2. Wie entstand die ['blu:boks]
BERLIN?
Im Jahr 2009 wurde die ['blu:boks] BERLIN gegründet. Über die Berliner Grenze hinaus gilt diese Kinder- und Jugendeinrichtung inzwischen als Vorzeigeprojekt. Die Organisatoren erhalten regelmäßig Schulungsanfragen aus dem In- und Ausland zum Thema Selbstwirksamkeit und zur künstlerisch-ästhetischen Bildung im Sozialbereich. Doch bis die sozial-kulturelle Arbeit an dem Punkt stand, an dem sie heute steht, mussten viele Rückschläge in Kauf genommen werden. Die Arbeit konnte erst nach einer jahrelangen und schwierigen Vorbereitungsphase starten.
Die Vision für diese Arbeit wurde aus der tief empfundenen, persönlichen Not ihres Gründers, Torsten Hebel, geboren. Die Themen und Werte sind tief in seiner Biografie verankert. Um die Erfolgsgeschichte der ['blu:boks] BERLIN zu verstehen, muss man sowohl in den Werdegang des Gründers schauen als auch einen Einblick in den schwierigen Entstehungsprozess der Vision und Konzeption der Arbeit bekommen.
Für Projektgründer/Projektgründerinnen und Projektreformer/Projektreformerinnen von sozial-kulturellen Einrichtungen, aber auch für alle, die erste, kleine Schritte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gehen wollen, lohnt es sich daher, von der Entstehungsgeschichte dieser Einrichtung zu wissen und von ihren Erfahrungen zu lernen. Deshalb stellt sich Torsten Hebel im folgenden Interview den Fragen zu den Anfängen der Kinder- und Jugendeinrichtung.
2.1 Interview mit Torsten Hebel, dem
ründer der ['blu:boks] BERLIN
Zur Person
Torsten Hebel, geboren 1965, lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Berlin. Nach einer Tischlerlehre absolvierte er eine Schauspielschule in den USA und studierte anschließend am Theologischen Seminar Rheinland. 2009 gründete er die ['blu:boks] BERLIN und leitete sie bis 2016. Zusammen mit Martin Schaefer ist er seit 2016 Geschäftsführer des ['blu:boks] Familien- und Bildungszentrums, welches die Kinder- und Jugendeinrichtung um eine Kita, ein Café als Begegnungsort für Familien und Senioren im Umfeld sowie eine Eventfläche und ein Beratungszentrum ergänzt. Torsten Hebel ist zudem mehrmals im Jahr mit Vorträgen und seinem eigenen Comedy-Programm im deutschsprachigen Raum unterwegs.
Sie sagen, die Vision der ['blu:boks] BERLIN ist aus Ihrer eigenen Not geboren worden. Was genau meinen Sie damit?
Torsten Hebel: Ich bin überzeugt davon, dass das, was uns am meisten umtreibt, die Brüche und Verletzungen im Leben sind, die uns später motivieren und antreiben. So war und ist es bei mir.
Meine Kindheit und Jugend war geprägt durch Systeme, die mir immer wieder gespiegelt haben: So wie du bist, bist du nicht gut! Mein Kernsatz war: „Das, was ich bin und tue, ist nicht richtig!“
Ich bin als Kind mit dem permanenten Bewusstsein aufgewachsen, nicht okay zu sein. Mein Vater hat unsere Familie sehr früh verlassen. Ich habe das damals als unglaubliche Ablehnung empfunden. Warum geht er? Warum liebt er mich nicht genug, um zu bleiben? Auch im Kontext meiner Kirchengemeinde hörte ich, dass man einen gewissen Standard erreichen muss, um Gott zu gefallen. Dies prägte mich als Kind und setzte sich in meiner Seele ab. Seither begleitet mich das als „innerer Kritiker“. Ich habe am eigenen Leib erlebt, wie schwierig es ist, auf dieser Grundlage einen gesunden Selbstwert aufzubauen. Ich bin irgendwann ins Jugendamt gegangen und habe gesagt, ich möchte etwas für Menschen mit Selbstwertdefiziten tun. Und ich schien genau den richtigen Zeitpunkt abgepasst zu haben, denn von der zuständigen Stadtteilkoordinatorin wurde ich auf die konkreten Nöte im Bezirk Berlin-Lichtenberg hingewiesen.
Wo sehen Sie Parallelen zwischen Ihrem Werdegang und dem der Kinder und Jugendlichen in Lichtenberg?
Torsten Hebel: Die Kinder, mit denen ich heute zu tun habe, haben eine sehr ähnliche Prägung und Erlebniswelt. Manche wachsen in einem Umfeld auf, in dem Elternteile die Familie verlassen haben. Sie empfinden sich von ihrem Umfeld abgelehnt. Sie fühlen sich nicht geliebt und geschätzt. Sie werden von der Breite der Gesellschaft nicht ermutigt und bedingungslos anerkannt und gefördert. Sicher haben diese Kinder und Jugendlichen ganz andere Erfahrungen als ich gesammelt, aber sie denken und fühlen permanent: „Ich schaffe das sowieso nicht. Ich bin nicht okay. Ich werde sowieso nichts aus mir machen können. Keiner interessiert sich für mich. Ich bin wertlos.“ Ich erkenne mich in diesen Kindern wieder. Das macht mich traurig und wütend zugleich.
Sie haben unterschiedliche Berufe erlernt und sind verschiedensten Tätigkeiten nachgegangen. Wie kam es schließlich zu der Entscheidung, eine sozial-kulturelle Jugendarbeit ins Leben zu rufen?
Torsten Hebel: Mein erster Beruf war Tischler, dann kam das Schauspielstudium und schließlich meine theologische Ausbildung. Meine Lehre zum Tischler war geprägt durch einen sehr harten Umgangston und viel Erniedrigung. Das erste Mal, dass mir andere Menschen bewusst Selbstwert und Zuspruch für meine Begabungen gegeben haben, war auf der Schauspielschule. Dennoch blieb ich nicht in dem Bereich, sondern studierte Theologie, da ich schon immer Pastor werden wollte. Doch auch am theologischen Seminar stieß ich aufgrund privater Rückschläge schnell auf Ablehnung und Grenzen. In den darauffolgenden Jahren habe ich viele überregionale Jugendevents gestaltet, die sehr erfolgreich waren. Teilweise kamen tausende Jugendliche zu meinen Veranstaltungen. Doch nach einigen Jahren begannen die Zweifel in mir stärker zu werden, inwieweit wirkliche Transformation im Leben der Jugendlichen passieren konnte. Ich wollte mehr begleiten und Beziehung nachhaltig leben. Ich habe mich hingesetzt und aufgeschrieben, was ich alles kann, welche Stärken und Schwächen ich habe und welche Träume. So entstand die erste Idee der ['blu:boks]. Ich habe mir gesagt, ich will einen Ort in der Gesellschaft schaffen, eine Oase, einen Erlebnisraum, wo andere Gesetzmäßigkeiten gelten. Nicht die Gesetzmäßigkeit des Bewertens. Nicht die Gesetzmäßigkeit erst einmal etwas tun zu müssen, um Teil werden zu können. Sondern bedingungslose christliche Nächstenliebe. So verstehe ich Nächstenliebe: Nie wird jemand ausgeschlossen, bedingungslose Annahme wird immer gelebt und jeder darf kommen und jeder darf sein. Ich wusste, ich war kein Sozialarbeiter, aber ich habe noch andere Stärken als das Schauspiel. Ich wollte Menschen um mich sammeln, die diese ergänzende Fachausbildung hatten und im Team mit mir gemeinsam diesen Traum in die Realität umsetzen können.
Gab es noch weitere persönliche Einflüsse oder Umstände, die zur Entstehung der Vision ['blu:boks] BERLIN führten?
Torsten Hebel: Ja, die ungerechte Behandlung der Kinder in unserer Gesellschaft. Ich kann Ungerechtigkeiten nur sehr schwer ertragen. Wenn ich sehe, wie Kinder an vielen Stellen behandelt werden, macht mich das richtig wütend! Wenn ein Schwächerer ausgegrenzt wird oder Schutzbefohlene misshandelt werden, bricht es mir das Herz! Ich kann die Situation nicht grundsätzlich ändern, aber ich kann lindern, Kraft geben oder vielleicht heilen. Ich kann mithelfen, dass diese Kinder mit ihren Wunden lernen, aufrecht im Leben zu stehen und vorwärts zu gehen und wenn sie fallen, immer wieder aufzustehen. Und sie sollen schließlich lernen, irgendwann selber anderen Menschen zu helfen, in ihrer Persönlichkeit heil zu werden.
Wie gehen Sie mit der inneren Wut über Ungerechtigkeit um, wenn Sie gleichzeitig das Gefühl haben, nie genug tun zu können?
Torsten Hebel: Ich glaube, die innere Wut kommt ja immer aus dem Gefühl, nicht genug tun zu können. Diese Wut speist sich aus einer gewissen Hilflosigkeit. Man kann dann entweder verbittern und sich in eine Depression zurückziehen oder man kann aktiv werden und etwas in seinem eigenen Umfeld dagegen tun. „Selbst die größte Dunkelheit kann dich nicht daran hindern, eine Kerze anzuzünden“, heißt es in einem bekannten Spruch. Diese Kerze kann die ['blu:boks] sein oder irgendetwas anderes. Aber wir müssen etwas tun! Müssen aktiv werden!
Dennoch erleben viele Menschen Rückschläge in der sozialen Arbeit. Wie oft kann ein Visionär / eine Visionärin scheitern, bevor die Vision stirbt?
Torsten Hebel: Das ist natürlich individuell sehr unterschiedlich. Ich glaube sogar, man muss scheitern, damit die Vision, die man hat, sich an der Wirklichkeit zurechtstutzt. Ich kenne keinen einzigen Gründer, der nicht vorher gescheitert ist. Das gehört dazu. Die meisten Leute hören aber leider auf, wenn sie einmal gescheitert sind. Ich bin froh, dass ich anfangs gescheitert bin, weil ich sonst heute eine Arbeit hätte, die ich gar nicht wollte. Es ist wie bei einem Steinmetz: Bestimmte Dinge von meiner Vision wurden weggeschlagen, aber dadurch bekam sie erst Konturen. Das ist schmerzhaft. Aber ich wusste, was von der veränderten Vision übrig geblieben war, kann ich nun umsetzen. Meine Vision wurde immer kleiner und...