Das schlechte Gewissen macht Staat
In der Antike hatte man von Krieg und Frieden sehr einfache und pragmatische Vorstellungen: Nach der Art eines modernen Konzerns trachtete man nach einer möglichst monopolistischen Kontrolle über sein Einflussgebiet. Sah man die Chance, kam es zu einem Hostile Takeover und man versuchte, den anderen Staat zu erobern. Im Erfolgsfall wurde die Beute ausgewertet: Die Human Resources wurden auf Sklavenmärkten zu Geld gemacht und die »Produktionsmittel« – Olivenbäume, Städte, Handelsplätze – arbeiteten ab nun für die Eroberer. Dieses Vorgehen war in seiner simplen Brutalität allgemein anerkannt. Was man in der Antike nicht kannte, war die Vorstellung, dass man mit der Eroberung und Unterwerfung seiner Nachbarn etwas Gutes tat. Man kam auch nicht auf den Gedanken, die versklavten Opfer dazu zu nötigen, etwas Gutes an ihrem Schicksal zu finden. Es genügte völlig, wenn sie sich in ihr Los fügten.
Das änderte sich im 6. Jahrhundert v. Chr. mit dem Auftreten der ersten antiken Großmacht, den Persern. Die Militärmacht aus dem iranischen Hochland folgte jahrtausendealten Gepflogenheiten: Sie überrollte Mesopotamien und sicherte sich damit einen Großteil des Reichtums und des Wissens der damaligen Welt. Alle bisherigen Eroberer waren nach einigen Generationen in der alten Kultur des Zwischenstromlandes aufgegangen. Doch die Perser brachten ein scharfes Instrument der Abgrenzung mit: die erste erfolgreiche monotheistische Religion, den Zoroastrismus. Die Anhänger Zarathustras betrachteten die Welt dual: Es gab Gut und Böse, hell und dunkel. Das Leben, ja die ganze Existenz des Kosmos war von dem Ringen dieser beiden Kräfte bestimmt. Für die Machthaber war diese Idee von Gut und Böse insofern nützlich, als sie das Gute mit dem Herrscher gleichsetzten und somit jeder Widerstand gegen den Staat auch ein Widerstand gegen das Gute an sich war. Kein anderes Reich der Antike kannte diese Gleichsetzung, schon gar nicht Griechen oder Römer. Die Macht gebührte nach römisch-griechischem Verständnis immer dem, der in der Lage war, sie auszuüben. Der Versuch, nach der Macht zu greifen, war daher im Römischen Imperium auch nicht mit Hemmungen belastet – allein der Erfolg war entscheidend.
Ein Usurpator im persischen Reich und in allen seinen Nachfolgestaaten musste zuerst die eigenen Skrupel überwinden, dann den Versuch einer Eroberung starten und hernach mit den Skrupeln seiner Mitmenschen, deren Unterstützung er ja brauchte, umgehen – eine ganze Menge an moralischen Hürden für potenziell unbotmäßige Untertanen. Die Perser waren damit die Erfinder des schlechten Gewissens und erschufen eine Staats- und Verwaltungskultur, die sich einem Ethos verpflichtet sah. Oder um es mit Friedrich Nietzsche zu sagen: »Zarathustra schuf diesen verhängnisvollen Irrtum, die Moral.« Die Revision dieses Irrtums fand durch die Eroberungen Alexanders des Großen statt, der das scheinbar übermächtige persische Großreich im 4. Jahrhundert v. Chr. erstaunlich leicht niederwarf. Das riesige Gebiet wurde von seinen Nachfolgern, den Diadochen, entlang der Grenzverläufe der großen antiken Reiche aufgeteilt. Ägypten, Griechenland und eben das persische Reich entstanden wieder, diesmal als hellenistische Staaten. Das ehemalige Persien behielt damit zwar, eben nur kurz durch Alexanders Feldzüge unterbrochen, seine staatliche Integrität, aber die Prinzipien, die es ausgemacht hatten, schienen verloren.
Doch die Moral, »dieser verhängnisvolle Irrtum«, war immateriell und daher schwer zu fassen. Durch die Hintertür begann er das profane griechisch-römische Denken zu unterwandern. Das Judentum integrierte die Vorstellung eines dunklen Gegenspielers, des Teufels, der im Zoroastrismus Ahriman hieß, in seine Religion. Auch die Vorstellung eines Erlösers, eines Messias, wurde übernommen: Saoshyant, der letzte einer Reihe von Erlöserfiguren, hatte sogar die jungfräuliche Geburt mit Jesus Christus gemeinsam. Über das Judentum gelangte diese Vorstellungswelt in das Christentum und den Islam. Viele Ideen, wie die Auferstehungslehre, die sich sogar in Details mit der christlichen deckt, kommen aus Persien. Und damit drang das Vermächtnis der persischen Herrscher in das Zentrum der dominantesten Zentralmacht der Antike vor: nach Rom.
Nachdem Kaiser Konstantin dem Christentum Anfang des 4. Jahrhunderts n. Chr. eine privilegierte Stellung eingeräumt hatte, bewegte sich der oströmische Staat unaufhaltsam auf eine christliche Identität zu. Versuche der Bildungsschicht, das Christentum, »diese Finsternis«, wieder in die Schranken zu weisen, scheiterten: Kaiser Julian »Apostata« etwa, »der Abtrünnige«, versuchte eine Wiederbelebung antiker römischer Ideale. Er gab dem Senat und den städtischen Eliten ein gewisses Mitspracherecht zurück, restaurierte die unter seinem Onkel Konstantin zerstörten Tempel und stellte die heidnischen Priester wieder ein, die von seinem Vorgänger aus dem Staatsdienst entlassen worden waren. Dieser Konflikt mit der christlichen Religion, die bereits weite Teile des Staates durchdrungen hatte, erfolgte durchaus auf hohem intellektuellen Niveau. Ganz in cäsarischer Manier äußerte Julian: »Ich habe gelesen, ich habe verstanden, ich habe verworfen!« Der Kaiser selbst verfasste das Buch Contra Galileos, in dem er das Christentum als eine Verirrung des Judentums darstellte. Die Juden, die Julian auf Grund ihres unbeirrbaren Festhaltens an ihrem Glauben sehr achtete, wurden aufgewertet und von Sondersteuern befreit. Die Christen betrachtete er als Juden, die sich bei der Wahrheitssuche verirrt hatten. Im Prinzip forderte er, dass jeder bei seinen Ansichten bleiben sollte – eine auch in religiösen Fragen geordnete römische Welt; alles vermessen, bestimmt, in eine Schublade gesteckt und sachkundig verwaltet. Julians Versuch einer antiken Restauration war jedoch ein anachronistisches Vorhaben: Die Bedeutung der Religion hatte sich für die Menschen gewandelt. Es ging nicht mehr um Kult, sondern um ein ganzheitliches Empfinden, das etwas beinhaltete, das den Menschen der Antike fremd war: die unsterbliche Seele. Und selbst die Heiden pflegten einen verkappten Monotheismus, indem sie Sol invictus, eine auf der Figur des griechischen Sonnengottes Helios basierende zentrale Göttergestalt, verehrten. Diese Vorstellung wurde ebenso vom Christentum inkorporiert wie der Mithraskult und der Glaube der Zoroastrier oder der Manichäer. Ostrom pflegte, wie alle spätantiken Kulturen, einen Staatskult, seine Stabilität erhielt es aber vor allem aus einer effizienten Verwaltung. Das überstaatliche Bindemittel Glaube wurde gerade erst entdeckt.
Im Frühjahr des Jahres 532 kam es zu einer kleinen, aber symbolträchtigen Arbeitsmigration von Athen nach Ktesiphon, der Hauptstadt des persischen Sassanidenreiches: Damaskios, der letzte Lehrende der Platonischen Akademie, und seine sieben Schüler entzogen sich dem zunehmenden Druck des römischen Staates. Die platonische Tradition des Denkens, die in Athen – mit einigen längeren Unterbrechungen – seit Platons eigenem Wirken gepflegt worden war, fand damit auf europäischem Boden ein vorläufiges Ende und wurde erst in der Renaissance wiederbelebt. So wenig bedeutsam Damaskios’ Lehre für seine Zeitgenossen war, repräsentierte er etwas, das im neuen Byzantinischen Reich nicht mehr gefragt war: das freie, heidnische Geistesleben der Antike. Die Gedankenwelt der Neuplatoniker wurde zwar auch in die christliche Lehre übernommen, aber die Weigerung des Damaskios, das Wort »Gott« in den Mund zu nehmen und lieber von dem »Unsagbaren« zu sprechen, überschritt die Toleranzschwelle der Obrigkeit.
Ostrom war auf römischem Staatswesen und Hellenismus begründet, das Sassanidenreich auf persischer Staatskultur und Hellenismus. Das Perserreich, oder besser die jeweiligen Nachfolger des Diadochen Seleukos, waren so etwas wie der institutionalisierte Feind der Römer. Nach einer populären, folkloristischen Vorstellung der Antike hatte Alexander der Große die Pforten des Kaukasus für alle Zeiten gegen herannahende Barbaren verschlossen. Der Spielplatz gehörte also den sich gegenseitig anerkennenden Nachfolgestaaten, die sich auf Basis des Hellenismus und unter Einbeziehung der eroberten Hochkulturen in Ägypten, Griechenland und eben dem alten Perserreich gebildet hatten. Nach und nach fielen alle Diadochenstaaten mit Ausnahme des Seleukidenreiches an die Römer. Den Seleukiden wiederum folgten die Parther und schließlich die Sassaniden. All diese Dynastien suchten ihre Legitimation in der Nachfolge des ersten persischen Großreiches, das Jahrhunderte zuvor untergegangen war. Die Verwaltungssprache war Persisch, die Handelssprache Griechisch, und das Geistesleben war hellenistisch. Je nach Mode der Zeit wurde auch die schon damals klassische, die griechische Philosophie von den Herrschenden gepflegt. Das Persien der Sassaniden war ein Feudalstaat mit einer sehr effizienten Armee. In seiner größten Ausdehnung umfasste das Reich die heutigen Staatsgebiete von Iran, Irak, Pakistan, Afghanistan, Teilen der arabischen Halbinsel, Usbekistan, Turkmenistan und zeitweise sogar Ägypten. Die...