männer, tugendsame Gattinnen, »beweint von ihren untröstlichen Söhnen und Töchtern«. Ihre Verdienste sind in Stein gemeißelt, die Kehrseite hat Arthur Schnitzler beschrieben. Giulianas Urgroßvater.
Ich schiele auf ihre Schuhe: Sie hat natürlich praktische Schuhe an den Füßen, wie jeder vernünftige Mensch für einen Spaziergang über den Zentralfriedhof. Ich auch. Die Frage der angemessenen Fußbekleidung für diesen Anlass beschäftigt mich, seitdem ich vor Jahrzehnten zum ersten Mal zu Schnitzlers Grab gepilgert bin. Eine Wiener Kaffeehausbekanntschaft hatte mich und meine karierten Wollstrümpfe ungnädig gemustert: »Wenn du zu Arthur Schnitzler gehst, zieh dir andere Strümpfe an.« Der Mann meinte wohl, diese Geste sei ich dem Frauenliebhaber Schnitzler selbst posthum noch schuldig.
Damals war ich Studentin der Germanistik in München. Bei den ersten Schnitzler-Lektüren – Liebelei, Reigen, Anatol – hatte es mich erwischt. Dieser federleichte beunruhigende Ton. Etwas an seiner Art, die Welt zu sehen und zu beschreiben, leuchtete mir unmittelbar ein. Seine Skepsis, seine Wahrheitsliebe, seine analytische Schärfe, seine Melancholie, seine permanent fehlschlagende, aber umso beharrlichere Sinnsuche im Sinnlichen. Und sein Humor! Jedenfalls durch diesen unterschied er sich von Freud, der ihn als seinen Doppelgänger betrachtete. Ich fuhr damals mit der Straßenbahn zum Zentralfriedhof, kaufte eine gelbe Rose und legte sie auf das Grab. Zwei Namen standen auf dem schlichten dunklen Stein, nicht drei, wie heute: Arthur Schnitzler (1862–1931) und Dr. Julius Schnitzler (1865–1939), dazu etwas Hebräisches, das ich nicht lesen konnte. Arthurs Sohn Heinrich lebte noch und war in Germanistenkreisen für die unermüdliche Freundlichkeit bekannt, mit der er Fragen zu seinem Vater und dessen Werk beantwortete. Trotzdem, ich hätte mich nie getraut, ihn zu behelligen, auch als ich später eine Magisterarbeit schrieb, in der es um Arthur Schnitzlers Sprachskepsis ging. Manchmal dauert es Jahrzehnte, bis man Fragen stellen kann.
Giuliana Schnitzler ist in den USA geboren. Ihr Vater Peter war ein Jahr alt, als die Familie aus Österreich vertrieben wurde, und er blieb in Los Angeles, auch als seine Eltern Heinrich und Lilly nach Wien zurückkehrten und den jüngeren Bruder Michael mitnahmen. Für das Experiment Europa entschied er sich erst später. Europa oder Amerika? Giuliana fühlt sich auf beiden Kontinenten zu Hause. Als Kind hat sie viel Zeit im großelterlichen Haus in Wien verbracht. Für sie gab es kein Entweder-oder, sondern immer nur ein Sowohl-als-auch. Gleichwohl, sie hat eine Entscheidung getroffen. Anfang der Neunzigerjahre verließ sie New York und ihren Job in der Filmbranche, um in jener Stadt zu leben, die wie ein Magnet auf sie wirkte: Wien und Schnitzler, das passt gut zusammen. In Wien hat kein Mensch ein Problem damit, diesen Namen auszusprechen, ohne sich dabei die Zunge zu verrenken.
Giuliana Schnitzler mag Friedhöfe, genauso wie ich. Manchmal zieht sie mit Eimern, Bürsten und Schwämmen los und pflegt die Gräber der Verwandtschaft. Die ist zahlreich vertreten auf dem Israelitischen Teil des Zentralfriedhofs, mehr oder weniger versammelt an einer Stelle: die Schnitzlers und Markbreiters, die Mandls, Jellineks, Frids und Scheys. Sie schrubbt die Grabsteine, kratzt den moosigen Belag ab, der die Schrift unleserlich macht, hält das wuchernde Grün im Zaum. Wenn alles getan ist, sammelt sie Steinchen und schmückt damit die Gräber – statt mit Blumen. In der Wüste gab es keine Blumen. »Mit einem Stein sagt man: Ich war hier.« Giulianas Wienerisch ist der amerikanische Hintergrund in Akzent und Wortwahl anzuhören. »Ich erinnere an diese Personen. Solange sich jemand erinnert, sind sie nicht gestorben. Manche sagen: Die Steine stehen für die Last, die das Volk Israel trägt. Aber ich hab’ die Schmuckversion gern.«
Weil Erinnerung Leben bedeutet, freut sie sich über jedes Zeichen gelebter Erinnerung. Jedes renovierte Grab ist ein Hoffnungszeichen. Es ist Sache der Angehörigen, sich darum zu kümmern. »Bet Kevarot« ist nicht mehr die malerische Wildnis wie vor zwanzig, dreißig Jahren, als dieser Teil des Zentralfriedhofs den Rehen, Füchsen und Dachsen, den Spaziergängern und Fotografen gehörte. Der Zerfall ist gestoppt, und zwischen den Reihen leuchten frisch vergoldete Buchstaben auf einzelnen kürzlich renovierten Monumenten. »Moriz Szeps. 1834–1902.« Ein Journalist und Verleger, natürlich ein Bekannter. Seine Tochter, die Salonière Berta Zuckerkandl, war Arthur Schnitzlers gute Freundin. Viele der Namen hier sind mit der Geschichte der Schnitzlers verknüpft.
Dennoch wird Giuliana selbst hier keinen Platz finden. Sie ist Vizepräsidentin der reformjüdischen Gemeinde »Or Chadasch«, und die wird von der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde nicht anerkannt. Die Israelitische Kultusgemeinde bestimmt, wer jüdisch ist in Österreich und wer nicht. Die nach den Regeln von »Or Chadasch« konvertierten Gemeindemitglieder sind es in ihren Augen nicht. Und sie würde auch auf ihrem Terrain kein Gemeinschaftsgrab von jüdischen und nicht-jüdischen Ehepartnern akzeptieren. Deswegen hat »Or Chadasch« nun ein eigenes Areal erworben: entlang der Hauptallee, wenn auch rive gauche. Giuliana bückt sich, hebt einen Kiesel auf und legt ihn auf ein Grab. »Da liegt der Berti. Er war der nicht-jüdische Ehemann von einem Gemeindemitglied. Sehr involviert in die Gemeindearbeit. Er war wichtig.« Wik-tick, sagt sie mit ihrer warmen, klingenden Stimme.
Ebenfalls direkt an der Hauptallee, aber rechts vom Weg befindet sich das Grabmal ihrer Ururgroßeltern Johann und Louise Schnitzler, ein schwarzer Obelisk. Obenauf fehlt ein Element, »eine Kugel vielleicht oder so ein kleiner Spitz«. Sie hat schon recherchiert. Auch hier wäre mal eine Renovierung fällig. Die weiße Schrift ist verblasst und nur mit Mühe zu lesen: »K.K. Regierungsrat, K.K. Universitätsprofessor, Mitbegründer und Direktor der Poliklinik. Geboren 10. April 1835, gestorben 2. Mai 1893.« Und unten auf dem Sockel der Satz: »Alle, die ihn geliebt haben, beweinen ihn und alle, die ihn kannten, haben ihn geliebt.« Da bleibt nicht viel Platz für Louise. »Geboren 8. Juli 1840, gestorben 9. September 1911.« Aber die Ururenkelin beschäftigt gerade etwas anderes.
»Streng genommen« zeigt das Grab in die falsche Richtung, sinniert Giuliana. Die Füße sollten Richtung Osten weisen. Nach traditionellen Maßstäben ist es auch zu pompös. »Die Gräber in der Mitte da, das sind typisch jüdische Gräber.« Sie deutet auf die schlichten Steine mit den hebräischen Inschriften, die halb versunken im hohen Gras kauern. Aber mit der Assimilation habe man eben begonnen, sich an den prunkvollen christlichen Grabmälern zu orientieren. »Streng genommen« – sie genießt den Ausdruck – »waren die doch alle Reform«, das ganze liberale Wiener Bürgertum des 19. Jahrhunderts samt ihrem Rabbiner Jellinek. Solche wie sie. Auf dem Flyer von »Or Chadasch« steht der programmatische Satz: »Als progressiver religiöser Jude oder progressive religiöse Jüdin zu leben heißt, in der im Schrifttum überlieferten Lehre ein jüdisches Leben zu führen, das den sozialen, kulturellen und ethischen Herausforderungen der Moderne entspricht.« Sie stellen sich damit in die Tradition derjenigen, die in Gehrock und Zylinder Wien und das ganze Land in die Moderne bugsierten.
Gibt es das, diese verbindende Klammer zwischen den Generationen? Eine Art dominantes Schnitzler-Gen? Lassen sich tatsächlich Gemeinsamkeiten feststellen – Selbstbilder, Ideen, Schuhgrößen, Begabungen, Laster, Handlungsweisen, Prinzipien, Gewohnheiten, Vorlieben, Aversionen, Marotten – die, transformiert, in einer Familie durch die letzten hundertfünfzig Jahre gewandert sind? Welchen Platz nimmt Arthur Schnitzler in diesem familiären Geflecht ein? Was macht eine Familie mit dem Erbe einer solch herausragenden Gestalt? Ist man mit diesem Erbe in New York oder Los Angeles weniger stark konfrontiert als in Wien? Giuliana...