Allein in Tautenburg
(Elisabeth)
Es ist unmöglich, aber wahr: Ihr Bruder liebt eine andere. Bis eben war sie die einzige Frau in seinem Leben, und nun? Sie hätte das nie geglaubt, er ist nie von einem weiblichen Wesen nur halb so begeistert gewesen4, doch es ist geschehen.
Das ist Verrat.
Wann gab es ein Band zwischen Bruder und Schwester, so eng, so unauflöslich wie das ihre? Der unbedingte Beistandspakt zwischen ihnen, nie unterzeichnet und doch gültig von Ewigkeit zu Ewigkeit, er hat ihn gebrochen. Wegen einer Frau. Aber was heißt Frau? Wegen dieses Kuriosums von einem Weibe: Dieselbe Größe wie ihre Mutter, dieselbe unmöglich dünne Taille, derselbe hochgewölbte Busen (so daß man beim Anblick dieses Oberkörpers immer im Zweifel war, ob der obere oder der untere Theil der unnatürlichste sei) … Und das ist erst der Anfang von Elisabeths Lou-Porträt5.
Dass Fritz einmal so werden konnte, wie er in diesem Sommer war, so – wie soll sie das nur sagen? – eben so wie seine Bücher. Ja, das ist wohl der erschütterndste Befund dieses August 1882, und sie sieht sich außerstande, es noch länger vor sich zu verbergen: Fritz ist anders geworden er i s t so wie seine Bücher.6 Für alle, die in diesem Satz etwas vermissen, sei es gleich gesagt: Elisabeth Nietzsche setzt Kommas nur äußerst sparsam, eher gar nicht. Satzzeichen, weiß sie, sind Prothesen für Minderbegabte, die sich allein mit ihrer natürlichen Intelligenz in einem Text nicht zurechtfinden.
Die Schwester des Philosophen harrt weltverloren allein in einem thüringischen Kleinstort aus, und zwar so: Ich bin halbe Tagelang einsam in den dichtesten Wäldern herumgeirrt7. Es ist Ende August, fast alle Badegäste sind schon weg, auch ihr Bruder und das Mädchen, dem seine Teilnahme gilt. Drei Wochen lang war sie das dritte Rad am Wagen gewesen, aber nein, das ist ungenau: Dieser Wagen hatte von Anfang an nur zwei Räder, das Friedrich- und das Lou-Rad, sie waren Gleichrollende, 21 Tage lang.
Im anderen bei sich selber sein. Ein Meisterdenker, den ihr Bruder gern verspottet, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hat so einmal die Liebe definiert, so schön und trotzdem wahr. Für sie, Elisabeth, blieb bei dieser Seinsweise kein Platz, und wenn die beiden mit ihr sprachen, dann nur, um sich über sie lustig zu machen. So schien es ihr.
Wann hätte Friedrich jemals mit seiner Schwester geredet wie mit dieser 21-Jährigen, so als sei jedes Wort aus ihrem Munde eine Offenbarung?
Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft!8, wird er bald sagen. Vorbereitende Menschen nennt er den Lou-Typus, den Friedrich-Typus in seinem neuen Buch: Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten … gefährdetere, fruchtbarere Menschen, glücklichere Menschen! Denn, glaubt es mir! – das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: GEFÄHRLICH LEBEN! Baut Eure Städte an den Vesuv! Schickt Eure Schiffe in unerforschte Meere!9
Vielleicht ist es nicht falsch, vom Tautenburger Spätsommer 1882 nur für einen Augenblick nach Italien hinüberzuschauen. Denn in dem kleinen Ort Predappio, auf der Höhe Riminis landeinwärts gelegen, steht die Zeugung eines künftigen Nietzsche-Lesers unmittelbar bevor. Er wird das »Gefährlich leben!« zu seinem Wahlspruch machen, ja, man kann sagen, Friedrich Nietzsche wird diesen Mann erst schaffen, denn die Lektüre seiner Schriften bringt den jungen Sozialisten schließlich vom Sozialismus ab und auf seinen ureigenen Weg. Sein Name ist Benito Mussolini.10
Nur verwechselt mich nicht!, bittet Friedrich Nietzsche immer wieder, vergebens. Schon seiner eigenen Schwester scheint er plötzlich wie ein Fremder. Sie kennt ihn wie niemand sonst, und erkennt ihn doch nicht wieder.
Sie, die treue Gefährtin seines Lebens, rechnet er selbstredend nicht zu den maritimen Vesuvbewohnern. Eigentlich mag ihr Bruder gar keine Frauen, er hält sie für ein zu defizitäres Geschlecht. Aber für diese junge Russin machte er eine Ausnahme. Sie sei die Einzige, sagt er, die seine Philosophie wirklich verstehen könne. Wer nicht von dieser Russin entzückt ist »dem fehlt der Blick für Größe« oder (er) »ist eifersüchtig«11, referiert Elisabeth mit Bitterkeit im Herzen den Standpunkt ihres Bruders. Wahrscheinlich hat er nicht einmal vergessen hinzuzufügen, dass die Eifersucht eine spezifisch weibliche Begabung sei.
Er hat sie benutzt.
Er brauchte sie als Anstandsdame, schließlich konnte er nicht allein mit einem jungen Mädchen im Wald wohnen. Es war so demütigend. Und sie hat diesen Ort auch noch für ihn gefunden, für ihn eingerichtet. Es war der schlimmste August ihres Lebens, es war der schlimmste Aufenthalt ihres Lebens. Auch sie müsste jetzt abreisen, endlich abreisen, den Schauplatz ihrer Erniedrigung verlassen, aber sie kann hier nicht weg, aus zwei Gründen. Sie weint die Tage und die Nächte durch, so kann sie nicht unter Menschen gehen, so kann sie nicht Zug fahren, so kann sie nicht nach Hause kommen. Der zweite Grund ist: Ihr Bruder ist dort, Fritz ist zu Hause. Er ist nach Naumburg gefahren, zur Mutter. Sie selbst hat ihn darum gebeten, kategorisch darum gebeten, gleich nachdem das Monstrum weg war. Sie halte es jetzt nicht aus, hat sie ihm gesagt, mit ihm am selben Ort zu sein, dieselbe Luft zu atmen.
Am 26. August 1882 brachte Friedrich Nietzsche die Petersburger Generalstochter nach Dornburg zum Bahnhof, und als er zurückkam, haben die Geschwister sehr gestritten. Er benahm sich, als sei nichts geschehen, als sei alles gut zwischen ihnen, wie immer, eher noch besser. Diese gute Laune, mit der er zurückkehrte, diese Zuversicht, schnitt ihr ins Herz. Elisabeth wusste, dass er wusste, wohin Lou fährt: zu Rée, direkt in die Arme seines besten Freundes. So ist dieses Mädchen.
Und Fritz will das nicht sehen. Der arme Thor macht nur sich und seine Philosophie lächerlich12. Und sie, seine Schwester, macht er auch lächerlich. Sollen sie so enden?
Lou von Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche, Frühsommer 1882
Wie er über ihre Schreibversuche gespottet hat. Elisabeth brüte auf ihren kleinen Novelleneierchen, hat er Lou mitgeteilt. Und ihr selbst erklärte er, eine schreibende Schwester, ein schriftstellerndes Frauenzimmer also, wäre »seiner unwürdig«. Sie ist ihm peinlich vorm Angesicht der Welt? Weil es Frauenplunder ist, was sie zu Papier bringt? Weil sie zu viele Adjektive benutzt und jedes Mal die falschen? Oder weil Friedrich in ihrer Novelle die Hauptfigur ist, ein Philologieprofessor Mitte dreißig, der nicht heiraten will? Philosophen sind empfindlich, wenn man statt über ihre Gedanken über sie selber spricht, auch das hat sie in ihrer Novelle vermerkt: Nichts ist Philosophen unangenehmer, als wenn man ihre philosophischen Bemerkungen ins Persönliche überleitet13. Ihr Bruder macht da gar keine Ausnahme. Es ist schwer genug, im eigenen Leben vorzukommen, und jetzt auch noch in der Literatur seiner Schwester? Aber sie hatte keine Wahl. Jeder Autor sollte über etwas schreiben, das er wirklich gut kennt, und sie kennt nichts und niemanden auf dieser Welt besser als ihren Bruder. Georg Eichstedt heißt er in ihrer Erzählung, und natürlich benutzt sie Zitate aus Friedrichs Büchern, schließlich handelt die Geschichte von ihm.
Diese Frau ist schön und klug: ach, wie viel klüger aber würde sie geworden sein, wenn sie nicht schön wäre, heißt es im Aphorismus 282 der Morgenröthe. Bei Elisabeth liest sich das so: »Du weißt aber«, fuhr er – der ledige Professor Georg Eichstedt – lebhaft fort, »daß das Hübschsein mir als keine gute Mitgabe für die Frauen erscheint, es hat meist einen abschwächenden Einfluß auf ihren Geist und Thätigkeitstrieb, und ich möchte wie jener Philosoph sagen, der, als man ihn mit einer Frau bekannt gemacht hatte, welche ebenso schön als klug war, betrübt ausrief: ›Oh, wie viel klüger würde sie noch sein, wenn sie nicht so schön wäre.‹«14
Hat sie das nicht gut formuliert: … einen abschwächenden Einfluß auf ihren Geist …? Ironie ist eine Angelegenheit der Nuancen. Das den Bruder zitierende Alter Ego ihres Bruders bekommt an dieser Stelle Widerspruch von seinem Vater, einem verwitweten Oberst im Ruhestand, der die Berufswahl seines Sohnes immer missbilligt hat: »Aber«, wand hier ein wenig ironisch lächelnd der Oberst ein, »Dein Philosoph scheint mir doch die Frauenwelt recht einseitig zu beurtheilen. Ich habe die hübschen Frauen immer geistreicher als die häßlichen gefunden. Das Bewußtsein eines angenehmen Äußeren giebt den Frauen … Aber nein, Elisabeth Nietzsche hat jetzt wohl keine Freude mehr an ihrer Novelle, auch zum Schreiben gehört ein kleiner Übermut. Sie wird diesem Stück Literatur – vielleicht war es ihr Erstling – am Ende nicht einmal einen Namen geben. Hat Friedrich Nietzsche die Schriftstellerin Elisabeth Nietzsche auf dem Gewissen?
Was besonders kränkt: Sie schmäht er für ihre Schreibversuche, für Lou aber hat er in Tautenburg eine ganze Stillehre verfasst: Der Takt des guten Prosaikers in der Wahl seiner Mittel besteht darin, DICHT an die Poesie heranzutreten, aber...