2. April 1996
Es verspricht, ein guter Tag zu werden.
Ich bin um 7.30 Uhr aufgestanden. Als ich das Badezimmerfenster öffne, höre ich den Gesang der Vögel, der Himmel ist klar, was will man mehr.
Nach einem reichhaltigen Frühstück, für das ich mir reichlich Zeit nehme, wandere ich los. Heute soll es über Vitte nach Neuendorf gehen und zurück am Strand entlang nach Kloster. Wenn ich den Weg hin und zurück schaffe und ich habe mir das vorgenommen, habe ich etwa zwanzig Kilometer vor der Brust.
Vitte ist schnell erreicht, es waren ja auch nur zwei Kilometer. Der Ort gefällt mir nicht besonders, allerdings sticht mir ein Haus ins Auge, nämlich die "blaue Scheune", sicherlich ein Künstlerdomizil.
Ich möchte dieses Haus fotografieren, muss aber vorher schnell den Film wechseln, weil zu viele Motive verlockend waren und deshalb der Film voll ist.
"So ein Mist, schon wieder gerissen! Aus der Traum von schönen Aufnahmen.“
Ich beschließe, die gleiche Tour eventuell nochmals mit dem Fahrrad zu machen, falls ich nicht unterwegs irgendwo einen dunklen Unterschlupf finde, wo ich den Fotoapparat neu bestücken kann.
Ausgangs von Vitte, rechter Hand, ein Haus mit einem kleinen Anbau ohne Fenster, wie geschaffen für mein Vorhaben. In der Not muss man sich überwinden. Ich klingele also an der Tür, leider ist niemand zu Hause. Ich muss also unverrichteter Dinge weiter.
Hinter Vitte eine völlig veränderte Landschaft. So weit das Auge schaut Heidekraut. Das muss im Sommer herrlich sein.
Mitten in dieser traumhaft schönen Gegend drei kleine Häuser. Das erste ist unbewohnt. Im zweiten scheint jemand zu Hause zu sein. Ich sehe aus der Entfernung jemanden vor dem Eingang. Näherkommend aber Schilder "Kein Durchgang", "Privat“ und "Hier wohnt der Hund.“
Normalerweise Grund genug, weiterzugehen, wenn da nicht eine Tür zum gewissen Örtchen wäre und das scheint keine Fenster zu haben.
Ich überwinde meine Bedenken und gehe auf das Haus zu, immer den Wachhund erwartend, aber kein Gebell schreckt mich auf. Stattdessen kann ich durch ein Fenster ins Badezimmer schauen. Und was sehen meine erstaunten Augen? Eine splitternackte Frau erblicke ich, gleichzeitig nimmt sie mich wahr. Schwupp ist ein Vorhang vor dem Fenster und ich mach mich schleunigst auf den Rückzug.
Zwei Kilometer weiter komme ich an einer Ferienanlage vorbei.
Hier müsste doch ein Raum ohne Fenster sein. Ich suche und finde einen Flur, der stockdunkel ist. Vorsichtshalber klopfe ich an einer Tür gegenüber, weil ich von dort Musik höre.
Ein junges Mädchen kommt heraus. Ich schildere ihr mein Problem und sie erlaubt mir, den Film im Flur zu wechseln.
Jetzt geht die Prozedur wieder los. Filmdose und Deckel griffbereit hinlegen, ein Tempotaschentuch zum vorsorglichen Einwickeln des Zelluloidstreifens daneben, die Pappschachtel dazu und es kann losgehen.
Licht aus, Kamera auf, Film aufrollen, in der Dose verstauen, diese in die Pappschachtel hinein, nachdem sie vorher noch in das Tempotuch gewickelt wurde.
Licht an, der neue Film wird eingelegt, dabei nehme ich mir vor, nur 33 Aufnahmen zu machen. Mit dieser Vorgabe mache ich mich wieder auf den Weg, nicht ohne mich vorher für die Großzügigkeit bedankt zu haben.
Heide wechselt mit Dünen ab, dann übernehmen mehr und mehr Birken die Oberhand.
Bald ist Neuendorf greifbar nahe, doch eine Bank lädt mich zum Verweilen ein. Ein Kranichzug zieht gen Norden. Dabei fällt mir auf, dass zwischen Kloster und Neuendorf immer wieder die Formation einer "eins" aufgegeben wird und der ganze Schwarm mit lauten, markanten Rufen am Himmel kreist, bis die Reise aus dem Süden fortgesetzt wird.
Ich begebe mich in die entgegengesetzte Richtung und erreiche nach kurzer Zeit Neuendorf. Hier gibt es weder Straßen noch Wege, die Häuser sind scheinbar dort gebaut, wo der Eigentümer sein Anwesen hinstellen wollte. Zumindest habe ich diesen Eindruck. Viele Häuser werden renoviert oder sind schon umgebaut. Das Verhältnis alt zu neu hier nahezu umgekehrt zu dem im Mecklenburgischen.
Langsam bekomme ich Hunger, ich bin ja auch mittlerweile fast vier Stunden unterwegs. Doch wo ist eine Gaststätte? Die erste, die ich gerade finde, ist geschlossen. Ich glaube, heute ist überall Ruhetag, denn andere Hungrige fragen mich, ob diese Wirtschaft auch zu hat. Ich gebe den Mut nicht auf. Um die Ecke sehe ich wieder ein Lokal. Weil Licht – und zwar die Außenbeleuchtung – brennt, kann das nur bedeuten, hier ist geöffnet.
Ein kleiner, aber gemütlicher Gastraum, hinter der Theke der Chef, weiße Jacke, grauweiße Hose, weißes Hemd, also wahrscheinlich auch der Koch. Er beantwortet meine Frage nach Fischgerichten dahingehend, dass eingelegter Aal, Rotbarschfilet, Hechtfilet, Lachs und Bratheringe angeboten werden können.
Ich entscheide mich für den Rotbarsch, ohne Erfolg, denn der Chef nimmt die Bestellung nicht auf. "Die Bedienung kommt gleich", sagt er und ward nicht mehr gesehen.
Aber tatsächlich, nach kurzer Zeit ist eine Frau mittleren Alters, wie sich später herausstellt, die Frau des Wirtes, im Gastraum und bringt die Speisekarte. Da ich mich ja bereits für das Rotbarschfilet entschieden habe, verzichte ich auf die Karte, um sie mir letztlich doch geben zu lassen.
Welch ein Glück. Ich traue meinen Augen nicht, das sind ja Preise wie zu alten Zeiten, mein Gericht zum Beispiel kostet nur DM 12.--.
Und dann wird serviert, Tomaten, Möhren, Gurken und grüner Salat, Bratkartoffel und drei Filets vom Rotbarsch. Der Salat, vor allen Dingen der Gurkensalat, ist ein Gedicht, die Bratkartoffel mit Speck und Zwiebeln, schön kross gebraten, einfach köstlich und schließlich der Barsch, ich bin begeistert, er zergeht auf der Zunge.
Von der Wirtin erfahre ich, dass das kleine Wirtshaus, der genaue Name lautet Wirtshaus "Up Westerend", früher eine Scheune war.
Gut gestärkt begebe ich mich auf den Rückmarsch.
Weil der Bus gerade zum Hafen fährt, der natürlich auch noch vereist ist, liegt die Versuchung nahe, zurück mit dem Bus zu fahren. Ich widerstehe aber mannhaft.
Aber gerade fällt mir noch ein, was mir die Wirtin erzählte.
Der Bodden ist, wie fast jedes Jahr, zugefroren und wie immer in dieser Situation, fährt man von Rügen nach Hiddensee und umgekehrt mit dem Auto über das Eis. Fischer stecken die Fahrbahn mit Markierungsstäben ab. Zwei Tage später wird die Überfahrt mit dem Auto aber verboten, und zwar von der Gemeindeverwaltung, weil junge Berliner sich eine Gaudi daraus machten, auf dem Eis zu kreisen. Doch die Einheimischen haben das Verbot nicht beachtet und sind mit Traktor und Anhänger nach Rügen rüber, um Gäste abzuholen.
Jetzt aber zum Rückmarsch.
Entgegen der Absicht, am Strand zurückzulaufen, wandere ich durch die Heide. Kurz vor Vitte kommt ganz plötzlich aus heiterem Himmel dichter Nebel auf und es wird bitterkalt. Es hilft nichts, da muss ich durch.
Steif gefroren erreiche ich meine Unterkunft. Jetzt schnell unter die heiße Dusche, das tut gut. Jetzt geht es zum Abendessen, das ich heute zeitig eingeplant habe, weil am Abend München gegen Barcelona spielt und das Spiel im Fernsehen übertragen wird.
Ich lasse mir die Speisekarte geben, bestelle eine kleine Fischsuppe, köstlich, und als Hauptgericht frisch gefangenen Lachs, gedünstet in Dillsoße.
Rosafarben kommt der Lachs auf den Tisch, er zergeht auf der Zunge und hat einen Geschmack nach himmlischen Genüssen. Und erst die Dillsoße, das ganze Essen ein Gedicht.
Die zwanzig Kilometer haben mich doch ein bisschen müde gemacht, deshalb beschließe ich, in der Halbzeit des Fußballspiels mein Zimmer aufzusuchen. Hier mach ich es mir bequem, indem ich ins Bett gehe und das Ende des Spiels folglich nicht sehe, weil ich selig entschlummert bin.
3. April 1996
Zum Frühstück begebe ich mich um 8.10 Uhr, nichts Außergewöhnliches, aber wie viel ich gegessen habe, unwahrscheinlich.
Zwei Scheiben Brot mit Salami, Schinken, Braten, Kräuter- und Schweizerkäse. Zwei Brötchen mit Orangenmarmelade, Walnuss- und Südfruchtmus, beides biologisch zubereitet. Ich hätte das Mus besser in den Behältern gelassen.
Eigentlich könnte ich jetzt aufbrechen, aber ich habe noch keinen Joghurt gegessen. Also, nichts wie an das Büfett. Der Joghurt ist heute frisch zubereitet, Ananas mit Körnern, Rosinen und Dickmilch. Da fällt mein Blick auf den Obstteller. Das wäre doch der richtige Abschluss. Ich hole mir, bescheiden wie ich bin, eine Birne, eine halbe Kiwi und eine Scheibe frische Ananas.
So, der Tag fängt gut an. Strahlend blauer Himmel, Raureif überall.
Ich beschließe, nach Vitte zu wandern und mir den Ort genauer anzusehen. Gestern hat er mir ja nicht gefallen.
Ich komme bis zum Museum in Kloster. Es ist gerade 9.00 Uhr, in einer Stunde wird geöffnet. Ich bin heute lauffaul, setze mich deshalb windgeschützt in die Sonne und...