ZWEITES KAPITEL
Mit Finanzmathematik tricksen:
Value at Risk und die Folgen
Wenige Menschen interessieren sich für gewöhnlich für die technischen Details eines Bauwerks oder eines Dampfers. Die statischen Feinheiten einer Architektur, die neuesten physikalischen Eigenschaften der verwendeten Materialien oder die letzten Errungenschaften der Schiffsbaukunst faszinieren nur eine Minderheit, werden weder von Medien noch Politikern gerne im Detail studiert, und die Einschaltquoten der Talkshows sänken bei dem Versuch, solcherlei schwierige und scheinbar lästige Kleinigkeiten zu erörtern. Und doch sind es zuweilen diese Details, die ein Bauwerk zu Fall bringen.
Im Falle der Finanzkrise lautet eines dieser »technischen Details« auf den englischen Namen »Value at Risk«, also in etwa »der Wert, der auf dem Spiel steht«. Value at Risk, abgekürzt VaR, soll das Risiko einer Bank oder eines Portefeuilles beziffern.
Dem Leser mag es wundern, dass ich eine mathematische Kennzahl an die Spitze meiner Analyse stelle, wo wir doch in den letzten Jahren deutlich genug gelernt haben, dass die Wirtschaftskrise, die wir durchlaufen, zunächst mit einer Immobilienkrise begann, die auf unverantwortliche Vergabe von Immobilienkrediten an nicht zahlungskräftige Kunden zurückzuführen ist. Sind nicht die gierigen Spekulanten, die Trader mit ihren riesigen Boni oder gar der »angelsächsische Kasinokapitalismus« insgesamt mit seinen komplexen Derivaten wie »Credit Default Swaps« und »Asset-backed Securities« Schuld? Und wie sieht es mit der Rolle der Ratingagenturen aus?
All diese Faktoren gehören natürlich zur Krise; im Gegensatz zu den meisten bisherigen Analysen möchte ich jedoch herausstellen, dass diese Ereignisse die Symptome sind, nicht die Ursache der Krankheit. Die Vergabe von Krediten an nicht zahlungskräftige Schuldner wäre ohne die Manipulationsmöglichkeiten, die Value at Risk bietet, nicht möglich gewesen. Stellen Sie sich einmal vor, dass in einem Meeting ein Banker vorschlägt: »Wir vergeben nun Kredite in großem Stil an Kunden ohne Arbeit und Einkommen und verlangen auch keine Sicherheiten.« Als Witz wäre es vielleicht noch durchgegangen, aber natürlich würde dies keine Bank der Welt auch nur in Erwägung ziehen. Es muss also subtiler zugegangen sein. Und mein Ziel ist es, diese subtileren Ursachen und Gründe aufzuzeigen.
Die im Grunde gute Idee hinter einem »Risikomaß« wie Value at Risk besteht darin, das Risiko von komplizierten und vielfältig gemischten finanziellen Anlagen auf einen Geldbetrag zu reduzieren. Einen Teil dieses Betrags sollte man sinnvollerweise zurücklegen und immer liquide haben, um im Krisenfall gewappnet zu sein.
Value at Risk begann seinen Siegeszug mit einer Reform der Bankenregulierung, die unter dem Namen »Basel II« bekannt wurde und eigentlich zum Ziel hatte, die Versorgung der Wirtschaft mit Kapital besser zu gestalten und die Anforderungen an das Eigenkapital der Banken auf den modernen Stand der Technik zu bringen. Die Entwicklung der Finanzmärkte, angetrieben durch die bahnbrechenden Erkenntnisse der Finanzmathematik und die dadurch entstandene Nachfrage nach Optionen und anderen Derivaten, hatte zu dem Bedürfnis geführt, Risiken besser zu quantifizieren und mit den modernen Techniken zu erfassen. Für das Management und auch die Bankenaufsicht war dies von großem Vorteil: Es war nicht mehr nötig, zu fragen, in welche Produkte der Händler investierte (was dann ja auch bedeutete, dass man diese Produkte verstehen musste), sondern man konnte sich auf die simple Frage beschränken: »Wie hoch ist sein VaR?«
Für den Mittelstand und kleinere Banken ohne Investmentabteilung war Basel II eine starke und oftmals als zu streng beklagte Regulierung. Für Banken und Institutionen, die sich Finanzmathematiker leisten konnten, war aber das Gegenteil der Fall: Mit Value at Risk war es ab sofort möglich, jegliche Regulierung auszuhebeln. So konnte man beliebig hohe Risiken einzugehen, ohne jegliches Eigenkapital zu hinterlegen.
Ich hoffe, diese Tatsache ist dramatisch genug, um Ihr Interesse zu wecken, Value at Risk und die Finanzmathematik, mit der man es aushebelt, besser kennenzulernen. Die Fortschritte der Finanzmathematik erlauben es, Unsicherheit und Risiko im atomaren Detail zu verstehen. Wenn man dann gewisse Hebel falsch legt, und einer dieser Hebel ist eben VaR, dann entstehen auch Katastrophen atomaren Ausmaßes.
Natürlich erfordert dies, sich näher mit den angeblich »technischen« Details der Finanzmärkte zu beschäftigen, als man üblicherweise gewohnt ist, sonst gelangt man leicht zu den falschen Schlussfolgerungen. So behauptet der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz in seinem Buch Der freie Fall etwa, dass die jahrelange Deregulierung der Finanzmärkte schuld an der Krise sei und dass es ein »Marktversagen« gegeben habe, weil der »Markt« Risiken falsch eingeschätzt habe. Wie ich hier zu zeigen versuche, ist in gewisser Hinsicht das Gegenteil der Fall: Die Regulierung ist schuld an der Krise, und der »Markt« hat in der Hinsicht funktioniert, als die großen Akteure des Marktes die Möglichkeiten, die Regulierung auszutricksen, sehr wohl erkannt und für sich ausgenutzt haben.
Wir treffen hier auf ein bekanntes Phänomen in den Wirtschaftswissenschaften: Es gibt eine reine, wenn man so will, »Newtonsche« Theorie der freien Märkte, in denen Angebot und Nachfrage im freien Spiel der Kräfte stets ein effizientes Gleichgewicht finden. Fehler wie das systematisch falsche Einschätzen von Hypothekenrisiken würden in dieser Theorie nicht auftreten. In der Wirklichkeit sind die Märkte natürlich gar nicht frei; man denke an die Vielzahl von Steuerregeln und Aufsichtsbehörden, welche die Märkte beaufsichtigen. Nun hat man das Problem, dass man bei einer Wirtschaftskrise nie genau weiß, woran es lag: am Mangel an Freiheit oder am Mangel an Regulierung? Die zumeist eher politisch rechten Anhänger der freien Märkte behaupten stets, dass die Märkte eben nicht frei genug gewesen seien, während eher linksliberale Wirtschaftspolitiker wie Joseph Stiglitz die Probleme für sich selbst nutzen wollen und der Deregulierung die Schuld geben.
Wichtiger ist es meiner Ansicht nach, zunächst einmal im Detail die Dinge zu verstehen, bevor man große Sprüche klopft. Ich möchte hier folgenden Punkt verdeutlichen: Die fatalen Wirkungen sind durch eine falsche Verbindung von Freiheit und Beschränkung entstanden. Die Regulierung setzte falsche Regeln durch, die sich ausbeuten ließen – und die Märkte hatten genügend Freiheit, diese Ausbeutung zu betreiben. Die Kombination aus fehlerhafter Regulierung und freien Märkten bildet die Basis für das Verständnis der Finanzkrise.
Ich möchte aber auch den Schrecken vor der Mathematik nehmen, wenn dieses heroische Unterfangen denn im Bereich meiner beschränkten Möglichkeiten liegen sollte. Die Mathematik wurde nämlich durchaus benutzt und missbraucht, um von kritischen Nachfragen abzulenken und um gewisse Tricks zu verstecken. Zu leicht ließen sich alle von der Aussage blenden, dass es sich bei den Derivaten um »hochkomplexe mathematische Produkte« handle, die dem Laien nicht verständlich zu machen seien.
Ich werde Ihnen zeigen, dass die Grundprinzipien, die in der Finanzmathematik am Werk sind, sich auf recht einfache kleine Rechnungen zurückführen lassen, die Sie in der achten Klasse schon beherrschten. Es ist wichtig, dass unsere Gesellschaft dies versteht, damit sie sich in Zukunft nicht mehr blenden lässt. Dies gilt auch für die Banken selbst und gerade auch für die Bankenaufsicht, die zum Teil bewusst, aber zum Teil auch unbewusst ein falsches Bild der Finanzmathematik zeichnen.
Wenn wir die Ursachen und Auslöser der Finanzkrise verstehen wollen, kommen wir nicht umhin, uns ein wenig mehr mit den Details zu beschäftigen als üblich. Der Grundkonsens, der sich in Medien und Wissenschaft zur Krise eingestellt hat, greift in mancherlei Hinsicht zu kurz. Natürlich ist die Gier der Financiers dieser Welt eine menschliche Konstante, hat schon immer zu Katastrophen beigetragen und wird es auch in Zukunft tun. Wir werden aber den Willen der Menschen, Neues zu schaffen und dabei auch Geld zu verdienen, nicht abschaffen können, und wir sollten dies auch gar nicht erst versuchen.
Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff 2 etwa weisen die historischen Parallelen zu anderen Finanzkrisen nach und suggerieren dem Leser, dass solche Krisen eben zur Natur des Menschen gehören. Dies greift meiner Ansicht nach zu kurz. Für die kulturell-historische Einordnung ist es gut, sich vergangener Krisen zu erinnern, hilft aber nicht weiter. In unserer Zeit ist es gerade die Entwicklung einer neuen Wissenschaft, der Finanzmathematik, die wesentlich ist und die wir verstehen müssen, um weitere Desaster zu vermeiden.
Es greift meiner Ansicht nach ebenfalls zu kurz, alles auf das Prinzip der beschränkten Haftung zurückzuführen, wie dies Hans-Werner Sinn in seinem Buch Kasino-Kapitalismus andeutet. Im Wesentlichen behauptet er, dass entfesselte und ungezügelte, meist angelsächsische Banken das Prinzip der beschränkten Haftung ausgenutzt haben, um bedingungslos zu spekulieren. Aber dieses Prinzip existiert seit Anbeginn des freien Handels und bildet mit gutem Grund die Basis unseres Wirtschaftssystems, ohne dass die Unternehmen sich an den Rand des Ruins spekuliert hätten. Allein an der beschränkten Haftung kann es nicht liegen. Vielmehr liegen die Dinge tiefer.
Durch die wissenschaftliche Entwicklung der letzten vierzig Jahre ist ein ganz neuer Sachverhalt eingetreten: Finanzielle Unsicherheit lässt sich im Detail...